Gespieltes Entsetzen
Von Sevim Dagdelen *
Das Entsetzen, mit dem Bundes- und Landespolitiker auf Tayyip Erdogans Kölner Rede reagiert haben, sollten diese sein lassen. Dass der türkische Ministerpräsident die Migranten in Deutschland mit türkisch-nationalistischen Tönen zu instrumentalisieren versuchen würde, war nicht überraschend.
Angela Merkel ist nicht die »Kanzlerin der Deutsch-Türken«. Sie muss sich fragen lassen, warum sich die Migranten nach dem Brand in Ludwigshafen nicht von ihr beruhigen lassen, sondern von dem türkischen Ministerpräsidenten. Und sie muss sich fragen, warum die Migranten nicht ihr zujubeln, sondern einem eigentlich fremden Staatsoberhaupt. Die Antworten sind bei der miserablen Integrationspolitik zu suchen.
Nach dem Brand in Ludwigshafen fühlten sich viele Migranten unweigerlich an die Anschläge von Solingen und Mölln erinnert. Helmut Kohl hat damals die Hinterbliebenen der Opfer nicht besucht. Die deutsche Regierung hat die türkeistämmigen Menschen spüren lassen, dass sie nicht mit den Opfern fühlt. Heute fragen sich Migranten, was die Bundesregierung tut, um Neonazismus zu bekämpfen. Sie erleben führende Politiker häufig als deren Stichwortgeber und empfinden einen Zusammenhang zwischen den über zehntausend Straftaten mit rechtsextremen Hintergrund und fremdenfeindlichen und rassistischen Tönen, wie sie etwa im Hessenwahlkampf zu hören waren.
Die Angst der Menschen vor Assimilation, die Erdogan in Köln angesprochen hat, ist nicht aus der Luft gegriffen. Wenn die Bundesregierung in der Integrationspolitik von Fordern und Fördern spricht, meint sie vor allem Fordern. Merkel versteht unter Integration Loyalität zum Staat und forciert damit den Druck auf Assimilation. Das Grundgesetz verlangt aber keine Loyalität zum Staat, sie ist zum Schutz der Grundwerte der Verfassung nicht notwendig. Deutsche Integrationspolitik spielt mit Sanktionen statt mit Angeboten. Abschiebungen werden erleichtert, statt das Aufenthaltsrecht zu festigen. In Grundrechte wird eingegriffen, statt diese auszubauen und Gleichberechtigung herzustellen.
Die höchste Integrationsleistung des deutschen Staats besteht bislang in der Eingliederung in soziale Ungleichheit. Da wird von Kultur und Sprache fabuliert, aber Migranten sind von Hartz-Gesetzen, Arbeitsverboten und sozialen Benachteiligungen im Bildungssystem besonders betroffen.
Eine gute Integrationspolitik kann nur gerechte Sozialpolitik für alle in diesem Land lebenden Menschen bedeuten. Solange Migranten doppelt so häufig von Arbeitslosigkeit betroffen sind, solange ihre Kinder niedrige Bildungsabschlüsse erreichen und solange diese Menschen tagtäglich diskriminiert werden und Angst vor Brandanschlägen haben müssen, werden sie den türkischen Ministerpräsidenten als ihren Ministerpräsidenten ansehen.
So gesehen sind wir Tayyip Erdogan zu Dank verpflichtet: Er hat gezeigt, dass die Türkei nichts dazu gelernt hat. Er hat aber auch auf die großen Schwächen der deutschen Integrationspolitik verwiesen. Denn wer von dem Ziel der Integration redet, darf über rechtliche und soziale Gleichstellung nicht schweigen. Die Bundesregierung sollte Teilhabe und soziale Gerechtigkeit für Migranten, für deutsche Staatsbürger, für Arbeitnehmer, für Frauen und für Kinder, also für alle Menschen in diesem Land schaffen. Dann werden wir erleben, dass eine gerechte Gesellschaft ohne Ausgrenzungen, ohne Gräben zwischen den Menschen auskommt.
* Die Abgeordnete der LINKEN im Bundestag erhielt 2007 den Deutsch-Türkischen Freundschaftspreis.
Aus: Neues Deutschland, 16. Februar 2008
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