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"Ich ahnte nicht, wie viele es werden"

Eine Kärrnerarbeit mit Nutzwert für Historiker und gegen Legenden über die DDR: eine Bibliographie aller ostdeutschen Titel zu jüdischer Thematik. Ein Gespräch mit Renate Kirchner

Vor kurzem erschien im Verlag Neues Berlin das Buch von Detlef Joseph: »Die DDR und die Juden«. Es enthält eine Bibliographie aller zwischen 1945 und 1990 in der Sowjetischen Besatzungszone und der DDR erschienenen Publikationen zum Thema des Buches, insgesamt 1086 Titel. Zusammengestellt wurde sie von Renate Kirchner, die bis Ende 2001 Leiterin der Bibliothek der Jüdischen Gemeinde in Berlin/DDR war.

Vor der Geschichte der Bücher liegt die der Manuskripte. Wie war der Weg ihrer Bibliographie vom Gedanken zum Plan, vom Manuskript zum Buch?

Zunächst sollte es ja nur eine Liste werden, wenn auch eine umfangreiche. In dem Maße aber, wie sich dann die Anzahl der Titel vergrößerte, haben insbesondere befreundete Autoren geraten: Du mußt dir einen Verlag suchen! Dies geschah dann ab Mai 2008. Die Urteile waren in etwa: Interessant, kommt aber, aus Kostengründen, für uns nicht infrage; wir raten von einer Printvariante ab, stellen Sie die Arbeit ins Internet; sie sollte in einen größeren Kontext, d.h. ihr müßte ein erklärender, sie wertender Textteil beigegeben werden; der zu erwartende Verkaufserlös würde die entstehenden Kosten nicht decken etc.

Zu diesem Zeitpunkt, es war bereits Juni 2009, erzählte Detlef Joseph, daß er einen Termin im Verlag habe wegen seines Manuskripts. Da gab ich ihm meine, in einem Copy-Shop gebundene, Bibliografie mit und erhielt umgehend einen Anruf, daß der Verlag sehr interessiert sei und den Titel als Gemeinschaftsarbeit von uns beiden herausbringen will. Dieses Versprechen wurde nun realisiert.

Daß Bibliothekare Listen von Büchertiteln vorlegen, die Lesern einen einfachen und raschen Überblick über die Publikationen zu einem bestimmten Gegenstand oder Thema anbieten, gehört zu deren alltäglicher Arbeit. Mit Ihrer hat es jedoch eine besondere Bewandtnis. Ihre Liste erfaßt Arbeiten, die abgeschlossen sind, nicht weil der Gegenstand oder das Thema sich erschöpft hätten, sondern weil der Staat, indem sie gedruckt wurden, Geschichte ist. So besitzt, was Sie vorlegen, auch den Charakter einer Bilanz. Was hat Sie dazu angeregt und bei Ihrem Vorhaben bleiben lassen?

Es waren im wesentlichen zwei Aspekte. Zum einen bat mich eine befreundete Autorin schon vor Jahren und später immer wieder, ihr doch eine Bücherliste mit Titeln zum Thema anzufertigen. Und zum anderen stieß ich selbst immer öfter auf Aussagen in den Medien, daß die Juden in der DDR überhaupt kein Thema waren, nur einige wenige Bücher verlegt wurden und antisemitische Strukturen in vielfältiger Weise im Alltagsleben ablesbar waren. Das machte mich geradezu wütend, weil ich es besser wußte. Anfang 2007 begann ich ernsthaft mit der Arbeit, die im März 2009 dann abgeschlossen war.

Sie standen als Leiterin der Bibliothek der Jüdischen Gemeinde in Berlin/DDR mit der Literatur, die sie nun aufgelistet haben, auf vertrautem Fuß. Dennoch die Frage, als Sie mehr als 1000 Titel erfaßt hatten, sagten Sie sich da: Das habe ich so erwartet. Oder: Waren Umfang und Breite auch für Sie eine Überraschung?

Daß es so viele werden würden, habe ich tatsächlich nicht geahnt. Bei meiner Recherche stieß ich auch auf Titel, von deren Existenz ich bis dahin nichts wußte. Zum Beispiel entdeckte ich in der Bibliographie von Rudi Goguel »Antifaschistischer Widerstandskampf 1933–1945« Bücher zum Thema aus der Nachkriegs- und ganz frühen DDR-Zeit.

