Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Beeinflusst und berauscht

Wer vom Faschismus redet... muss auch von der Millionengefolgschaft reden

Von Manfred Weißbecker *

"Man kann sagen, dass der Faschismus der alten Kunst zu lügen gewissermaßen eine neue Variante hinzugefügt hat – die teuflischste Variante, die man sich denken kann – nämlich: das Wahrlügen."
Hannah Arendt

Wer vom Faschismus redet, muss zugleich über den Kapitalismus reden, lautet ein bekanntes und überaus berechtigtes Diktum. Kein Weg führt daran vorbei, es sei denn, ein Umweg wird bewusst zu Entlastung und Beschönigung des Letzteren gesucht. Muss aber auch über den Massenanhang der Nazis geredet werden? Obwohl wir wissen, in welchem Ausmaß und wie radikal sich die NSDAP diverser Manipulationstechniken bediente? Selbstverständlich! Denn generell gilt, dass alle Manipulation der Bevölkerung durch Herrschende vergeblich sein kann, wenn es nicht auch die Bereitwilligkeit der Beherrschten, sich beeinflussen oder gar »berauschen« zu lassen.

Der Massenanhang bot den Nazis eine Voraussetzung für ihren Erfolg und geriet zugleich zu einem wichtigen Kennzeichen des deutschen Faschismus. Allerdings bestimmte er zu keiner Zeit das Programm, den Kurs und das Ziel der Partei – das tat ihre Führungsgruppe. Dennoch: Das braune Regime hätte ohne ihn nicht funktionieren können, ohne die Millionen. Ohne die »willigen« Helfer wären kein totaler Krieg, keine barbarische Okkupationspolitik und erst recht kein Völkermord zu realisieren gewesen. Ohne sie hätte während des Zweiten Weltkrieges das System der rund 20 000 Zwangsarbeiterlager nicht geschaffen werden können. Ohne sie wäre der Krieg nicht so sinnlos und opferreich bis fünf Minuten nach zwölf unterstützt worden. Nach 1933 war die überwiegende Mehrheit der Deutschen begeistert, ja regelrecht enthusiastisch und fasziniert.

Historikern gelang es bisher nicht ausreichend, die Vielfalt jener Ursachen zu erhellen, die zu der erstaunlich großen und folgenreichen Akzeptanz des Faschismus geführt haben. Notwendig zu untersuchen wäre daher u. a. das damals massenhaft feststellbare »Alltagsbewusstsein«, das sowohl von weltanschaulichideologischen, geistig-moralischen als auch von psychischen und mentalen Gegebenheiten geprägt war. Als wesentliche Faktoren sind hier vor allem zu benennen: die weit verbreitete Gewaltakzeptanz, die Verinnerlichung einer nationalistisch- rassistischen Volksgemeinschafts- Ideologie, die dankbare Hinnahme sozialpolitischer »Erfolgsbestechung« und anderer als lohnend betrachteter Integrationsangebote, das Nichterkennenwollen des Kerns der Hitlerschen Friedensdemagogie, die sorglose Befürwortung außenpolitischer und militärischer Siege bis 1939 bzw. 1941/42, das opportunistische eigene Beteiligtsein an der straffen Organisiertheit des gesamten Lebens. Zu nennen wären zudem Erscheinungen, die einerseits als Gefühl politischer Ohnmacht, andererseits als Ausdruck revoltierenden Aufbegehrens bezeichnet werden können, getragen auch von Militaria-Fetischismus, Männlichkeitswahn etc.

Die Terroraktionen der NSDAP übertrafen an Umfang und Brutalität alles bisher Dagewesene. Wirksam konnten sie auch deshalb sein, weil viele Deutsche militärische Gewalt als notwendiges Mittel zur Lösung von innen- und außenpolitischen Konfliktsituationen akzeptierten. Unkritisches Wissen über die an Kriegen so reiche Geschichte der Menschheit nährte die Auffassung, diese seien unabwendbar und entsprächen der Natur des Menschen. Kriege wurden hingenommen, bestärkt auch durch manipulative Parolen wie die vom »süßen Tode auf dem Feld der Ehre« oder von wiederherzustellender nationaler Ehre. Hingenommen wurde auch, dass Menschen generell in Kriegen verrohen; gerade im ersten weltweit mit riesigen Armeen geführten Krieg von 1914 bis 1918 gerieten Entmenschlichung, barbarische Handlungsbereitschaft und Gewaltakzeptanz zur Alltäglichkeit. Dies bot einen wirksamen Boden für den Faschismus, zumal seine Führer stets bemüht waren, die eigene Aggressivität zu tarnen und sich selbst als Opfer derer darzustellen, die künftige Kriege verhindern und eine andere, eine menschlichere Gesellschaft erstrebten.

