Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Aggressiver Akt

Washington beginnt in Rumänien mit der Errichtung eines Raketenschutzschirms. Keine Sicherheitsgarantien für Moskau

Von Knut Mellenthin *

Die NATO hat am Montag mit einem wichtigen Schritt zur Verstärkung der militärischen Einkreisung Rußlands begonnen: In der Nähe der südrumänischen Kleinstadt Caracal, nicht weit von der Grenze zu Bulgarien entfernt, fand der als Staatsakt zelebrierte erste Spatenstich für ein Element des schon seit über zehn Jahren diskutierten und geplanten »Raketenschildes« statt. Dieser soll es längerfristig ermöglichen, Rußlands Atomwaffenpotential »auf null zu reduzieren«, wie Präsident Wladimir Putin es einmal formulierte, indem die USA und ihre Verbündeten sich eine wirksame Raketenabwehr verschaffen. Dadurch würde das seit rund 60 Jahren funktionierende System der gegenseitigen »atomaren Abschreckung« weitgehend ausgeschaltet. Rußland müßte dann, wie Putin bei anderer Gelegenheit drastisch warnte, damit rechnen, Ziel eines nuklearen »Enthauptungsschlags« der USA zu werden.

Dieses Risiko müsse unbedingt in alle Erörterungen und Pläne für die Modernisierung der russischen Streitkräfte einbezogen werden, kündigte Putin im Juni an. Rußland werde keine »Störung des strategischen Kräftegleichgewichts« zulassen, sondern seinerseits »ein hocheffektives System der Luft- und Weltraumverteidigung aufbauen«. Der Anteil neuer Waffen bei den russischen Streitkräften solle in zwei Jahren mindestens 50 Prozent betragen und bis 2020 auf 70 Prozent gesteigert werden.

Beim Dorf Develesu, wo gestern in Gegenwart des stellvertretenden US-Verteidigungsministers James Miller und mehrerer rumänischer Regierungsmitglieder die Bauarbeiten begannen, befindet sich ein Stützpunkt der rumänischen Luftwaffe. Auf dem rund 175 Hektar großen Gelände soll voraussichtlich ab 2015 eine Batterie bodengestützter Abfangraketen vom Typ SM-3 einsatzbereit sein.

Ein anderes Element des »Raketenschilds«, eine Frühwarn-Radaranlage in der Türkei, wurde schon im Januar 2012 in Betrieb genommen. Weitere Bestandteile des »Schutzschirms« sollen in den nächsten Jahren zumindest in Polen, Portugal und Spanien errichtet werden. Planziel ist, daß das gesamte System im Jahr 2020 dienstbereit ist. Als Zwischenschritte wurden Abfangraketen auf Schiffen stationiert, die nach einem Rotationssystem das Mittelmeer befahren.

Die offizielle Legitimationslegende der NATO für diesen Aufwand besagt, daß der »Raketenschild« sich keineswegs gegen Rußland richte, sondern nur gegen sogenannte Schurkenstaaten. Gemeint ist hauptsächlich der Iran, aber Politiker und Militärs der westlichen Allianz schrecken auch nicht davor zurück, Nordkorea in diesem Zusammenhang zu nennen.

Andererseits hat NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen gerade erst vor wenigen Tagen wieder verkündet, daß es durch das geplante Abwehrsystem ab 2018 möglich sein werde, die Bevölkerung der Staaten des Bündnisses »vollständig vor einer Raketengefahr von außen zu schützen«. Er äußerte das bei einem Treffen mit russischen Journalisten, ohne dabei die zwar im Sinne der Schurkenstaaten-Ausrede notwendige, aber sachlich unsinnige Einschränkung zu machen, daß russische Raketen von dem versprochenen Schutz ausgenommen seien. Im übrigen weigert sich die NATO auch, Moskau eine schriftliche, vertragliche Garantie zu geben, daß sich der »Raketenschirm« nicht gegen Rußland richtet. So produziert man Mißtrauen und lähmt Abrüstungsverhandlungen schon im Ansatz.

* Aus: junge Welt, Dienstag, 29. Oktober 2013


Rüsten unter dem Schirm

Von Klaus Joachim Herrmann **

Mit dem ersten Spatenstich für den US-Raketenschutzschirm in Rumänien ist das Pentagon im Plan. Die Wahrscheinlichkeit wächst, dass auf dem Stützpunkt in Deveselu das System Aegis Ashore 2015 in Dienst gestellt werden kann. Namentlich vor Angriffen Irans soll es angeblich Schutz bieten. Jenes Land ist allerdings als interkontinentale Atom-Streitmacht bislang nicht sonderlich hervorgetreten.

