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Mit angezogener Handbremse

Zähe Verhandlungen zwischen NATO und Russland über eine gemeinsame Raketenabwehr

Von Wolfgang Kötter *

Das Thema Raketenabwehr wird mit auf der Agenda stehen, wenn die Präsidenten Russlands und der USA, Dmitri Medwedjew und Barack Obama am Rande des Gipfeltreffens des Asiatisch-Pazifischen Wirtschaftsforums APEC in Honolulu (12./13. November) zusammentreffen. Zwar laufen bereits seit einem Jahr Verhandlungen darüber, aber diese geraten immer wieder ins Stocken. Moskau kritisiert die NATO-Politik der vollendeten Tatsachen und protestiert gegen die einseitige Stationierungen von Elementen des Raketenschirms in Rumänien, Polen, Spanien und in der Türkei. Sollten sich die Ereignisse weiter so entwickeln, so befürchtet Moskau, könnte die Chance, die Raketenabwehr von der Konfrontation in eine Zusammenarbeit zu verwandeln, verpasst werden. Außenminister Sergej Lawrow spricht sogar von einer „unaufrichtigen“ Haltung Washingtons.

Wenn das Grundvertrauen fehlt ...

Die Obama-Regierung hatte nach Amtsantritt im Jahre 2009 die ursprünglichen provokativen Pläne der Bush-Regierung für die Errichtung eines Anti-Raketenschirms in Osteuropa gestoppt und Moskau ein kooperatives Vorgehen angeboten. Für das in mehreren Phasen bis 2020 zu schaffende alternative System will Washington eng mit der NATO zusammenarbeiten. „Das geplante Raketenabwehr-System der NATO gefährdet auf keine Weise Russland“, verkündet Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen immer wieder: „Wir sehen Russland nicht als Feind an.“ Gerade deshalb biete das Bündnis Russland eine Zusammenarbeit an. Russland und die westliche Militärallianz einigten sich auf ihrem Lissabonner Gipfel im vergangenen Jahr grundsätzlich darauf, ein Raketenabwehrsystem für Europa gemeinsam aufzubauen. Doch es geht nur schleppend voran, weil tiefgehende Differenzen das Projekt bremsen. Russland schlägt eine gleichberechtigte nach Sektoren strukturierte Raketenabwehr vor. Danach soll die NATO ihren Bereich gemäß den europäischen Grenzen und Russland seinen nach den eigenen Grenzen errichten. Der russische Sektor könnte Osteuropa und das Baltikum sowie den europäischen Teil Russlands abdecken. Moskau hat ebenfalls angeregt, die gesamte Konstellation des künftigen Raketenabwehrsystems gemeinsam zu konzipieren. Russland favorisiert einen Vertrag, in dem alle Details des künftigen europäischen Raketenabwehrsystems festgeschrieben wären. Unter anderem geht es um die Zahl und Typen der Abfangraketen, ihre Geschwindigkeit und die Stationierungsorte der Raketen und Radaranlagen sowie die Datenverarbeitungs- und Kommandozentren. Außerdem fordert Russland rechtlich bindende Garantien dafür, dass das Raketenabwehrsystem nicht gegen das russische Atompotenzial gerichtet ist. Die NATO lehnte jedoch zunächst beide Forderungen ab. Sie begründet Ihre Ablehnung damit, dass sie laut Artikel 5 des Bündnisvertrages zur kollektiven Selbstverteidigung der Mitgliedstaaten verpflichtet sei und diese Pflicht nicht an Dritte delegieren dürfe. Doch es sind nicht nur die mehr oder weniger formalen Gründe, die eine Zusammenarbeit behindern. Vielmehr fehlt das notwendige Grundvertrauen und die mentalen Relikte des Kalten Krieges wirken immer noch fort. „Das anhaltende Unverständnis über die Möglichkeiten des zu schaffenden NATO-Raketenabwehrsystems, insbesondere, dass das System angeblich die russischen ballistischen Interkontinentalraketen bedroht und damit die strategische Verteidigungsfähigkeit Russlands unterminiert, ist grundlos“, versichert zwar US-Chefunterhändlerin Rose Gottemoeller. Aber, wie der Präsident des rüstungskritischen Ploughshares Fund, Joseph Cirincione, zur Haltung der russischen Seite zutreffend bemerkt: „Sie glauben uns nicht. Sie glauben uns einfach nicht!“ Dementsprechend warnt Präsidenten Dmitri Medwedjew schon mal, Russland werde neue Offensivwaffen aufstellen müssen, sollte die gemeinsame Raketenabwehr mit der NATO scheitern. Wie tief die russische Unsicherheit über die westlichen Motive sitzt, zeigt ebenfalls die Warnung, man werde eine entstehende Bedrohung für das eigene strategische Raketenarsenal mit der Aufkündigung sowohl des KSE-Vertrages über konventionelle Streitkräfte in Europa als auch des Neu-START-Vertrages über die Reduzierung strategischer Atomwaffen beantworten. Dem für deftige Sprüche bekannten russische NATO-Botschafter Dmitri Rogosin zufolge stecken die Verhandlungen über das US-Raketenabwehrsystem in Europa in einer Sackgasse. Moskau lasse sich „mit den einlullenden Beteuerungen, dass der US-Raketenschild unsere strategischen Interessen nicht gefährde, nicht veräppeln“.