Was die Themenbreite angeht, da hatte ich mir schon vor Beginn der Arbeit in etwa einen Rahmen, Systematik, gegeben, der natürlich weit über die Juden als Opfer während der NS-Zeit hinausging. Und ich wußte, daß ich sowohl Sachliteratur wie auch die erzählende Literatur – mit allen Genres, also auch Kinderbücher – berücksichtigen wollte. Aber dennoch war ich dann überrascht, daß es zum Beispiel bei der Gruppe »Religion-Philosophie-Kultus-Brauchtum« fast 100 Titel waren, die ich aufnehmen konnte.

Trauen Sie sich bei aller Vorsicht so etwas wie eine Bestsellerliste der Publikationen zu, die Sie nennen?

Das ist schwierig, ich denke, dazu gehören vor allem die wunderbaren Bücher, die den Lesern die Welt der Ostjuden erschlossen – ausgestattet mit hervorragenden bildkünstlerischen Beigaben. Da wäre vor allem der belorussisch-jüdische Künstler Anatoli L. Kaplan zu nennen, dessen Lithographien, Pastelle, Zeichnungen insbesondere die Klassiker der Jiddischen Literatur schmückten. Er ist mit 18 Einträgen in meiner Bibliographie vertreten und zwar sowohl bei Romanen und Erzählungen von Scholem Alejchem wie »Der behexte Schneider« und »Tewje der Milchmann«, wie auch bei einer Sammlung von Geschichten zu Fest- und Feiertagen, z.B. »Das Wunder von Chanukka«, oder Johannes Bobrowskis »Levins Mühle«, um einige konkrete Beispiele zu nennen.

Verweisen könnte ich auch auf die Dokumentation von Helmut Eschwege »Die Synagoge in der deutschen Geschichte«, das wichtige Buch von Heinz Knobloch »Herr Moses in Berlin« oder das über »Jüdische Friedhöfe in Berlin«, wo Knobloch auch einer der Autoren war.

Auch den, der sich in der Materie auskennt, wird überraschen, aus wie vielen Sprachen – wir haben gefunden: russisch, englisch/amerikanisch, jiddisch, hebräisch, serbisch, slowakisch, tschechisch, bulgarisch, jugoslawisch, ungarisch, litauisch, französisch, holländisch, spanisch – literarische Werke der verschiedensten Genres übersetzt und gedruckt worden sind. Dafür Genehmigungen zu erhalten, hat Geld und vielfach namentlich auf gerade jenem Gebiet verlangt, wo in der DDR der Schuh immer mächtig drückte: Devisen. Läßt sich aus ihrer Liste ersehen, wo da Grenzen waren, diktiert durch eben solchen Mangel? Und: Welche Verlage haben sich besonders um die Publikation der Bücher verdient gemacht, die Sie erfaßt haben?

Auch dies ist gar nicht einfach zu beantworten, weil es viele waren, die – oft schon in den Vor- oder Anfangsjahren der DDR – immer wieder Bücher zum Thema ediert haben, man also durchaus davon sprechen kann, daß sie sich der jüdischen Thematik offensichtlich besonders verpflichtet fühlten. Fangen wir in Berlin an, da wären zu nennen: Aufbau Verlag, Volk und Welt, Rütten & Loening, Der Morgen, Union Verlag, die Evangelische Verlagsanstalt, Henschelverlag, aber auch der Reclam Verlag in Leipzig muß unbedingt genannt werden, der eine der bibliophilen Kostbarkeiten – »Meine jüdischen Augen« – herausgebracht hat oder der Insel Verlag und der St. Benno-Verlag. Viele andere ließen sich anführen, man kann sie alle bei den entsprechenden Titeln finden.

In diesem Zusammenhang ist vielleicht der Hinweis angebracht, daß es im Buch ein alphabetisches Register sämtlicher Autoren und anderer »beteiligter« und auch »behandelter« Personen gibt und ein chronologisches, das den Nachweis dafür erbringt, welche Titel in welchem Jahr mit ihrer ersten Auflage erschienen sind. Ein Register, das die Verlage in ähnlicher Form auflistet, gibt es nicht. Das könnte man sehr gut bei einer Nachauflage berücksichtigen.

