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Bürgerkriegsähnliche Zustände

Jahresrückblick 2011. Heute: Repression, Funkzellenabfrage, Ermittlungen wegen Blockaden – Antifaschisten sollen nicht nur in Dresden mundtot gemacht werden

Von Markus Bernhardt *

Das Ausmaß der gegen Antifaschisten gerichteten staatlichen Repression ist auch im Jahr 2011 gestiegen. Opfer des Überwachungs- und Kriminalisierungswahns der bundesdeutschen Behörden wurden in diesem Jahr maßgeblich die etwa 20000 Nazigegner, die am 19. Februar einen Aufmarsch von Neonazis in Dresden mit friedlichen Sitzblockaden verhinderten. Rund 2000 Rechte wollten wie bereits in den Vorjahren zum Jahrestag der alliierten Bombenangriffe auf die Stadt 1945 aufmarschieren. Die Menschen, die dem Blockadeaufruf des Bündnisses »Dresden stellt sich quer!« gefolgt waren, sahen sich jedoch mit einem bis dato unbekannten Ausmaß an polizeilichen Übergriffen und Überwachungsmaßnahmen konfrontiert.

Überwachungswahn

Mehr als eine Million Datensätze von Mobiltelefonen hatte die Dresdner Polizei im Februar mittels einer Funkzellenabfrage gespeichert und dabei auch sogenannte IMSI-Catcher eingesetzt, mit deren Hilfe Telefongespräche mitgehört werden können. Noch vor Beginn der antifaschistischen Proteste sollen die Beamten außerdem Listen unter anderem mit Namen von Politikern und Pfarrern samt deren mutmaßlicher Aufenthaltsorte bei den Protesten an die Staatsanwaltschaft der sächsischen Landeshauptstadt weitergegeben haben.

Während etwa 1000 Neofaschisten im Stadtteil Plauen – unbehelligt von der Polizei – marodierend durch die Straßen ziehen und vermeintliche Nazigegner angreifen konnten, ging diese vielerorts im Dresdner Stadtgebiet mit brutaler Gewalt gegen friedliche Gegendemonstranten vor. So hetzten Beamte Hunde auf sie, versprühten Pfefferspray und prügelten mit Schlagstöcken sogar auf betagtere Mitglieder der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten (VVN-BdA) ein. Selbst Überwachungsdrohnen kamen zum Einsatz.

Noch am Abend des 19. Februar stürmte ein schwer bewaffnetes Sondereinsatzkommando (SEK) der Polizei das »Haus der Begegnung« in Dresden, in dem sich auch Büros der Linkspartei und eine Rechtsanwaltskanzlei befinden. Wegen des »Verdachts auf die Organisation einer Straftat und Landfriedensbruch« brachen die SEK-Beamten alle Türen des Hauses gewaltsam auf, beschlagnahmten Laptops und Handys, legten anwesende Linke-Mitarbeiter in Handschellen und nahmen sie fest. Durch die nahezu filmreife Erstürmung wurde ein Sachschaden von 5600 Euro verursacht. Im Oktober urteilte das Amtsgericht Dresden, die Razzia sei rechtswidrig gewesen.

Ungeachtet dessen setzten Ermittler und Strafverfolger ihre Kriminalisierungsstrategie über das gesamte Jahr fort. So schrieb etwa eine eigens eingerichtete »Sonderkommission 19/2« der Dresdner Polizei bundesweit Busunternehmen an, die im Februar Demonstranten in die Elbmetropole gefahren hatten. In dem jW vorliegenden Schreiben des Landeskriminalamts mit der Überschrift »Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts des besonders schweren Falls des Landfriedensbruches/Ermittlungen zu Busunternehmen« wurde seitens der Polizei der falsche Eindruck erweckt, es werde gegen die Reiseveranstalter selbst ermittelt, weshalb sie zu einer Antwort verpflichtet seien. Unter anderem wurde darin detailliert Auskunft über Strecken, Namen und Adressen der eingesetzten Fahrer und derer, die die Busse angemietet haben, verlangt.

Der sächsische Innenminister Markus Ulbig (CDU) verteidigte das Vorgehen von Polizei und Staatsanwaltschaft und fabulierte einen »Grundsatz der freien Gestaltung des Ermittlungsverfahrens« herbei. Auch andere Politiker von CDU und der im Freistaat mitregierenden FDP stellten sich hinter Maßnahmen wie die Einleitung von Ermittlungen nach Paragraph 129 des Strafgesetzbuches (»Bildung einer kriminellen Vereinigung«) gegen Mitglieder des Bündnisses »Dresden stellt sich quer!« ebenso wie hinter Hausdurchsuchungen unter anderem bei Antifaschisten in Berlin und Baden-Württemberg sowie bei dem Jenaer Jugendpfarrer Lothar König. Ihm wird unterstellt, zur Gewalt gegen Polizeibeamte aufgerufen zu haben. Es folgten – wegen angeblicher »Rädelsführerschaft« bei der Blockade des Dresdner Naziaufmarsches am 13. Februar 2010 – die Aufhebung der Immunität der Linksfraktionschefs André Hahn (Sachsen) und Bodo Ramelow (Thüringen). Anträge auf Aufhebung der Immunität liegen zudem gegen die Vorsitzenden der hessischen Linksfraktion, Janine Wissler und Willi van Ooyen, vor.

Schützenhilfe

Der Berliner Staatsrechtler Ulrich Battis kam in einem im Auftrag der sächsischen Landesregierung erarbeiteten Gutachten zu dem Schluß, die nahezu flächendeckende Überwachung von Bürgern und Demonstranten in Dresden sei »angemessen« gewesen. Derweil werden Dutzenden Mandatsträgern, Journalisten und Rechtsanwälten bis heute konkrete Informationen über Art und Umfang der Bespitzelung ihrer Person verweigert. Das Dresdner Amtsgericht verurteilte erst vor wenigen Tagen einen Teilnehmer der antifaschistischen Blockaden wegen angeblichen Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz zu 15 Tagessätzen à 20 Euro.

Trotz der anhaltenden Kriminalisierungsversuche rufen Antifaschisten auch für den kommenden Februar dazu auf, den erneut geplanten rechten Aufmarsch in Dresden mittels Massenblockaden zu verhindern.

www.dresden-nazifrei.com

* Aus: junge Welt, 27. Dezember 2011


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