Ermutigt durch Biedermänner
Drei Tage nach dem "Asylkompromiss" wurden in Solingen fünf Menschen verbrannt
Von Marcus Meier *
Er galt als Höhepunkt der rassistischen
Gewaltwelle, die Deutschland
vor 20 Jahren erschütterte: der
Brandanschlag von Solingen, bei
dem fünf Menschen qualvoll starben.
Die Täter sind längst wieder auf
freiem Fuß, die Wunden jedoch noch
nicht verheilt.
Als Herbert Leuninger in jenen
Tagen von einem japanischen
Journalisten gefragt wurde, wohin
die gerade erfolgte Verstümmelung
des deutschen Asylrechts
führe, antwortete der damalige
Vorsitzende des Vereins »Pro
Asyl« mit einem einzigen Wort:
»Solingen.«
Drei Tage nach der hochgradig
umstrittenen Grundgesetzänderung
ging ein von türkischstämmigen
Familien bewohntes
Haus in der Solinger Unteren
Wernerstraße in Flammen auf.
Am 29. Mai 1993 verbrannten
Hülya und Hatice Genç und Gülüstan
Öztürk qualvoll. Gürsün
Ince und Saime Genç starben, als
sie versuchten, mit einem Sprung
in die Tiefe dem Flammentod zu
entfliehen. 14 weitere Menschen
wurden teils schwer verletzt und
leiden noch heute unter den Folgen
der Tat.
»Solingen« – für den »Pro
Asyl«-Aktivisten Leuninger führte
ein direkter Weg vom parlamentarischen
zum mörderischen Akt.
»Die Flammen von Solingen«,
sagte der katholische Pfarrer
Leuninger am 5. Juni 1993 vor
15 000 Demonstranten, »die
Flammen von Solingen beleuchten
gespenstisch eine gescheiterte
Ausländer- und Asylpolitik.« Das
Grundrecht auf Asyl sei den extremen
Rechten geopfert worden.
Ausgerechnet so habe eine Zweidrittelmehrheit
des Bundestages
Rechtsextremismus bekämpfen
wollen. »Das war die falsche Entscheidung.
Eine Politik, die um
Rechts buhlt, führt uns in die Katastrophe!«
Der Menschenrechtsaktivist
sollte Recht behalten. Die Brandstifter
sahen sich ermutigt. Sie
fassten die »Asyldebatte« mit ihrer
monatelangen Hetze durch
Politiker und Journalisten, sie
fassten ihren realpolitischen Erfolg
– den »Asylkompromiss« – als
Aufforderungen zum Weitermachen
auf. Sie wollten mehr.
Allein in Nordrhein-Westfalen
wurden in den zehn Tagen nach
Solingen zehn weitere Brandanschläge
registriert. Wenn Städte
wie Hattingen, Soest und Bergisch-
Gladbach nicht zu einem
zweiten, dritten oder vierten
»Solingen« wurden, so war dies
alleine dem Zufall zu verdanken.
Es sei »reines Glück«, dass
»wir nicht erneut Todesopfer beklagen
mussten«, atmete seinerzeit
NRW-Innenminister Herbert
Schnoor auf. Jener Herbert
Schnoor, der im Jahr zuvor als
Leiter der SPD-Arbeitsgruppe
»Zuwanderung-Flüchtlinge« federführend
daran beteiligt war,
die SPD für eine Asylrechtsänderung
fit zu machen, der der
Bundestag schließlich am
26. Mai 1993zustimmte.
»Das immer gleiche Schema
rechter Gewalt: Alkohol bringt eine Mischung aus Brutalität, Frust, Hass und Langeweile zur Explosion«, sollte der
»Spiegel« die erneute Welle der rechten Gewalt
analysieren, dezent die eigenen
Schlagzeilen der vergangenen
Monate verschweigend. Schlagzeilen
wie »Das Boot ist voll« und
Titelseiten, auf denen Fascho-
Skinheads vor den brennenden
Häusern von Rostock-Lichtenhagen
zu sehen waren. Der Nazis
»Wut auf den Staat« sei insbesondere
durch einen »Asyl-Notstand
« bedingt, suggerierte das
Hamburger Nachrichtenmagazin.
»Vor allem Enttäuschung über
Bonner Politik-Versagen und über
das Elend im Osten hat sich bei
den Krawallen von Rostock entladen«, war im Heftinneren zu lesen.
Nicht jeder Brand-Satz ist ein
Molotowcocktail.
Nach den Pogromen von
Rostock-Lichtenhagen hatte
Bundesinnenminister Rudolf Seiters
(CDU) noch verkündet, der
Staat müsse handeln – nicht gegen
die marodierenden Nazis und
applaudierende Bürger, sondern
gegen »den Missbrauch des Asylrechts,
der dazu geführt hat, dass
wir einen unkontrollierten Zustrom
in unser Land bekommen
haben«. Nach Solingen forderte
der Christdemokrat nun ein hartes
Durchgreifen gegen die Nazis
ein.