Gemeinsam oder gegeneinander

Russlands Vizeaußenminister Rjabkow schraubt deshalb die Erwartungen an das bevorstehende Spitzentreffen herunter. Er rechne nicht damit, dass eine Vereinbarung unterzeichnet werde. Dabei wäre das durchaus möglich. Wie die Washington Times berichtet, hat das State Department bereits ein unterschriftsreifes Dokument formuliert. Aber die von Moskau geforderte juristische Zusicherung fiel zunächst den innenpolitischen Kontroversen in Washington zum Opfer und Präsident Obama verweigert mit Rücksicht auf die republikanischen Kritiker im Kongress seine Zustimmung. Immerhin scheint die NATO nun einzulenken. Das Bündnis schließt laut dem für Sicherheitspolitik zuständigen beigeordneten Generalsekretär Dirk Brengelmann nicht mehr aus, dass ein Dokument zustande kommen könnte, das die Nichtausrichtung der europäischen Raketenabwehr gegen Russland garantiert: „Ich glaube, dass es eine Möglichkeit geben wird, in letzter Konsequenz eine Erklärung zwischen der NATO und Russland über die politischen Garantien abzugeben, die dieser Besorgnis Rechnung tragen würden“, versicherte Brengelmann gegenüber dem Radiosender Echo Moskwy. Auch aus Washington kommen überraschend versöhnliche Signale. „Wir haben den Russen unsere technischen Argumente vorgelegt und ihnen auch angeboten, an unseren Flugtests teilzunehmen. Sie können auch mit ihren Systemen alles messen und eine Bestätigung dafür erhalten, dass unsere Abfangraketen beim Kampf gegen regionale Raketendrohungen effektiv und gegen strategische Kräfte wirkungslos sind“, versichert Raketenabwehrchef Generalleutnant Patrick O’Reilly. US-Vizeaußenministerin Ellen Tauscher räumt nach ihrem kürzlichen Moskaubesuch ein: „Wir sind bereit, den Fakt schriftlich zu fixieren, dass das Raketenabwehrsystem nicht gegen Russland gerichtet ist“. Die juristisch verbindlichen Garantien, die Moskau fordert, könne Washington aber nicht geben. Doch auch die jüngste Einladung russischer Militärexperten zu Erprobungen von Abfangraketen durch die USA kann aus Moskauer Sicht eine rechtsverbindliche Nichtangriffserklärung nicht ersetzen,

Für alle Fälle entwickelt Russland einen Plan B, sollten die Verhandlungen fehlschlagen. Im Zentrum steht die simple Erkenntnis, dass die effektivste Antwort auf eine gegnerische Raketenabwehr darin besteht, das eigene Arsenal von Offensivraketen auszubauen. In den kommenden Jahren wird Russland rund 80 Mrd. Rubel in die Serienproduktion von Raketensystemen investieren, um das Rüstungsgleichgewicht mit den USA zu halten. Außerdem wird bis Jahresende ein einheitliches Kommando für ein integriertes Luft- und Weltraumabwehrsystem geschaffen, das alle Aufgaben der Luft- und Weltraumabwehr wie Warnung, Aufspüren und Vernichten, aber auch den Schutz von Objekten vereinen wird. Zusätzlich sollen die bodengestützten Abwehrsysteme durch see- und luftgestützte Komponenten ergänzt werden. Die ersten auf Flugzeugen zu stationierenden Raketenabwehrwaffen befinden sich bereits im Entwicklungsstadium. Solange also keine Übereinkunft erzielt ist, bleiben beide Alternativen möglich: Einigung oder Aufrüstung. Angesichts der komplizierten Gemengelage ist allerdings ein schnelles Ende der Verhandlungen nicht zu erwarten. “Ich glaube nicht, dass Russland und die USA es schaffen werden, bis zum Ende der Amtszeit von Präsident Obama Konsens über dieses Problem zu erreichen“, zweifelt Washingtons Botschafter in Moskau John Beyrle. Ob es also auf dem nächsten NATO-Gipfel in Chicago im kommenden Mai den von Generalsekretär Rasmussen erwarteten Kompromiss geben wird, erscheint eher unwahrscheinlich.

