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"Die wollen sich mal wieder gesundstoßen"

Der einzige Nutznießer eines NATO-Raketenschirms wäre die Rüstungsindustrie – wie schon bei Reagans "Star Wars"-Projekt. Ein Gespräch mit Bernd Biedermann *


Oberst a. D. Bernd Biedermann war bei den Fla-Raketentruppen der DDR-Luftverteidigung, später bei der Militäraufklärung. 1984 bis 1988 war er Militärattaché an der DDR-Botschaft in Brüssel.

Mit Blick auf den NATO-Gipfel in Lissabon tingelt Anders Fogh Rasmussen, Generalsekretär des Bündnisses, zur Zeit durch europäische Hauptstädte, um Reklame für einen NATO-Raketenschirm zu machen. Am Freitag war er in Berlin, u. a. bei der Bundestagsfraktion der Grünen. Ein Raketenschirm ist doch eine defensive Maßnahme – was spräche dagegen?

Dagegen spricht zunächst, daß ein Raketenschirm allein keine Sicherheit für die beteiligten Länder bringt. Man kann kein Dach über ein Haus bauen, wenn die Mauern fehlen: Ohne ein System der Luftverteidigung – also vom Boden oder von Jagdflugzeugen aus –, ist ein solches System militärisch unsinnig.

Aber die NATO hat doch Abfangjäger, Flugabwehrgeschütze, Boden-Luft-Raketen etc. ...

Nützt aber wenig – die NATO-Luftverteidigung in Europa ist auf einem Niveau, das es ihr überhaupt nicht erlaubt, auf Luftangriffe zu reagieren. Sie kann weder Räume noch Sektoren noch Objekte schützen. Die Bundeswehr z. B. hat auf dem gesamten deutschen Territo­rium gerade drei Flugabwehrraketengeschwader. Das ist so gut wie nichts – acht bis zehn wären für eine komplette Abdeckung mindestens nötig.

Und die Zahl der Jagdflugzeuge ist so gering, daß man sie angesichts der Größe des Territoriums vernachlässigen kann – es gibt nur etwa 50 einsatzbereite Eurofighter, das ist die einzige Maschine, die eine ernst zu nehmende Kampfkraft gegen Luftangriffe aufbringen könnte. Die Phantom-Jets entsprechen schon lange nicht mehr den Anforderungen.

Die DDR allein hatte fast 240 reine Jagdflugzeuge, die ausschließlich für die Luftverteidigung gedacht waren. Hinzu kamen drei Fla-Raketen-Brigaden und drei Fla-Raketen-Regimenter der Luftverteidigung des Landes. Im Verbund mit den sowjetischen Streitkräften und der Truppen-Luftabwehr der Landstreitkräfte der NVA war das eine unvorstellbare Verteidigungsdichte, an der jeder NATO-Angriff gescheitert wäre. Aufgrund der offensiven Ausrichtung der 2. und 4. taktischen Luftflotte der NATO war es auch gar nicht anders möglich, den Luftraum der DDR zu schützen.

Wie effektiv Flugabwehrraketen sein können, haben bekanntlich die Vietnamesen bewiesen. Da wurden über 4000 US-Flugzeuge abgeschossen!

Was soll dann so ein Raketenschirm, wenn militärisch nichts dafür spricht?

Das ist ein Projekt des militärisch-industriellen Komplexes, der will sich mal wieder gesundstoßen. Ein solches System wird immer offene Fenster für potentielle Angreifer lassen – und die sind weit genug, um irreparable Schäden zu ermöglichen.

So etwas Ähnliches gab es doch schon, das Star-Wars-Projekt des früheren US-Präsidenten Ronald Reagan. Die Rüstungsindustrie hatte dafür zig Milliarden Dollar kassiert, installiert wurde das System nie. Wird jetzt wieder so eine Nummer abgezogen?

Das ist zu befürchten. Star Wars ist ja nicht gescheitert, weil die Politik plötzlich keine Lust mehr daran hatte, sondern weil es nicht funktionieren konnte. Der neue NATO-Raketenschirm hat aus heutiger Sicht auch keinen erkennbaren Nutzen: Wenn die Luftstreitkräfte eines etwaigen Angreifers stark genug sind, können sie jederzeit Schaden zufügen – ein Raketenschirm allein nützt da nichts.

Die USA sind eifrig dabei, anderen Ländern Raketen anzudrehen. In Polen zum Beispiel sollen Patriot-Raketen stationiert werden – wäre dieses System denn nicht ausreichend, wenn man sich schon gegen eventuelle Überfälle mit Lang- oder Mittelstreckenraketen durch eingebildete Agressoren wehren will?

Patriot ist das am meisten überschätzte Luftverteidigungssystem der Militärgeschichte. Es ist hoffnungslos veraltet und hat trotz Modernisierungen nicht annähernd den Kampfwert der russischen S-300- und S-400-Rakete, die schon seit Jahren existieren.

Patriot-Raketen sind aber schon eingesetzt worden ...

Ja, im Nahost-Krieg Anfang der 90er Jahre. Sie wurden von Israel aus gestartet, um irakische Mittelstreckenraketen abzufangen, die auf dem sowjetischen Modell Scud basierten. Keine einzige davon wurde getroffen. So ganz erfolglos waren die Patriots allerdings nicht – aus Versehen wurden drei US-Kampfflugzeuge runtergeholt. Andere Ergebnisse sind nicht bekannt.

Interview: Peter Wolter

* Aus: junge Welt, 23. Oktober 2010


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