Beeinflusst und berauscht
Wer vom Faschismus redet... muss auch von der Millionengefolgschaft reden
Von Manfred Weißbecker *
"Man kann sagen, dass der Faschismus der alten
Kunst zu lügen gewissermaßen eine neue Variante
hinzugefügt hat – die teuflischste Variante,
die man sich denken kann – nämlich: das
Wahrlügen."
Hannah Arendt
Wer vom Faschismus redet, muss
zugleich über den Kapitalismus
reden, lautet ein bekanntes und
überaus berechtigtes Diktum. Kein
Weg führt daran vorbei, es sei
denn, ein Umweg wird bewusst zu
Entlastung und Beschönigung des
Letzteren gesucht. Muss aber auch
über den Massenanhang der Nazis
geredet werden? Obwohl wir wissen,
in welchem Ausmaß und wie
radikal sich die NSDAP diverser
Manipulationstechniken bediente?
Selbstverständlich! Denn generell
gilt, dass alle Manipulation der
Bevölkerung durch Herrschende
vergeblich sein kann, wenn es
nicht auch die Bereitwilligkeit der
Beherrschten, sich beeinflussen
oder gar »berauschen« zu lassen.
Der Massenanhang bot den
Nazis eine Voraussetzung für ihren
Erfolg und geriet zugleich zu
einem wichtigen Kennzeichen des
deutschen Faschismus. Allerdings
bestimmte er zu keiner Zeit das
Programm, den Kurs und das Ziel
der Partei – das tat ihre Führungsgruppe.
Dennoch: Das braune Regime
hätte ohne ihn nicht funktionieren
können, ohne die Millionen.
Ohne die »willigen« Helfer wären
kein totaler Krieg, keine barbarische
Okkupationspolitik und erst
recht kein Völkermord zu realisieren
gewesen. Ohne sie hätte während
des Zweiten Weltkrieges das
System der rund 20 000 Zwangsarbeiterlager
nicht geschaffen
werden können. Ohne sie wäre der
Krieg nicht so sinnlos und opferreich
bis fünf Minuten nach zwölf
unterstützt worden. Nach 1933
war die überwiegende Mehrheit
der Deutschen begeistert, ja regelrecht
enthusiastisch und fasziniert.
Historikern gelang es bisher
nicht ausreichend, die Vielfalt jener
Ursachen zu erhellen, die zu
der erstaunlich großen und folgenreichen
Akzeptanz des Faschismus
geführt haben. Notwendig
zu untersuchen wäre daher
u. a. das damals massenhaft feststellbare
»Alltagsbewusstsein«,
das sowohl von weltanschaulichideologischen,
geistig-moralischen
als auch von psychischen und
mentalen Gegebenheiten geprägt
war. Als wesentliche Faktoren sind
hier vor allem zu benennen: die
weit verbreitete Gewaltakzeptanz,
die Verinnerlichung einer nationalistisch-
rassistischen Volksgemeinschafts-
Ideologie, die dankbare
Hinnahme sozialpolitischer
»Erfolgsbestechung« und anderer
als lohnend betrachteter Integrationsangebote,
das Nichterkennenwollen
des Kerns der Hitlerschen
Friedensdemagogie, die
sorglose Befürwortung außenpolitischer
und militärischer Siege bis
1939 bzw. 1941/42, das opportunistische
eigene Beteiligtsein an
der straffen Organisiertheit des
gesamten Lebens. Zu nennen wären
zudem Erscheinungen, die einerseits
als Gefühl politischer
Ohnmacht, andererseits als Ausdruck
revoltierenden Aufbegehrens
bezeichnet werden können,
getragen auch von Militaria-Fetischismus,
Männlichkeitswahn etc.
Die Terroraktionen der NSDAP
übertrafen an Umfang und Brutalität
alles bisher Dagewesene.
Wirksam konnten sie auch deshalb
sein, weil viele Deutsche militärische
Gewalt als notwendiges Mittel
zur Lösung von innen- und außenpolitischen
Konfliktsituationen
akzeptierten. Unkritisches Wissen
über die an Kriegen so reiche Geschichte
der Menschheit nährte die
Auffassung, diese seien unabwendbar
und entsprächen der Natur
des Menschen. Kriege wurden
hingenommen, bestärkt auch
durch manipulative Parolen wie
die vom »süßen Tode auf dem Feld
der Ehre« oder von wiederherzustellender
nationaler Ehre. Hingenommen
wurde auch, dass Menschen
generell in Kriegen verrohen;
gerade im ersten weltweit mit
riesigen Armeen geführten Krieg
von 1914 bis 1918 gerieten Entmenschlichung,
barbarische
Handlungsbereitschaft und Gewaltakzeptanz
zur Alltäglichkeit.
Dies bot einen wirksamen Boden
für den Faschismus, zumal seine
Führer stets bemüht waren, die
eigene Aggressivität zu tarnen und
sich selbst als Opfer derer darzustellen,
die künftige Kriege verhindern
und eine andere, eine
menschlichere Gesellschaft erstrebten.
Zudem konnte die Ideologie des
Nationalsozialismus auf Denk- und
Verhaltensweisen aufbauen, die
über viele Jahrhunderte hinweg
nationalistisch, rassistisch, antidemokratisch
und antisozialistisch
geprägt worden waren. In der
Weimarer Republik richteten sich
diese konkret gegen das als ungerecht
und bedrückend empfundene
Friedensdiktat von Versailles.
