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NATO-Russland: Gemeinsame Terroristen-Jagd, aber keine gemeinsame Raketenabwehr

Ein Beitrag von Andrej Fedjaschin von der Russischen Nachrichtenagentur RIA Novosti *


Der folgende Artikel war bereits im Juni veröffentlicht worden. Anlass war das damalige NATO-Russland-Treffen in Brüssel - das im Übrigen vergebnislos verlief. Wir dokumentieren den Artikel heute, weil die darin angesprochenen grundlegenden Probleme der Raketenabwehr und des Verhältnisses zwischen NATO und Russland weiter bestehen.

Russland-Nato: Raketenabwehr bleibt Streitthema

Von Andrej Fedjaschin, RIA Novosti *

Wie die Gespräche des Russland-Nato-Treffens über die Raketenabwehr enden werden, kann zurzeit niemand voraussagen.

Vor dem Treffen am Mittwoch und Donnerstag (8./9. Juni 2011) in Brüssel sollen gewisse „politische Vorgehensprinzipien“ zum Thema Raketenabwehr formuliert worden sein. Moskau geht es nicht um die Errichtung des Abwehrsystems, sondern um seinen Ausbau gegen 2020, wenn neue strategische Abfangsysteme in Betrieb genommen werden sollen. Sie könnten die russischen strategischen Raketen blockieren.

Missverständnisse trotz gemeinsamer Übung

28 Nato-Verteidigungsminister sind heute in Brüssel zusammengekommen. Gleichzeitig tagt der Russland-Nato-Rat. Das Treffen findet zu einem günstigen Zeitpunkt statt: Vom 6. bis 10. Juni findet die erste in der Geschichte gemeinsame Anti-Terror-Übung „Vigilant Skies 2011“ Russlands und der Nato statt.

Dabei soll die Terroristenjagd über Polen, Russland, den baltischen Ländern und dem Schwarzen Meer trainiert werden - damit sich 9/11-Anschläge nicht mehr wiederholen oder sich kein neuer Matthias Rust findet, der am 28. Mai 1987 in einer Cessna auf dem Roten Platz in Moskau gelandet war. Russische und Nato-Luftüberwachungssysteme werden erstmals gemeinsam zum Einsatz kommen. Das ist sicherlich gut. Bei allem anderen trennen Moskau und das westliche Militärbündnis aber zahlreiche Widersprüche.

Moskau hatte den Amerikanern schon häufig Auswege aus dem Raketenabwehr-Streit angeboten - von der gemeinsamen Nutzung einer Radaranlage im aserbaidschanischen Gabala (Baku stimmte zu) bis zur Behandlung einzelner Details des künftigen Raketenabwehrkomplexes in Europa (egal ob in Rumänien oder Bulgarien, Polen, der Türkei oder anderswo).

Zuletzt forderte Moskau einen Vertrag, in dem festgeschrieben werden soll, dass das Nato-Raketenabwehrsystem niemals gegen russische Raketen eingesetzt wird. Russlands Vizeverteidigungsminister Anatoli Antonow beteuerte sogar, dass der Kreml nichts gegen die Aufstellung der Nato-Raketen hätte, wenn Einschränkungen vertraglich festgehalten werden, die die Zahl, Geschwindigkeit, Stationierungsorte usw. betreffen. Denn zwischen 200 bzw. 300 und 1000 Raketen besteht schon ein erheblicher Unterschied.

Beim Nato-Gipfel im November 2010 in Lissabon schlug der russische Präsident Dmitri Medwedew eine in Sektoren aufgeteilte Raketenabwehr vor. Damit könnte die Allianz Süd- und Westeuropa schützen, während Russland für den Osten des Kontinents zuständig wäre. Bislang hat die Nato noch nicht auf dieses Angebot reagiert.

Alles kommt auf Washington an Offensichtlich ist, dass eine Reaktion aus Washington kommen muss. Denn schließlich stammt die Idee zur europäischen Raketenabwehr von den USA. Bisher bekam Moskau lediglich Beteuerungen zu hören, die Raketen in Europa wären nicht gegen Russland gerichtet. Dabei gab die Nato zu verstehen, dass sie Moskau keine Garantien in diesem Zusammenhang geben muss. In Moskau ist man deshalb beunruhigt.

Das Problem ist, dass dem US-Präsidenten Barack Obama 2012 ein Kampf um seine Wiederwahl bevorsteht. Jegliche Zugeständnisse an Russland wären für ihn sehr ungünstig - Reaktionen seiner politischen Gegner ließen dann nicht lange auf sich warten.

Beim jüngsten G8-Gipfel in Deauville haben sich Medwedew und Obama nicht einigen können. Was 2012 kommt, steht noch in den Sternen. Im Vorfeld von Präsidentenwahlen werden üblicherweise keine großen Fortschritte bei prinzipiellen Fragen erreicht. Zumal es immer noch unklar ist, ob Obama und Medwedew die weiteren Verhandlungen führen werden.

Falls in den USA doch die Republikaner an die Macht kommen, würden sich die Raketenabwehr-Gespräche für Moskau viel schwieriger gestalten. Hardliner und Falken aus dem rechtskonservativen Lager haben bekanntlich eine ganz spezielle Meinung zu diesem Thema.

Für Moskau und Washington ist das in letzter Zeit typisch: Wenn die europäische Raketenabwehr infrage kommt, gerät der „Neustart“- Prozess immer ins Stocken. Dabei verläuft ohnehin nicht alles glatt. Dennoch haben Nato und Moskau gewisse Fortschritte gemacht.

Die gemeinsame Übung der Luftwaffen ist ein Beweis dafür. Zudem sollten die jüngsten Vereinbarungen zu Afghanistan nicht vergessen werden. Allein die Raketenabwehr ist und bleibt ein Stolperstein für Moskau und Brüssel.

Was nützt ein neues Treffen?

Die Situation sollte natürlich nicht dramatisiert werden. Die Raketenabwehr-Debatten haben erst begonnen. Echte Gefahren für Europa, von denen die Allianz immer wieder spricht, sind derzeit nicht vorhanden - egal ob sie aus Iran oder Nordkorea stammen sollten.

Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen hatte im Herbst 2010 in Moskau erklärt, der richtige Zeitpunkt für ein gemeinsames Raketenabwehrsystem wäre noch nicht gekommen. Erst in 30 bzw. 40 Jahren wäre es soweit.

Für Moskau war diese Aussage nicht gerade beruhigend. Russland und die Allianz hatten sich in der Vergangenheit schon häufig brüskiert. Erwähnenswert sind die Beteuerungen aus Brüssel, die Nato würde sich nicht nach Osten erweitern.

Quellen zufolge hat Russlands Nato-Botschafter Dmitri Rogosin von Präsident Medwedew strikte Anweisungen zur bevorstehenden Debatte erhalten. Wie sie verläuft und ob ihre Ergebnisse eingehalten werden, wird sich noch zeigen. Wo es „politische Prinzipien“ statt klarer Vereinbarungen gibt, hat man üblicherweise viel Handlungsspielraum.

Außerdem sollte man nicht vergessen, dass der Russland-Nato-Rat 2002 nur als „Beratungsforum“ für Sicherheitsfragen und als Basis für den Kooperationsausbau ins Leben gerufen wurde.

Die Meinung des Verfassers muss nicht mit der von RIA Novosti übereinstimmen.

* Aus: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 8. Juni 2011; http://de.rian.ru



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