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"Meine Rache ist die Musik..."

Esther Bejarano, Überlebende des Mädchenorchesters von Auschwitz, hat ihre Erinnerungen veröffentlicht *


Man kennt sie, singend mit dem Akkordeon vor der Brust: Esther Bejarano. Auf die Buchmesse in Frankfurt am Main, wo sie ihre gerade erschienenen, gemeinsam mit der 1962 geborenen italienischen Journalistin Antonella Romeo herausgegebenen Erinnerungen vorstellte, hat sie es nicht mitgeschleppt. Bei dieser Gelegenheit sprach Karlen Vesper mit der Shoah-Überlebenden.


Frau Bejarano, was sagen Sie zu der jüngsten Tragödie: zwei Schiffsunglücke vor Lampedusa binnen einer Woche, bei der über 370 Menschen starben – Menschen, die sich in die Hände skrupelloser Schlepper begaben, weil sie legal nicht nach Europa dürfen, hier unerwünscht sind?

Das ist ganz, ganz furchtbar. Und es empört mich, dass die Europäische Union wie auch die UNO sich offenbar nicht ernsthaft für die große Not und tiefste Verzweiflung dieser armen Menschen interessieren, sich nicht kümmern, sie alleine lassen. Natürlich, wichtig ist es vor allem, in den armen Ländern des Südens menschenwürdige Lebens- und Arbeitsbedingungen zu schaffen und politisch-rechtliche Verhältnisse zu ermöglichen, damit keiner gezwungen wird, seine Heimat zu verlassen. Aber wenn Notleidende dem Elend entfliehen und nach Europa kommen, dann muss man sie auch anständig aufnehmen. Das ist eine Katastrophe, was sich vor unser aller Augen abspielt. Ich habe keine Worte dafür.

Vor aller Augen wurden in Deutschland die Juden ausgegrenzt, beraubt, enteignet und ermordet. Sind die Migranten von heute die Juden von gestern?

Ich lehne Vergleiche prinzipiell ab. Nichts ist mit dem, was damals unterm Hakenkreuz geschah, mit der fabrikmäßigen Vernichtung von Menschen, vergleichbar.

Der Genozid an den europäischen Juden ist einzigartig.

Ja, der Massenmord der Nazis an den Juden ist einzigartig. Mich erschüttert immer wieder, dass die Menschen nichts daraus gelernt haben. Sie sind heute so egoistisch und zynisch, gefühllos und gleichgültig wie unsere Peiniger und die Mehrheit der Deutschen damals. Ich kann nicht begreifen, dass man Menschen einfach sterben oder ertrinken lässt. Ich bin entsetzt über Deutschland, über deutsche Behörden, wenn sie Flüchtlinge, die sich über Lampedusa zu uns gerettet haben, abschieben wollen. Zum Beispiel in Hamburg, wo ich lebe. Das ist doch unmöglich!

Bei solch behördlichem Verhalten braucht man sich auch nicht zu wundern, wenn der Rechtsradikalismus wieder in der Mitte der Gesellschaft angelangt ist.

Der Rechtsradikalismus ist für mich überhaupt das Allerschlimmste, es gibt nichts Schlimmeres. Die menschenverachtende Ideologie der Nazis darf nie wieder gesellschaftliche Akzeptanz erfahren. Weder in Deutschland noch anderswo. Dagegen müssen wir kämpfen.

Haben Sie sich 1945, als Sie befreit worden sind, vorstellen können, dass im Namen des »Nationalsozialismus« wieder Menschen ermordet werden, und zwar nicht nur durch das sogenannte Zwickerauer Mördertrio?

Nein, das kam mir nicht in den Sinn. Wir haben 1945 gedacht, dass die Deutschen Lehren gezogen haben aus den furchtbaren, millionenfachen Verbrechen und aus dem schließlich sie selbst heimsuchenden Leid. Wir haben geschworen »Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg!« Wer Antifaschist ist, ist auch Antimilitarist, setzt sich für den Frieden ein. Als ich 1969 aus Israel in die Bundesrepublik übersiedelte, wurde ich schon mit neuen Nazis konfrontiert. Ich sah, wie NPD-Leute Flugblätter verteilten und mit Gummiknüppeln auf Menschen einschlugen, die Einspruch erhoben. Und die Polizisten haben daraufhin die Antifaschisten verhaftet. Ich sagte denen, dass ich im KZ gewesen bin und nicht begreifen könne, dass sie Nazis schützen. Insofern hat sich also so viel nicht geändert in Deutschland.