Wohlfeile Worte. Doch die Gewalt
der Nazis war nur eine Seite
des Rassismus. Im Juli 1990 hatte
ein Bericht des Europaparlaments
der Bundesrepublik ein
hohes Maß an Rassismus und
Fremdenfeindlichkeit attestiert
und dem Land zugleich Ignoranz
vorgeworfen. Im Gegensatz zu
anderen Ländern lasse Deutschland
sein Rassismusproblem
nicht einmal wissenschaftlich
untersuchen.
Bereits wenige Tage nach dem
Solinger Fünffachmord wurden
der Öffentlichkeit
vier Tatverdächtige
präsentiert. Christian R.,
Christian B. und Felix K.
wurden 1995 zu zehn Jahren
Jugendstrafe verurteilt. Markus G., der
als einziger nach Erwachsenenstrafrecht
verurteilt wurde, bekam
15 Jahre, von denen er gut 12 absaß.
In der Haft machte er sein
Abitur nach, begann ein Studium,
scheiterte, hielt sich mit Gelegenheitsjobs
über Wasser.
G. hatte die Tat gestanden, gar
einen Brief an die Hinterbliebenen
verfasst. Er könne der Familie
die Gewissheit geben, dass die
richtigen Täter einsitzen, schrieb
der zur Tatzeit 23-Jährige. Er
schäme sich unendlich und habe
eine schwere Strafe verdient.
Doch am 80. Verhandlungstag
widerrief er sein Geständnis.
Heute ist G. arbeitslos und Alkoholiker.
Er wirft sich vor allem vor,
sich durch ein falsches
Geständnis selbst in diese
missliche Lage gebracht
zu haben, verriet er unlängst der »Welt«.
Alkohol, Frust, Langeweile?
Auch in Solingen gab es rechtsextreme
Organisationsstrukturen,
das wurde schnell offenbar.
Drei der Täter hatten vorher in
der Kampfsportschule »Hak Pao«
trainiert, in der Nazikader ein
und aus gingen. »Hak Pao«-Chef
Martin Schmitt hatte nicht nur
den rechtsextremen »Deutschen
Hochleistungskampfkunstverband
« mitgegründet und bot immer
freitags Training im »Special
Forces Combat Karate« an, das
Neonazis magisch anzog. Er sollte
sich auch als Spitzel des Verfassungsschutzes
erweisen. Schmitt soll zudem über Christian
B. von Plänen erfahren haben,
»das Türkenhaus« abzubrennen.
Wie auch immer: Der V-Mann
warnte niemanden.
Verurteilt wurden die vier Täter
allein aufgrund von Indizien –
und des zeitweiligen Geständnisses
von Markus G. Spuren waren
verwischt, die Hausruine im Auftrag
der Stadt abgerissen worden.
Eine wirkliche Rekonstruktion
der Tat wurde so unmöglich
gemacht.
Der Solinger Brandanschlag
gilt als Höhepunkt der rassistischen
Gewaltwelle zu Anfang der
Neunziger Jahre. Er rief massenhafte
Proteste hervor: 50 000
Menschen demonstrierten am
Wochenende nach der Tat bundesweit
gegen das Verbrechen.
15 000 Menschen gingen allein in
Solingen auf die Straße. Ihr Motto:
»Rassismus wird geschürt.
Menschen werden verbrannt. Wir
müssen uns endlich wehren.«
»Dies ist auch unser Land«, ist
der Solinger Appell überschrieben,
der 1993 von vielen migrantischen,
antirassistischen und
gewerkschaftlichen Gruppen
mitgetragen wurde. Demagogisch
seien die Zukunftsängste vieler
Menschen in der Asyldebatte
»gegen Flüchtlinge gerichtet«; so
sei »das Feindbild Flüchtling«
geschaffen worden. Der Aufruf
forderte »klare Zeichen für einen
grundlegenden Klimawechsel in
Politik und Gesellschaft« und eine
»demokratische Republik mit humanem
Antlitz«. Eine »außerparlamentarische
Opposition gegen
die große Parteienkoalition«
sei wichtiger denn je. Noch heute
ist eine Initiative unter dem Namen
Solinger Appell aktiv – eine
von vielen, die sich, obwohl unterfinanziert,
in der Stadt gegen
Nazis wehren.
Seit 20 Jahren bemüht sich
Mevlüde Genç, die bei dem Anschlag
zwei Töchter, zwei Enkelinnen
und eine Nichte verlor, um
ein friedliches und respektvolles
Miteinander von Menschen unterschiedlicher
Kulturen. Für ihr
Engagement wurde sie unter anderem
mit dem Bundesverdienstkreuz
ausgezeichnet. Längst hat sie sich einbürgern
lassen: »Ich lebe in Deutschland,
also will ich Deutsche sein«, sagt
die 70-Jährige. Bei allem
Schmerz: Mevlüde Genç betrachtet
Solingen als ihre Heimat.