Der Schild

In der ersten Phase werden gegenwärtig US-Kriegsschiffe mit SM-3-Abfangraketen und Aegis-Lenkwaffensystemen ausgerüstet, um in den grenznahen Meeren Europas zu kreuzen. Zur Abwehr von Mittel- und Kurzstreckenraketen sollen außerdem mobile Radarsysteme und bodengestützte Anti-Raketen-Raketen vom Typ THAAD (Terminal High Altitude Area Defense) sowie Patriot-PAC-3-Lenkflugkörper (Patriot Advanced Capability) dienen. Anschließend sollen in der zweiten Phase etwa ab dem Jahr 2015 24 SM-3-Raketen auf einem ehemaligen Luftwaffenstützpunkt im südrumänischen Deveselu und in der dritten Phase ab 2018 derartige Raketen in Polen und möglicherweise auch Anlagen vor der arktischen Küste Russlands stationiert werden, um Kurz- und Mittelstreckenwaffen abzuwehren. Ebenfalls bis 2018 wird die neue, größere Rakete Typ SM-3 Block IIIB entwickelt und getestet. Sie soll in der vierten Phase bis 2020 stationiert werden, um dann auch die auf die USA und Europa zielenden Langstreckenraketen wirksam bekämpfen zu können.

Der Neu-START-Vertrag (New Strategic Arms Reduction Treaty) wurde 2010 unterzeichnet und trat ein Jahr später in Kraft. Er begrenzt die Zahl strategisch-nuklearer Trägersysteme (Interkontinentalraketen, U-Boot gestützte Langstreckenraketen und Langstreckenbomber) beider Vertragsparteien auf je 800 Systeme, von denen 700 aktiv sein dürfen und die Zahl der anrechenbar stationierten Sprengköpfe auf je 1.550. Sieben Jahre nach Inkrafttreten des neuen Start-Vertrages müssen diese Zahlen erreicht sein. Der Vertrag bleibt zehn Jahre gültig, wobei eine Verlängerung um fünf weitere Jahre möglich ist.

Der KSE-Vertrag wurde 1990 zwischen den NATO- und den Warschauer-Pakt-Staaten abgeschlossen. Neben Obergrenzen für verschiedene Subregionen legt er fest, dass kein Staat über mehr als ein Drittel der Waffensysteme in einer Region verfügen darf. Der Vertrag sieht Verifikationsprozeduren mit detailliertem Informationsaustausch und Vor-Ort-Inspektionen vor. Nach Auflösung des Warschauer Paktes und der Sowjetunion wurden die je zulässigen Obergrenzen auf die einzelnen Staaten aufgeteilt. Nach der Erweiterung der NATO um Polen, Tschechien und Ungarn wurde 1992 die „abschließende Akte“ durch die NATO-Staaten und frühere Mitglieder des Warschauer Pakts unterzeichnet. Das so genannte KSE-1A-Abkommen legt Personalobergrenzen für die nationalen Streitkräfte fest.

In 1999 unterzeichneten die Vertragsstaaten den entsprechend den neuen Verhältnissen adaptierten KSE-Vertrag (AKSE-Abkommen). Dieses weist die zulässigen Obergrenzen für die jeweilige Waffenart den einzelnen Staaten zu. Die Sowjetnachfolgestaaten haben den neuen Vertrag inzwischen ratifiziert. Die NATO aber zögert und begründet dies mit der Anwesenheit russischer Truppen in Georgien und Moldawien, deren Abzug versprochen worden war. Moskau drängt schon seit längerem auf Verhandlungen über eine erneute Überarbeitung des AKSE-Vertrages, um ihn an die nachfolgenden NATO-Erweiterungen anzupassen.



* Dieser Beitrag erschien - gekürzt - im neuen deutschland vom 10. November 2011


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