Zudem konnte die Ideologie des Nationalsozialismus auf Denk- und Verhaltensweisen aufbauen, die über viele Jahrhunderte hinweg nationalistisch, rassistisch, antidemokratisch und antisozialistisch geprägt worden waren. In der Weimarer Republik richteten sich diese konkret gegen das als ungerecht und bedrückend empfundene Friedensdiktat von Versailles. Es zu revidieren, erschien Deutschen aus allen Klassen und Schichten als unbedingt erforderlich. Wo die real vorhandenen Kräfte dazu nicht ausreichten, schien deren Fehlen durch fanatisches und blindwütiges Kämpfertum ersetzbar zu sein.

Mit der Ablehnung des »Systems« von Weimar war die Verdammung aller Erfolge der Arbeiterbewegung (die als »Marxismus« geschmäht wurde) verbunden, der als undeutsch und jüdisch verunglimpfte Parlamentarismus, ebenso tatsächliche wie vermeintliche Schwächen des gesamten Parteienwesens und die als »Kulturbolschewismus « verdammte Moderne. So erklären sich die umfassende nationale Aufbruchstimmung unmittelbar nach dem 30. Januar 1933, die leichtfertige Zustimmung zur Wiederaufrüstung. Weit verbreitete Enttäuschung, Unzufriedenheit und Ratlosigkeit verbanden sich mit Hoffnungen auf eine bessere Zukunft, in der man in Wohlstand und Ordnung leben könne, sobald »Lebensraum« erobert und »fremdrassische« Völker unterworfen und verjagt seien. Dem entsprachen nahezu religiös gefärbte Heils-Erwartungen, gerichtet auf die alle Klassenschranken angeblich überwindende »Volksgemeinschaft« sowie auf den neuen »Führer«, den Hitler geschickt darzustellen wusste.

Obgleich nach 1933 der Lebensstandard nicht den Stand von Mitte der 20er Jahre erreichte, erwiesen sich die Überwindung von Wirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit als »überzeugend«. Auch die rasante Wiederaufrüstung, die Schaffung eines Massenheeres und die damit verbundenen sozialen Aufstiegschancen wirkten als »Erfolgsbestechung «. Zugleich stärkten die mit friedensdemagogischen Parolen verbrämten außenpolitischen Erfolge (Konkordat, Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht, Olympische Spiele, Anschluss Österreichs u.a.m.) das Gefühl deutscher bzw. arischer Überlegenheit. Der Anteil, den die große Mehrheit der Deutschen an den Arisierungsergebnissen bekam, hielt sich demgegenüber in Grenzen. Von größerem Gewicht sollte sich die materielle Ausplünderung der eroberten Länder nur in den ersten Jahren des Zweiten Weltkrieges erweisen.

Dass die NSDAP bis zum Schluss intakt und in ihrem Sinne voll funktionsfähig geblieben ist, darf auch als Resultat des umfassenden, bereits in der zweiten Hälfte der 20er Jahre sorgfältig vorbereiteten Organisationensystems gesehen werden, an dessen Spitze sie stand. Die einzelnen Gliederungen und angeschlossenen Verbände – gleich ob DAF, HJ, SA, SS u. a. – erfassten wiederum selbst Millionen Deutsche und nahezu jeden Winkel der Gesellschaft. Wie keine andere deutsche Partei hatte die NSDAP nach 1933 einen bis dahin unbekannten, einen nicht für möglich gehaltenen flächendeckenden Grad individueller und gesellschaftlicher Organisiertheit der Bevölkerung erreicht. Sie war zum Träger einer Organisationen-Gesellschaft geworden, in der sich kaum einer – ob Arbeiter oder Gewerbetreibender, ob jung oder alt, Mann oder Frau – dem Einfluss ihres breit gefächerten Systems sogenannter Gliederungen, angeschlossener Verbände und betreuter Organisationen entziehen konnte.

Ohne Parallelen ziehen zu wollen: Mit Sorge ist zu beobachten, wie weit gegenwärtig in der deutschen Gesellschaft bestimmte Grundelemente fremdenfeindlichen, rassistischen und neonazistischen Denkens weiter bestehen, wie ein zunehmend auf kriegerische Aktionen orientiertes und undemokratisches Treiben einiger Regierender widerspruchslos hingenommen oder gar gebilligt wird. Es gibt tendenziell Resignation, Rat- und Hilflosigkeit, desgleichen einen Verfall normalen Verantwortungs- und Mitgefühls. Viele, allzu viele Menschen schauen schlicht und einfach weg, scheinen eingetaucht zu sein in ein gewöhnliches Einerlei alltäglichen Denkens und des Gewährenlassens nach dem Motto »Es war so, und es ist eben so …«

* Prof. Dr. Manfred Weißbecker, Jg. 1935, Jenenser Faschismusforscher, verfasste zusammen mit seinem Berliner Zunftkollegen Kurt Pätzold eine Geschichte der NSDAP sowie eine Hitler- und eine Heß-Biografie und viele weitere Bücher über die NS-Diktatur und NS-Täter.

Aus: neues deutschland, Samstag, 26. Januar 2013



Zurück zur Seite "Rassismus, Faschismus"

Zur Seite "Kriegsgeschichte, Geschichte des 2. Weltkriegs"

Zurück zur Homepage