* Aus: neues deutschland, Freitag, 24. 2013
»Was soll Frau Merkel uns schon sagen?«
Seit 20 Jahren kämpft der Solinger Appell gegen Rassismus
Von Marcus Meier **
Antirassisten haben es nicht leicht in
Solingen. Beim offiziellen Gedenken
an die Opfer des Brandanschlages
werden Faschisten und Islamisten
geduldet und antirassistische Arbeit
bleibt unterfinanziert.
1993 weigerte sich Helmut Kohl,
nach dem Solinger Brandanschlag
zum Tatort zu kommen. Er
lehne »Beileidstourismus« ab,
beschied der damalige Bundeskanzler
seine Kritiker lapidar.
Wenn sich das Verbrechen in
diesen Tagen zum 20. Mal jährt,
wird auch Kohls Parteifreundin
und Kanzlerin Angela Merkel sich
den Weg ins Bergische Land sparen.
Dass sie der linken Demonstration
unter dem Label
»Das Problem heißt Rassismus«
fernbleibt – geschenkt.
Doch selbst auf der offiziellen
Gedenkveranstaltung der CDUregierten
Stadt Solingen wird statt
der Kanzlerin deren Staatsministerin
für Migration, Flüchtlinge
und Integration, Maria Böhmer,
reden. NRW-Ministerpräsidentin
Hannelore Kraft, SPD, verbringt
die Tage derweil lieber in Nordamerika,
wird die Internetkonzerne
Ebay und Google aus der
Nähe begutachten. Formal sind
Bundes- wie Landesregierung
Mitveranstalter
des
Gedenkens.
Dass die Kanzlerin
nicht kommen
wird, kann Ali
Dogan, der 1993
den noch heute
aktiven Solinger
Appell mitbegründete,
gut verschmerzen. »Was soll
Frau Merkel uns schon sagen«,
fragt der Betriebsrat eines großen
Solinger Krankenhauses. »Eine
Schlussfolgerung aus Solingen
hätte es sein müssen, uns Migranten
endlich gleiche Rechte
einzuräumen. Doch Angela Merkel
ist, um nur zwei Beispiele zu
nennen, gegen die doppelte
Staatsbürgerschaft und gegen ein
kommunales Wahlrecht für Ausländer«.
Was Dogan ärgert, ist hingegen
die Rede des türkischen Botschafters
Hüseyin Avni Karslioglu
am Tag des offiziellen Gedenkens
– und die Beteiligung von reaktionären
Kräften, die stillschweigend
geduldet würden. »Wie in
jedem Jahr werden
auch diesmal wieder Islamisten, die faschistischen ›Grauen Wölfe‹ und Vertreter des türkischen Staates
zum offiziellen Gedenken auflaufen«, so der Aktivist.
Doch man könne nicht mit den
»Grauen Wölfen« den Rassismus
bekämpfen, betont Dogan eigentlich
Selbstverständliches. Der
Auftritt des türkischen Diplomaten
erfreut den ver.di-Gewerkschafter
ebenfalls nicht: »Wie soll
ein Vertreter des türkischen
Staates, der die Menschenrechte
selbst nicht achtet, in Deutschland
plötzlich für Menschenrechte
stehen?« Auch den religiösen Eiferern
attestiert Dogan wenig Bereitschaft,
sich gegen Fremdenfeindlichkeit
zu engagieren.
Viele Forderungen hingegen
wird die Demonstration »Das
Problem heißt Rassismus« stellen:
von einer dauerhaften finanziellen
Förderung antirassistischer
Arbeit in Solingen über das
Verbot von Nazigruppen bis hin
zu gleichen sozialen wie politischen
Rechten für alle hier lebenden
Menschen. Als der Solinger
Appell und seine Bündnispartner
unlängst das Demonstrationskonzept
vorstellten, konzentrierte
sich die anwesende Lokalpresse
indes exklusiv auf ein einziges
Thema: denkbare Krawalle von
Links. »Ich stelle jetzt mal bewusst
eine kontroverse Frage«,
kündigte eine WDR-Journalistin
an. »Wie wollen Sie verhindern,
dass unsere Stadt in Flammen
aufgeht?« Die Organisatoren
konterten diese Entgleisung
ebenso kühl wie routiniert: Man
habe mit der Polizei telefoniert
und die sehe keine Anhaltspunkte
für drohende Ausschreitungen.
** Aus: neues deutschland, Freitag, 24. 2013
Zurück zur Seite "Rassismus, Fremdenhass"
Zurück zur Homepage