Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Streitthema Raketenabwehr – Keine Chance auf Annäherung zwischen Moskau und Washington?

Ein Beitrag von Jerry Sommer in der NDR-Sendereihe "Streitkräfte und Strategien" *


Andreas Flocken (Moderator):
Eigentlich wollte Präsident Obama die nicht ganz einfachen Beziehungen zu Russland auf eine neue Grundlage stellen. Von einem Reset, einem Neustart war die Rede. Doch die Wirklichkeit sieht inzwischen anders aus. Auf dem G-20-Gipfel im kommenden Monat in Russland wird es kein bilaterales Gespräch mit Präsident Putin geben. Obama hat es abgesagt, weil Moskau dem US-Geheimdienstmitarbeiter Edward Snowden Asyl gewährt hat. Dabei hatte es die Hoffnung gegeben, Moskau und Washington könnten sich bei Fragen der Abrüstung näherkommen – insbesondere beim Dauerstreit um die Raketenabwehr. Denn die Fronten sind hier weiterhin verhärtet. Jerry Sommer weiß mehr:


Manuskript Jerry Sommer

Russland ist die US-Raketenabwehr schon lange ein Dorn im Auge. Das gilt insbesondere für Pläne für eine europäische NATO-Raketenabwehr, obwohl die USA immer wieder erklären, diese Abfangsysteme richten sich nur gegen Nordkorea und den Iran. Die Militärs in Moskau sind allerdings skeptisch. Sie gehen nämlich von den potenziellen militärischen Fähigkeiten solcher Abwehrwaffen aus, sagt Jim Walsh, Sicherheitsexperte am Bostoner „Massachusetts Institute of Technology“:

O-Ton Walsh (overvoice)
„Wenn Russland keine Raketenabwehr hat, aber beide Seiten aufgrund von Rüstungskontrollverträgen die gleiche Anzahl von Angriffsraketen besitzen, dann könnten die USA theoretisch die russischen Raketen neutralisieren. Das würde uns einen Vorteil geben und ermöglichen, Russland zu bedrohen oder gar einen Krieg zu führen und uns gleichzeitig zu verteidigen.“

Die USA haben in Alaska und Kalifornien zwei Raketenabwehrstellungen mit insgesamt 30 Abfangraketen installiert. Zusätzlich werden regionale Abwehrsysteme entwickelt. Die NATO plant für Europa einen Raketenschutz, für den Washington die entscheidenden Komponenten bereitstellt. Vorgesehen sind see- und landgestützte Abwehrwaffen. In den ersten Phasen sollen sie nur Kurz- und Mittelstreckenraketen abwehren können.

Im Frühjahr hat die US-Regierung ihre europäischen Raketenabwehrpläne verändert. In der sogenannten vierten Phase sollten ursprünglich ab 2020 Abwehrraketen in Polen und Rumänien stationiert werden, die wegen ihrer hohen Geschwindigkeit auch in der Lage wären, Interkontinentalraketen abzuschießen. Diese Planung ist aufgegeben worden. Doch trotz dieser Streichung ist Moskau bei seiner ablehnenden Haltung geblieben. Russland sieht die Raketenabwehr auch als ein Hindernis für weitere Reduzierungen der strategischen Atomwaffen beider Länder an. Youssaf Butt von der rüstungskritischen „Federation of American Scientists“ wundert sich nicht darüber. Denn auch die weniger leistungsstarken US-Abfangraketen, die ab 2018 in Polen und Rumänien stationiert werden sollen, könnten durchaus einige russische Raketen erreichen:

O-Ton Butt (overvoice)
„Russland hat auch Bedenken gegenüber den US-Stützpunkten in Polen und Rumänien. Die dort stationierten Raketen könnten nicht nur angreifende Raketen abschießen. Sie könnten auch als Offensivwaffen eingesetzt werden, wenn man sie mit anderen konventionellen oder gar nuklearen Sprengköpfen bestückt – von Orten, die sich ganz nah an der russischen Grenze befinden.“

Russland fordert von den USA einen rechtlich bindenden Vertrag, mit dem sichergestellt werden soll, dass die US-Raketenabwehr nicht das nukleare Vergeltungspotenzial Moskaus beeinträchtigen kann. Kingston Reif vom Washingtoner Think Tank „Center for Strategic and International Studies“ hält eine solche Übereinkunft im Prinzip für möglich:

O-Ton Reif (overvoice)
„Wir könnten uns mit den Russen auf einen Plan einigen, der die Anzahl von US-Abfangsystemen festlegt, die ausreichen, um die USA gegen potenzielle Langstreckenraketen aus dem Iran oder aus Nordkorea zu verteidigen, die aber zugleich keine Bedrohung für Russland darstellen. Allerdings: der US-Senat würde einem solchen Vertrag niemals zustimmen.“

Der Hauptgrund dafür ist, dass die Raketenabwehr für die Republikaner seit den Zeiten von Ronald Reagans „Star Wars“-Programm ein sicherheitspolitisches Kernanliegen ist. Ohne die Republikaner ist im US-Senat die erforderliche Zwei-Drittel-Mehrheit aber nicht erreichbar. Dass mit den USA ein Vertrag über die Begrenzung von Raketenabwehrsystemen nicht möglich ist, macht nicht nur Russland, sondern auch China misstrauisch.