Sie erlebten die Pogromnacht vom 9. zum 10. November 1938 in Ulm?

Ja, SA-Banden demolierten jüdische Geschäfte. Sie hatten Spaß daran, alte jüdische Männer um einen Brunnen zu treiben und entsetzlich auf sie einzuschlagen, bis sie zu Boden stürzten. Meinen Vater brachten sie mit anderen Juden nach Augsburg ins Gefängnis. Mein Vater, der deutsche Patriot, wollte seine Verhaftung nicht so ohne Weiteres hinnehmen. Er erklärte, dass er vier Jahre lang für sein Vaterland gekämpft und das Eiserne Kreuz hatte und dass er zu fünfzig Prozent kriegsversehrt war. Er hat nicht mit der folgenden, feindseligen Reaktion der SA-Schergen gerechnet. Die schrien ihn an: »Du Saujud, wir pfeifen auf dein EK I und auf deine Kriegsverletzung. Halt’s Maul, sonst kannst du was erleben.«

Und meine Schwester Ruth wurde in der »Kristallnacht« so entsetzlich von der SA geschlagen, dass sie lange kaum laufen konnte. Sie ist später nach Oberschlesien gegangen. Im Februar 1942 erhielt ich den letzten Brief von ihr – aus Holland. Sie teilte mir mit, dass sie einen ungarischen Juden geheiratet hätte und es wohl eine Weile dauern würde, bis ich wieder Post von ihr erhalte. Ich verstand: Sie wollte aus dem von der deutschen Wehrmacht besetzten Holland in die Schweiz fliehen. Es gelang ihr nicht.

Sie wurden 1943 aus dem Berliner »Sammellager« in der Großen Hamburger Straße nach Auschwitz deportiert, mussten erst Steine schleppen und kamen dann ins Mädchenorchester. Hat die Musik Ihr Überleben gesichert?

Im gewissen Sinne ja. Ich hatte Glück, dass ich ins Orchester kam. Wir Geschwister sind in einem musikalischen Elternhaus aufgewachsen. Ich konnte mir ein Leben ohne Musik nicht vorstellen. Ich konnte allerdings gar nicht Akkordeon spielen, habe das aber behauptet. Da ich Klavier spielen konnte, ist es mir nicht sehr schwer gefallen, auch noch Akkordeon zu lernen.

Manche meinen: Nach Auschwitz kann man keine Lieder mehr singen, keine Gedichte mehr schreiben, keine schönen Bilder mehr malen. Das ist meiner Meinung nach falsch. Mit der Musik kann man Menschen berühren, ihr Herz öffnen, sie sensibilisieren. Über die Musik finden Menschen zueinander. Und wenn ich mit meiner Musik dazu beitragen kann, dass die Erinnerung an das, was wir erlitten haben, nicht erlöscht, brauner Ungeist aus den Köpfen getrieben wird, dann bin ich glücklich.

Bald jährt sich der Auschwitz-Prozess von Frankfurt am Main zum 50. Mal. Waren Sie damals dabei?

Nein. Weil ich das einfach nicht verkraftet hätte. In Auschwitz, in Ravensbrück und auf dem Todesmarsch habe ich immer daran gedacht, mich eines Tages an diesen schrecklichen Nazis zu rächen: Ich muss überleben, und dann räche ich mich für das Leid, das mir, meiner Familie und all den anderen angetan wurde. Das konnte ich schließlich aber doch nicht. Vielleicht ist meine Rache, dass ich in Schulen gehe, meine Geschichte erzähle und Musik gegen Krieg und für Frieden mache.

Esther Bejerano: Erinnerungen. Vom Mädchenorchester in Auschwitz zur Rap-Band gegen rechts. Laika Verlag, Hamburg. 208 S., geb., 21 €.

* Aus: neues deutschland, Freitag, 8. November 2013


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