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Wissenschaftler/innen gegen Rechts

Eine Erklärung zur rechten Zeit

Wissenschaftler, die sich der Rechtsextremismus- und Migrationsforschung widmen, haben davor gewarnt, sich in der aktuellen Debatte über rechtsextreme Gewalttäter allein auf schärfere Gesetze und Parteiverbote zu kaprizieren. Das reiche nicht aus, sondern müsse durch andere Maßnahmen ergänzt bzw. ersetzt werden. Wir dokumentieren die Erklärung nach dem - leicht gekürzten - Text aus der Frankfurter Rundschau (23.08.00)

"Wir (...) fühlen uns herausgefordert, eine gemeinsame Erklärung zur aktuellen Debatte über Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit abzugeben. Der Grund dafür ist, dass wir zunehmend mit Unbehagen den Verlauf dieser Debatte verfolgen. Sorge bereitet uns vor allem, dass der Eindruck entsteht, als hätten wir es mit neuen und unerwarteten Ereignissen und Erscheinungsformen zu tun, auf die mit Verboten und mit der Einschränkung von Grundrechten zu reagieren sei.

Uns erscheint die Debatte verkürzt und gefährlich. Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit begleiten die Geschichte der Bundesrepublik seit ihrer Gründung. Was sich in einzelnen zeitlichen Phasen ändert, ist das Ausmaß und die jeweils konkrete Ausformung. Seit Ende der achtziger Jahre ist die Tendenz zu beobachten, dass die rechtsextremistische Szene wieder militanter wird und fremdenfeindliche Gewalt insgesamt zunimmt. Diese eskalierte bekanntermaßen im Rahmen der Asylrechtsdebatte in den Jahren 1992/93. Seit diesem Zeitpunkt bewegen sich fremdenfeindlich und rechtsextremistisch motivierte Gewalttaten quantitativ konstant auf einem relativ hohen Niveau.

Gleichzeitig hat sich die Mobilisierungskraft rechtsextremistischer Organisationen und Kameradschaften über das engere Spektrum hinaus erhöht, so dass viele von einer sozialen Bewegung von rechts sprechen. Die Mobilisierungsfähigkeit zeigt sich insbesondere bei den Jungen Nationaldemokraten, der Jugendorganisation der NPD, in den neuen Bundesländern. Zudem belegen Einstellungsuntersuchungen seit vielen Dekaden, dass es ein beträchtliches rechtsextremistisches und fremdenfeindliches Einstellungspotenzial in der Bevölkerung gibt. In den neunziger Jahren hat sich zudem in den neuen Bundesländern dieses Potenzial stark erhöht. Und: Seit nunmehr drei Jahrzehnten wird die Entwicklung des rechtsextremistischen Spektrums von einem neu-rechten Diskurs, von Intellektuellen der sogenannten "Neuen Rechten" flankiert. Ihr Ziel ist es, die kulturelle Hegemonie und politische Definitionsmacht zu gewinnen. Personell beschränkt sich die "Neue Rechte" nicht auf das äußerst rechte politische Spektrum, sie reicht vielmehr bis weit in die etablierte Politik hinein. Durch diesen neu-rechten Diskurs sind einerseits rechtsextremistische Parteien in der Lage, ihre Programme zu "modernisieren" und sie dem gesellschaftlichen Wandel anzupassen. Sie verlieren dadurch zwar ihre Dumpfheit und vordergründig ihre Ein-deutigkeit, aber nicht ihre rechtsextremistische Stoßrichtung. Andererseits schafft dieser Diskurs bis in weite Teile der Bevölkerung hinein ein Meinungsklima, in dem Fremdenfeindlichkeit und autoritäres Denken weit verbreitet sind.