Kritiker halten auch die Rechtfertigung der US-Raketenabwehr, die vermeintliche Bedrohung durch Nordkorea und Iran, für nicht stichhaltig. Denn Nordkorea braucht noch mindestens fünf Jahre, um überhaupt eine Rakete zu produzieren, die die USA erreichen könnte. Und der Iran hat weder Nuklearwaffen noch gibt es Anzeichen dafür, dass er danach strebt, Interkontinentalraketen zu entwickeln. Selbst wenn man den unwahrscheinlichen Fall annimmt, dass Nordkorea oder Iran die USA mit Atomwaffen angreifen wollten, dann würden sie das sicher nicht mit Raketen tun, glaubt Yousaf Butt von der „Federation of American Scientists“:

O-Ton Butt (overvoice)
„Wenn man sich um einen atomaren Angriff Sorgen macht, ist das wahrscheinlichste, dass die Atomwaffe mit einem LKW oder einem Schiff in die USA gebracht wird. Dann kann man nicht genau sagen, wer der Urheber ist, und ein Gegenschlag wird schwierig. Es wäre verrückt von Nordkorea oder vom Iran, eine ballistische Rakete mit einem Atomsprengkopf zu starten, weil die Sensoren sofort sagen könnten, von wem die Rakete stammt.“

Moskau und Peking gehen davon aus, dass die US-Raketenabwehr funktioniert. Doch daran gibt es erhebliche Zweifel. Vor einigen Wochen scheiterte erneut ein Test des sogenannten „Ground Based Missile Interceptors“, - so heißt das in den USA aufgestellte Abwehrsystem gegen Interkontinentalraketen. Kingston Reif vom Center for Strategic and International Studies:

O-Ton Reif (overvoice)
„Seit 2008 hat es keinen erfolgreichen Test dieses Systems gegeben. Insgesamt waren nur drei der letzten 10 Versuche erfolgreich. Trotz dieser riesigen Probleme plant die US-Regierung, 14 zusätzliche Abwehrraketen in Alaska zu stationieren. Und die Republikaner im Kongress fordern sogar, an der Ostküste eine weitere Batterie mit diesen unzuverlässigen Waffen aufzustellen.“

Andere Kritiker weisen darauf hin, dass die Raketenabwehr aus technischen Gründen prinzipiell nicht funktionieren kann. Denn jedes Land, das in der Lage ist Interkontinentalraketen herzustellen, könnte auch Attrappen produzieren, sagt Yousaf Butt von der „Federation of American Scientists“:

O-Ton Butt (overvoice)
„Man kann Luftballons aufblasen wie Auto-Airbags und dann 20 Stück davon mit dem echten Sprengkopf zusammen auf derselben Rakete in den Weltraum schießen. Die Radaranlagen werden dann mehr als 20 Objekte orten. Sie können aber nicht unterscheiden, welches dieser Objekte der wirkliche Sprengkopf ist.“

Der stellvertretende russische Ministerpräsident Dimitri Rogozin hat vor kurzem erklärt, dass Russland in der Lage ist, die US-Raketenabwehr zu überwinden. Trotzdem macht Moskau eine weitere Reduzierung der strategischen Atomwaffen davon abhängig, dass die USA bei der Raketenabwehr zu Zugeständnissen bereit sind. Präsident Obama hat im Juni in Berlin vorgeschlagen, das strategische Atomarsenal auf jeweils nur 1.000 Sprengköpfe zu vermindern. Im Neuen START-Vertrag haben Russland und die USA 2010 vereinbart, die Zahl der Gefechtsköpfe auf jeweils 1.550 Stück zu reduzieren. Doch die Moskauer Antwort auf die Obama-Initiative ist verhalten, sagt Rüstungsexperte Jim Walsh vom „Massachusetts Institute of Technology“:

O-Ton Walsh (overvoice)
„Für Russland hat die nukleare Abrüstung keine sonderlich hohe Priorität. Die Russen wollen dieses Thema benutzen, um über andere Streitpunkte wie zum Beispiel die Raketenabwehr eine Vereinbarung zu erzielen. D.h. die USA werden bei Themen, die Russland wichtig sind, Kompromisse eingehen müssen, um Fortschritte bei der nuklearen Abrüstung zu erreichen.“

Solche Kompromisse sind jedoch im Augenblick von Washington offenbar nicht gewollt. Die Beziehungen zwischen den USA und Russland sind auch durch die Snowden-Affäre und die unterschiedlichen Positionen zu Syrien und dem Iran belastet. Deshalb hat US-Präsident Obama diese Woche auch den ungewöhnlichen Schritt getan und ein für September geplantes Gipfeltreffen mit Putin in Moskau abgesagt. Offenbar sah er keine Möglichkeit, in einer oder mehrerer der Streitfragen einen Erfolg zu erzielen. Allerdings sind Themen wie atomare Abrüstung, Syrien oder Iran ohne Russland nicht lösbar. Deshalb werden die Gespräche zwischen amerikanischer und russischer Regierung weiter gehen. Doch vorerst ist eine Einigung über Raketenabwehr und nukleare Abrüstung nicht zu erwarten. Yousaf Butt von der „Federation of American Scientists“ jedenfalls ist nicht optimistisch:

O-Ton Butt (overvoice)
„Ich habe nicht die Hoffnung, dass es eine Vereinbarung über die Raketenabwehr geben wird. Außer wenn der US-Kongress seine Meinung grundlegend ändert und erkennt, dass das System nicht funktioniert, dass es nicht in der Lage sein wird, die wirklichen potenziellen Bedrohungen aus Nordkorea oder Iran zu bekämpfen und dass die Raketenabwehr die internationalen Beziehungen unterminiert.“

Mit solch einem Umdenken ist in den USA allerdings vorerst nicht zu rechnen.

* Aus: NDR Info STREITKRÄFTE UND STRATEGIEN, 9. August 2013; www.ndr.de/info


Zurück zur Raketenabwehr-Seite

Zurück zur Homepage