Es zu revidieren, erschien Deutschen
aus allen Klassen und
Schichten als unbedingt erforderlich.
Wo die real vorhandenen
Kräfte dazu nicht ausreichten,
schien deren Fehlen durch fanatisches
und blindwütiges Kämpfertum
ersetzbar zu sein.
Mit der Ablehnung des »Systems« von Weimar war die Verdammung
aller Erfolge der Arbeiterbewegung
(die als »Marxismus«
geschmäht wurde) verbunden, der
als undeutsch und jüdisch verunglimpfte
Parlamentarismus, ebenso
tatsächliche wie vermeintliche
Schwächen des gesamten Parteienwesens
und die als »Kulturbolschewismus
« verdammte Moderne.
So erklären sich die umfassende
nationale Aufbruchstimmung
unmittelbar nach dem 30. Januar
1933, die leichtfertige Zustimmung
zur Wiederaufrüstung. Weit verbreitete
Enttäuschung, Unzufriedenheit
und Ratlosigkeit verbanden
sich mit Hoffnungen auf eine
bessere Zukunft, in der man in
Wohlstand und Ordnung leben
könne, sobald »Lebensraum« erobert
und »fremdrassische« Völker
unterworfen und verjagt seien.
Dem entsprachen nahezu religiös
gefärbte Heils-Erwartungen, gerichtet
auf die alle Klassenschranken
angeblich überwindende
»Volksgemeinschaft« sowie auf
den neuen »Führer«, den Hitler
geschickt darzustellen wusste.
Obgleich nach 1933 der Lebensstandard
nicht den Stand von Mitte der 20er Jahre erreichte, erwiesen
sich die Überwindung von Wirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit
als »überzeugend«. Auch die rasante Wiederaufrüstung, die
Schaffung eines Massenheeres und die damit verbundenen sozialen
Aufstiegschancen wirkten als »Erfolgsbestechung
«. Zugleich stärkten die mit friedensdemagogischen
Parolen verbrämten außenpolitischen
Erfolge (Konkordat, Wiedereinführung
der allgemeinen Wehrpflicht, Olympische Spiele,
Anschluss Österreichs u.a.m.) das
Gefühl deutscher bzw. arischer
Überlegenheit. Der Anteil, den die
große Mehrheit der Deutschen an
den Arisierungsergebnissen bekam,
hielt sich demgegenüber in
Grenzen. Von größerem Gewicht
sollte sich die materielle Ausplünderung
der eroberten Länder nur
in den ersten Jahren des Zweiten
Weltkrieges erweisen.
Dass die NSDAP bis zum
Schluss intakt und in ihrem Sinne
voll funktionsfähig geblieben ist,
darf auch als Resultat des umfassenden,
bereits in der zweiten
Hälfte der 20er Jahre sorgfältig
vorbereiteten Organisationensystems
gesehen werden, an dessen
Spitze sie stand. Die einzelnen
Gliederungen und angeschlossenen
Verbände – gleich ob DAF, HJ,
SA, SS u. a. – erfassten wiederum
selbst Millionen Deutsche und nahezu
jeden Winkel der Gesellschaft.
Wie keine andere deutsche
Partei hatte die NSDAP nach 1933
einen bis dahin unbekannten, einen
nicht für möglich gehaltenen
flächendeckenden Grad individueller
und gesellschaftlicher Organisiertheit
der Bevölkerung erreicht.
Sie war zum Träger einer
Organisationen-Gesellschaft geworden,
in der sich kaum einer –
ob Arbeiter oder Gewerbetreibender,
ob jung oder alt, Mann oder
Frau – dem Einfluss ihres breit gefächerten
Systems sogenannter
Gliederungen, angeschlossener
Verbände und betreuter Organisationen
entziehen konnte.
Ohne Parallelen ziehen zu wollen:
Mit Sorge ist zu beobachten,
wie weit gegenwärtig in der deutschen
Gesellschaft bestimmte
Grundelemente fremdenfeindlichen,
rassistischen und neonazistischen
Denkens weiter bestehen,
wie ein zunehmend auf kriegerische
Aktionen orientiertes und
undemokratisches Treiben einiger
Regierender widerspruchslos hingenommen
oder gar gebilligt wird.
Es gibt tendenziell Resignation,
Rat- und Hilflosigkeit, desgleichen
einen Verfall normalen Verantwortungs-
und Mitgefühls. Viele,
allzu viele Menschen schauen
schlicht und einfach weg, scheinen
eingetaucht zu sein in ein gewöhnliches
Einerlei alltäglichen
Denkens und des Gewährenlassens
nach dem Motto »Es war so,
und es ist eben so …«
* Prof. Dr. Manfred Weißbecker, Jg. 1935, Jenenser Faschismusforscher, verfasste zusammen mit seinem Berliner
Zunftkollegen Kurt Pätzold eine Geschichte der NSDAP sowie
eine Hitler- und eine Heß-Biografie und viele weitere
Bücher über die NS-Diktatur und NS-Täter.
Aus: neues deutschland, Samstag, 26. Januar 2013
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