Ein anderer »Engpaß« in DDR-Zeiten trug den Namen: Papier. Das betraf weniger Erstdrucke, sondern Nachauflagen. Die zu drucken, bedeutete mitunter, einen anderen Autor warten lassen. Was haben Sie bei Ihrer Arbeit für einen Eindruck von der Auflagenpolitik der Verlage gewonnen?

Darauf könnte ich nur mit Vermutungen antworten. Was ich aber durchaus festgestellt habe ist dies: Bestimmte, sehr wichtige Titel haben leider nur eine oder zwei Auflagen erlebt, mitunter in sehr großen Zeitabständen. Ich will das wiederum an Beispielen zeigen. »Faschismus–Ghetto–Massenmord« ist nur 1960 und 1961 erschienen, »Kennzeichen J« 1966 und 1981, »Juden unterm Hakenkreuz« nur 1973 und »Faschismus Rassenwahn Judenverfolgung« nur 1975.

Auch ein so wichtiges Buch wie »Die Kunst der Synagoge« – eine Einführung in die Probleme von Kunst und Kult des Judentums – wurde nur 1966 und 1968 aufgelegt. Gerade weil es Sachliteratur zum Thema war, wären wiederholte Auflagen, möglichst in Kontinuität, wünschenswert gewesen. Ob dahinter doch ideologische Entscheidungen standen, vermag ich nicht zu sagen. Da müßte die seriöse Forschung ran.

Andererseits sind zum Beispiel die Tagebücher aus dem Ghetto »Im Feuer vergangen« von 1958 bis 1962 sieben Mal aufgelegt worden. Und Bruno Apitz’ »Nackt unter Wölfen« – in der DDR Schullektüre – erschien bis 1990 in 56 Auflagen im Mitteldeutschen Verlag, in 21 Auflagen bei Reclam und außerdem noch in zwei anderen Verlagen. Auch Peter Edels »Die Bilder des Zeugen Schattmann«, das als vierteiliger Fernsehfilm bereits 1972, also vor der US-Serie »Holocaust«, ausgestrahlt wurde, erschien von 1969 bis 1989 in 12 Auflagen.

Wo sind, nachdem die beiden Jüdischen Gemeinden in Berlin vereint sind, die Bücher der »Bibliothek Ost« heute zu lesen und zu entleihen?

Die beiden Jüdischen Gemeinden der Stadt vereinigten sich Ende 1990 zu einer, und die Bibliothek in der Ora­nienburger Straße wurde in die schon in Westberlin bestehende als Zweigstelle integriert. Beide existierten noch bis zu meinem Ausscheiden Ende 2001.

Ab Februar 2002 schien dann das Aus für die Zweigstelle gekommen zu sein. Ein Sturm des Protestes, insbesondere langjähriger Bibliotheksbenutzer, auch von Schriftstellern, setzte ein, und nach kurzer Pause wurde die Bibliothek wieder zugänglich, betreut von der Hauptbibliothek.

Zwei Jahre später wurde erneut die Schließung angekündigt, jedoch nicht gleich realisiert, es durften aber keine Entleihungen mehr getätigt, der vorhandene Kopierer konnte nicht mehr benutzt werden. Neue Bücher wurden ohnehin schon lange nicht mehr angeschafft. Im Herbst 2005 wurde die Zweigstelle dann endgültig geschlossen, die Bücher kamen ins Magazin, die Räumlichkeiten wurden anderweitig genutzt.

Zufällig erfuhr ich am 1. März 2009 aus einer winzigen Notiz in Neues Deutschland, daß die Moses Mendelssohn Akademie in Halberstadt die Bibliothek übernommen hat und sie zukünftig als Präsenzbestand genutzt werden kann. Dies ist nun seit dem 1. März 2010 möglich.

Detlef Joseph: Die DDR und die Juden - Eine kritische Untersuchung– mit einer Bibliographie von Renate Kirchner. Das Neue Berlin, Berlin 2010, 399 Seiten, 19,95 Euro

Interview: Kurt Pätzold und Erika Schwarz

* Aus: junge Welt, 18. März 2010

Siehe auch:

Aufklärung: JUDEN IN DER DDR
Kurt Pätzold bespricht ein Buch von Detlef Joseph
Den Völkermord benannt
Das Bild vom Juden und der Holocaust im DDR-Schulunterricht. Eine Buchrezension




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