Wir plädieren für einen offensiven Umgang mit Rechtsextremismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, ohne (...) demokratische Rechte abzubauen. Wir meinen:
  • Das Verbot einer rechtsextremistischen Partei wie der NPD setzt zwar ein politisches Signal, hat aber langfristig keine durchgreifende Wirkung. Wichtiger als Verbote sind eine inhaltliche Auseinandersetzung mit rechtsextremistischer Programmatik und Ideologie sowie eine klare Abgrenzung gegen Organisationen, Publikationen und Personen des rechtsextremistischen und neu-rechten Spektrums. In dieser Auseinandersetzung sind vor allem die demokratischen Parteien gefordert. (...)
  • Grundrechte dürfen nicht angetastet werden. Wir halten Maßnahmen für ungeeignet und riskant, die etwa das Recht auf Versammlungsfreiheit, also das Demonstrationsrecht einschränken oder den Kündigungsschutz aufweichen. (...)
  • Jugendliche sollten nicht pauschal als "Problemgruppe" definiert werden. (...) Rechtsextremismus (...) und Fremdenfeindlichkeit sind kein Jugendphänomen (...)
  • Ausländerinnen und Ausländer müssen die Möglichkeit erhalten, ihren Randgruppenstatus abzulegen. Deshalb ist eine Gleichstellungs- und Integrationspolitik gefordert, die stärker auf soziale, politische und rechtliche Teilhabechancen setzt und ausländischen Staatsangehörigen ermöglicht, sich gesellschaftlich zu integrieren. (...)

Wir rufen dazu auf, die politische Auseinandersetzung zu suchen, sich klar gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit abzugrenzen sowie vorhandene Chancen zu nutzen, statt übereilt zu reagieren und Grundrechte zu gefährden."

Unterzeichnerinnen und Unterzeichner:
1. Billing, Werner, Prof. Dr., Universität Kaiserslautern; 2. Birsl, Ursula, Dr., Universität Göttingen; 3. Bitzan, Renate, Dr., Universität Göttingen; 4. Butterwegge, Christoph, Prof. Dr., Universität zu Köln; 5. Dähn, Horst, Prof. Dr., Universität Stuttgart; 6. Decker, Frank, Prof. Dr., Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt; 7. Demirovic, Axel, PD Dr., Institut für Sozialforschung, Frankfurt; 8. Dubiel, Helmut, Prof. Dr., Universität Gießen und New York; 9. Dudek, Peter, Prof. Dr., Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt; 10. Falter, Jürgen, Prof. Dr., Johannes Gutenberg-Universität Mainz; 11. Fröchling, Helmut, PD Dr., Universität der Bundeswehr Hamburg; 12. Gabriel, Oscar W., Prof. Dr., Universität Stuttgart; 13. Geißler, Rainer, Prof. Dr., Universität GH Siegen; 14. Gessenharter, Wolfgang, Prof. Dr., Universität der Bundeswehr Hamburg; 15. Heitmeyer, Wilhelm, Prof. Dr., Universität Bielefeld; 16. Hennig, Eike, Prof. Dr., Universität GH Kassel; 17. Jäger, Magrit, Dr., Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung - DISS; 18. Jäger, Siegfried, Prof. Dr., Gerhard Mercator-Universität GH Duisburg - DISS; 19. Jaschke, Hans-Gerd, Prof. Dr., FH für Verwaltung und Rechtspflege Berlin; 20. Kreutzberger, Wolfgang, Dr., Universität Hannover; 21. Lenk, Kurt, Prof. Dr., Universität Aachen; 22. Meyer, Birgit, Prof. Dr., FH Esslingen, Hochschule für Sozialwesen; 23. Minkenberg, Michael, Prof. Dr., Europa-Universität Viadrina Frankfurt/Oder; 24. Möller, Kurt, Prof. Dr., FH Esslingen, Hochschule für Sozialwesen; 25. Ohlemacher, Thomas, Dr., Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachen; 26. Rucht, Dieter, Prof. Dr., Wissenschaftszentrum Berlin; 27. Scherr, Albert, Prof. Dr., FH Darmstadt; 28. Schulte, Axel, Prof. Dr., Universität Hannover; 29. Winkler, Jürgen R., Dr., Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

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