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Die Raketen-Kooperation klemmt

Zusammenarbeit Russland-NATO beim Abwehrsystem mit vielen Fragen

Von Irina Wolkowa, Moskau

Wie NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen am Dienstag (5. Juli) auf einer Pressekonferenz zum Russland-NATO-Rat in Sotschi mitteilte, hätten beide Seiten ihre Bereitschaft bekräftigt, bei einem künftigen Raketenabwehrsystem in Europa zu kooperieren.

Anders Fogh Rasmussen versprühte Optimismus pur, als er gestern Morgen in Sotschi die turnusmäßige Sitzung des Russland-NATO-Rates eröffnete. Das westliche Militärbündnis existiere, um die Sicherheit seiner Mitglieder zu gewährleisten. Dazu gäbe es keinen besseren Weg als gute Beziehungen zu den wichtigsten Nachbarn. Gemeint war vor allem Russland. Beide Seiten, so Rasmussen, hätten einander daher nochmals ihre Bereitschaft zur Kooperation versichert. Auch bei der Stationierung von Teilen der US-amerikanischen Raketenabwehr in Europa, durch die Russland sich bedroht fühlt. Dabei gelte jedoch, dass gute Ergebnisse besser als schnelle seien.

Russland sieht das etwas anders. Der Dialog, klagte Außenminister Sergej Lawrow, komme nicht so schnell voran, wie viele es nach dem Lissabon-Gipfel Ende 2011 gehofft haben. Dort hatte die NATO sich offiziell von der Doktrin des Kalten Krieges verabschiedet, in der Russland als möglicher Kriegsgegner firmierte. Kompliziert, so der Diplomat weiter, gestalte sich vor allem der Dialog zur Raketenabwehr. Lawrow plädierte daher für ein »neues Format strategischer Partnerschaft«: Verzicht auf gegenseitige Abschreckung und Übergang zu Kooperation bei globaler Sicherheit.

Dazu hatte Russland der NATO schon im Juni einen Vertragsentwurf zu Raketenabwehr zukommen lassen, der einen Stationierungsverzicht dort vorsieht, wo Moskau seine Sicherheitsinteressen gefährdet sieht. Ein solches Abkommen ist aus Sicht von Kreml und Außenministerium logische Konsequenz des neuen START-Vertrags zur Begrenzung strategischer Offensivwaffen, in dessen Präambel beide Seiten den Zusammenhang zwischen Angriffs- und Verteidigungswaffen anerkennen.

Angesichts der Tatsache, dass die NATO die definitive Konfiguration ihres globalen Systems auf ihrem Gipfel im Mai 2012 beschließen will, drängt Moskau zu mehr Tempo bei den Verhandlungen zu einem Raketenabwehrvertrag. Wie die Tageszeitung »Kommersant« berichtet, hat Präsident Dmitri Medwedjew NATO-Generalsekretär Rasmussen dazu zwei Varianten angeboten: Schaffung eines einheitlichen Raketenabwehrsystems oder Integration beider Systeme. In diesem Falle besteht Moskau allerdings auf einen Vertrag, mit dem die Allianz sich in juristisch verbindlicher Form verpflichtet, ihre Abfangraketen nicht auf russische Stellungen zu richten.

Sollten Ziel und Zeitrahmen verfehlt werden, so das stets zuverlässig informierte Blatt weiter, sähe Moskau sich gezwungen, ein eigenes System zur Abwehr möglicher Angriffe aus der Luft und aus dem All zu installieren, seine strategischen Raketentruppen an Russlands Westgrenzen aufzustocken und sogar aus dem unter Mühen ausgehandelten START-Abkommen auszusteigen.

Eine neue Runde des Wettrüstens wäre dann unvermeidlich. Zumal Moskau sich im Falle eines Scheiterns der Verhandlungen zu einem Raketenabwehr-Abkommen auch die Kündigung des KSEVertrags zu konventionellen Streitkräften in Europa vorbehält. Moskau hatte ihn 2007 per Moratorium ausgesetzt, weil die NATO-Staaten die 1999 auf der OSZE-Konferenz in Istanbul gemeinsam beschlossenen Anpassungen und Änderungen, die dem Ende des Warschauer Vertrags Rechnung tragen und das dadurch zuungunsten Russlands entstandene Kräfteverhältnis korrigieren sollen, nicht ratifizierten. Nachverhandlungen machte die Allianz von Vorbedingungen abhängig, die für Moskau unannehmbar sind. Dazu gehört vor allem die Anerkennung der Zugehörigkeit Südossetiens und Abchasiens zu Georgien.

* Aus: Neues Deutschland, 5. Juli 2011


Zwischentöne in Sotschi

Von Olaf Standke **

Fortschritte gebe es, der Dialog solle intensiviert werden, man werde auch bei der Raketenabwehr weiter kooperieren – hörte man NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen gestern auf der Pressekonferenz beim Auswärtsspiel in Sotschi, konnte man glauben, nun werde alles gut. Aber schon wenn man den russischen Außenminister Sergej Lawrow aufmerksam verfolgte, wurde deutlich, dass die Differenzen wohl viel tiefer gehen, als der Allianz-Chef bei diesem Russland-NATO-Rat zu suggerieren versuchte. Selbst wenn Moskau ebenfalls seine prinzipielle Bereitschaft zu einer »echten strategischen Partnerschaft« bekräftigte.

Und das betrifft nicht nur den Raketenschild, den beide Seiten laut Beschluss des Lissabonner NATO-Gipfels im Vorjahr gemeinsam in Europa errichten wollen. Doch entwickelten sich gerade diese neuralgischen Verhandlungen besonders langsam und kompliziert, wie Moskau bedauert. Das umstrittene Projekt ist deshalb nicht nur für Lawrow das »offensichtlichste Problem« in den Beziehungen zum Nordatlantik-Pakt. Denn es hat Auswirkungen auch auf andere Felder der Zusammenarbeit, vor allem das abrüstungspolitische. Droht Russland doch bei unzureichender Berücksichtigung seiner Sicherheitsinteressen damit, den gerade erst ratifizierten neuen START-Vertrag zur Reduzierung strategischer Atomwaffen ebenso auf Eis zu legen wie den KSE-Vertrag über die konventionelle Abrüstung. Russlands NATO-Botschafter Dmitri Rogosin geht sogar noch weiter: Er vermisst nach wie vor das notwendige Grundvertrauen in den Beziehungen, wenn die Allianz weiterhin eine gegen Russland gerichtete Kriegsplanung betreibe.

** Aus: Neues Deutschland, 5. Juli 2011 (Kommentar)


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