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Raketenabwehr und neue Weltordnung

Präsident Dmitri Medwedew hat am Dienstag in seiner Jahresbotschaft Klartext zur Raketenabwehr geredet

Von Dmitri Kossyrew, RIA Novosti *

Hier ein Auszug aus der Jahresbotschaft des russischen Staatschefs an die Föderalversammlung: „Ich möchte hier, in diesem Saal offen sagen, dass uns in den nächsten zehn Jahren folgende Alternative erwartet: Entweder erreichen wir eine Einigung zur Raketenabwehr und entwickeln einen gemeinsamen Kooperationsmechanismus, oder es beginnt ein neues Wettrüsten, falls wir keine konstruktive Vereinbarung treffen sollten. Dann müssen wir über die Stationierung von neuen Offensivmitteln entscheiden.“

Sollte man diese Worte aus dem Kontext reißen und an die Vergangenheit richten, dann gibt es daran nichts Außergewöhnliches. Jeder Leutnant kennt die offensichtliche Wahrheit: Entweder werden wirksame Abkommen über Vertrauensmaßnahmen getroffen, oder statt Vertrauen entsteht Angstbalance. Man muss einräumen: Dank dieser Balance hat die Welt die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts überlebt. Zu einem Atomkrieg ist es nicht gekommen.

Das Problem ist aber, dass der aktuelle Kontext ein anderer ist. Wenn man über die heutigen Aussagen des russischen Staatschefs zum Thema Außenpolitik nachdenkt, dann ist im Grunde nur eines erkennbar: Es entsteht ein neues System der internationalen Beziehungen, das bislang als „Modernisierungspartnerschaft“ bezeichnet wird.

Das hat aber nichts mit dem Thema Angstbalance zu tun. Das hat auch nicht damit zu tun, ob Moskau oder anderen Staaten eine monopolare Weltordnung gefällt. Es geht auch nicht darum, wer heutzutage Russland mag oder umgekehrt. Es sieht so aus, dass Russlands außenpolitischer Kurs tatsächlich diese Probleme losgeworden ist, die einst für die Interessen sowohl Russlands als auch der ganzen Weltpolitik entscheidend waren.

Russland interessiert sich für etwas ganz anderes: für die „Modernisierungspartnerschaft“ mit Deutschland und Frankreich oder zumindest für das „große Potenzial des Ausbaus der innovativen Kooperation“ mit China, Indien, Brasilien, Südkorea, Singapur, Japan, Kanada, Finnland, Kasachstan, der Ukraine usw. Was aber die USA und die EU allgemein angeht, so sieht Medwedew lediglich „eine große Reserve“, mit der diese Modernisierungsziele erreicht werden könnten.

Zur Raketenabwehr: …Diese Angelegenheit sieht in diesem Zusammenhang als ein kleines und bedauernswertes Hindernis auf dem Weg zur Kooperation aus. Wird eine Raketenabwehr-Vereinbarung mit der Nato erreicht (wofür die Nato selbst plädiert) - dann ist das gut. Sollten sich die Seiten nicht einigen, dann werden sie „neue Offensivsysteme“ stationieren müssen.

Bemerkenswert ist, dass niemand behauptet, diese Systeme wären eine Alternative zur Modernisierungspartnerschaft. Es heißt nur, sie würden stationiert - und nichts weiter. Nur das dafür verschwendete Geld wäre dann zu bedauern.

Warum ist so eine Weltanschauung kein Idealismus, sondern höchstens realistischer Idealismus? Vor allem weil die Beziehungen Russlands zu den USA und dem ganzen Westen schon lange nicht mehr die Weltpolitik als Thema beherrschen. Bei allem Respekt vor den strategischen Offensivwaffen ist der neue, noch nicht ratifizierte russisch-amerikanische START-Vertrag zwar wichtig, aber nicht weltbewegend.

Symbolhaft sind deshalb die Behauptungen der US-Republikaner, diese Vereinbarung mit Moskau wäre der einzige richtige außenpolitische Erfolg von Präsident Barack Obama. Aber auch der neue Abrüstungsvertrag sollte nach ihren Worten nicht überschätzt werden, weil man auch ohne ihn zurecht kommen könnte.

Was dürfte dann als grandios angesehen werden? Die Antwort ist: Grandios ist die absolute Ungewissheit über die jetzige und künftige Weltordnung. Als Beispiel dafür dürfte ein zufällig gefundener Artikel der Zeitschrift „Foreign Policy“ dienen. Solche Artikel gibt es übrigens Dutzende.

Der Verfasser stellt beispielsweise fest, dass die globale Hierarchie kaum noch irgendwo zum Tragen kommt. So hätten die Türkei und Brasilien im Mai dieses Jahres ohne Zutun anderer einen großen Atomdeal mit Iran fast abgewickelt. Dabei sind beide Staaten nicht einmal die Mitglieder des UN-Sicherheitsrates!

Der frühere US-Präsident George Bush Sr. hatte vor mehr als 20 Jahren eine „neue (amerikanische) Weltordnung“ verkündet. Wo ist sie geblieben? Außerdem stellt der Autor fest, dass die G20 kaum nützlich und der UN-Sicherheitsrat kaum effektiv geschweige denn legitim ist.

Wenn jemand in dieser Welt noch zu etwas fähig ist, dann sind das regionale Organisationen wie die Afrikanische Union oder ASEAN, heißt es. Lebenswichtige Entscheidungen werden heutzutage auf internationalen Konferenzen (solchen wie in Davos), während bei Gipfeltreffen der Spitzenpolitiker nur noch inhaltlose Erklärungen abgegeben werden. Die Welt wird von neuem aufgebaut – und zwar von oben nach unten. Wie sie sich letztendlich entwickelt, steht in den Sternen.

Mit dem Autor könnte man sich streiten. Aber allgemein sind die Symptome bekannt.

Doch zurück zum Thema Raketenabwehr. In Moskau vermutet man nicht umsonst, dass sich die ganze Diskussion bei der Raketenabwehr-Kooperation mit der Nato auf die Frage beschränken könnte, wer sich gegen wen wehren soll. Wer kann denn behaupten, dass Iran Raketenangriffe auf Europa führen nicht nur könnte, sondern auch will? Wozu bräuchte man das überhaupt in Teheran?

Die Entwicklung der russisch-westlichen Raketenabwehrbündnisses ist in den kommenden Jahren auch dadurch interessant, ob und wie schnell die Seiten die früheren Ängste und ihren einstigen gegenseitigen Hass loswerden können. Denn die meisten Russen, Amerikaner und Europäer verstehen immer noch nicht, dass die alte Weltordnung der Vergangenheit angehört.

Es gibt nach wie vor Dokumente, die die gleichen strategischen Waffen wie in Zeiten von George Bush Sr. betreffen, obwohl in Zeiten von George Bush Jr. festgestellt wurde, dass Russland und die USA „keine Feinde mehr sind“. Wie soll all der Kram beiseite geschoben werden? Das ist eine interessante Frage. Aber wenn man Medwedew und seiner jüngsten Ansprache an die Föderalversammlung Glauben schenkt, denkt man in Moskau tatsächlich, dass die Vergangenheit endgültig vorbei ist.

Die Meinung des Verfassers muss nicht mit der von RIA Novosti übereinstimmen.

* Aus: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 1. Dezember 2010; http://de.rian.ru



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