Bei Russland sieht das anders aus. Es sitzt ebenfalls nicht unter dem Schirm, sondern genau davor. Die Abwehr wird immer enger um russisches Territorium herum aufgebaut. Da mögen US- und NATO-Militärs mit Engelszungen gemeinsame Sicherheit beschwören, die simpelste Logik zeugt gegen sie. Einer der wichtigsten Bestandteile des bisher annähernden strategischen Gleichgewichtes soll seine Waffen künftig nicht einmal mehr theoretisch ins Ziel bringen können. Damit gerät die gesamte Architektur der Sicherheit ins Wanken. Eigene Sicherheit wird auf Kosten der Sicherheit anderer verbessert.

Kaum zufällig beschwört Moskau inzwischen die Möglichkeit eines »Enthauptungsschlages«, der sogar Kernwaffenmächten drohen könnte. Der Kreml wird sich wappnen wollen. Aber das ist wohl genau der Sinn des Schirmes – Sicherheit für ein Wettrüsten wie einst im Kalten Krieg.

** Aus: neues deutschland, Dienstag, 29. Oktober 2013


USA als Irrläufer

Spatenstich für Raketenabwehrsystem

Von Werner Pirker ***


Der feierliche Spatenstich für die Bauarbeiten zur Herstellung eines US-Raketenabwehrschildes im rumänischen Deveselu erfolgte zu einem Zeitpunkt, an dem sich die amerikanisch-russischen Beziehungen infolge des Arrangements der beiden Länder in der Syrien-Frage spürbar zu entspannen begannen. Das ändert aber offenbar nichts an den Bestrebungen Washingtons, gegenüber dem russischen Rivalen ein strategisches Übergewicht zu erlangen, das es zum nuklearen Erstschlag befähigt und dem Gegner keine Möglichkeit zu einer Reaktion läßt.

Nicht die atomwaffenfreie Welt, wie sie Präsident Obama in Sonntagsreden verkündet, ist Amerikas Vision, sondern die eigene atomare Unverwundbarkeit. Zwar versucht die US-Administration, Moskau glauben zu machen, daß das Raketenabwehrsystem nicht gegen Rußland, sondern in erster Linie gegen die Bedrohung, die sich aus dem iranischen Atomprogramm ergeben könnte, gerichtet sei. Auf die naheliegende Frage aber, warum es dann in an Rußland grenzenden Ländern wie Rumänien und Polen stationiert werde und nicht in der Türkei, aber bleibt sie die Antwort schuldig.

Zur Verbreitung der Illusion, bei dem Antiraketenschirm handle es sich um eine Art multilaterales Projekt, um den Terror und diverse Schurkenstaaten in Schach zu halten, hat Washington Rußland sogar die Zusammenarbeit bei der Schaffung eines Raketenabwehrriegels in Europa angeboten. Doch Garantien dafür abgeben, daß dieses System nicht auf das russische Abschreckungspotential ausgerichtet sei, wollte es nicht. Damit ist klar, daß die amerikanische Raketenabwehr einzig die Aufhebung des strategischen Gleichgewichts zum Ziel hat und damit zum potentiell gefährlichsten aller bisherigen Waffensysteme werden könnte, da es die Hemmschwelle für einen atomaren Angriff drastisch senken würde.

Das Streben nach strategischer Unverwundbarkeit mag auch damit zusammenhängen, daß sich die USA verwundbar wie schon lange nicht mehr präsentieren. Selten noch ist ein Wahlkampfslogan von den Realitäten so blamiert worden wie Obamas »Yes, we can!«-Getöse. Das oligarchische US-Regime befindet sich in einem Zustand der Selbstblockade. Der Rückzug aus dem gescheiterten Bush-Krieg will nicht gelingen. Das neokonservative Establishment und prozionistische Lobbyorganisationen drängen auf neue Kriegsabenteuer. Die Bevölkerung ist der Kriege leid. Der NSA-Abhörskandal hat selbst die treuesten unter den Verbündeten in Aufruhr versetzt. Obama erweist sich zunehmend als Gefangener des mächtigen Sicherheitsapparates und dessen Streben nach totalitärer Herrschaft.

Barack Obama ist als Außenseiter in das Weiße Haus eingezogen und ein solcher geblieben. Die Eliten haben ihn nie akzeptiert. Sein Hang zu opportunistischer Anpassung hat daran nichts geändert. Er repräsentiert eine ins Trudeln geratene Weltmacht. Die als »unverwundbarer« Irrläufer gefährlicher wäre denn je.

*** Aus: junge Welt, Dienstag, 29. Oktober 2013 (Kommentar)


Zurück zur Raketenabwehr-Seite

Zur Rumänien-Seite

Zurück zur Homepage