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Verhöre auf hoher See

Marine nutzte Gefangenschaft von "Piraten" zur Informationsgewinnung. Prozeß gegen zehn Somalis in Hamburg

Von Anita Friedetzky, Hamburg *

Auf der einen Seite steht die sich konsolidierende Militärmacht Europa, die mit ihrer Mission »Atalanta« (EU NAVFOR – European Unions Navy Force – Somalia) vor der von Lebensmittelkonzernen leergefischten Küste Somalias seit 2008 Jagd auf »Piraten« macht. Offiziell schützt sie humanitäre Hilfstransporte und sammelt »militärische Informationen«.

Auf der anderen Seite stehen zehn Männer, darunter halbe Kinder, die in dem seit Jahren vom Bürgerkrieg beherrschten Somalia keine Existenzmöglichkeit als Fischer oder mit einem anderen Job haben. Dennoch müssen sie sich und ihre Familien mit irgend etwas über Wasser halten. Das sind die Koordinaten, innerhalb derer der erste »Piratenprozeß« der Bundesrepublik vorm Landgericht Hamburg als »Jugendverkehrsstrafsache« seit November 2010 abläuft.

Laut Anklage und bisherigen Zeugenaussagen sollen die zehn Somalis am 5. April 2010 mit zwei kleinen Booten und bewaffnet das deutsche Containerschiff »Taipan« gekapert und die 15köpfige Besatzung, die sich im »Saferoom« versteckt hatte, als Geiseln genommen haben. Die niederländische Kriegsfregatte »Tromp« sei dem Handelsschiff, das mit »unbekannter Fracht« von Haifa nach Mombasa unterwegs gewesen sei, daraufhin »zu Hilfe gekommen«, obwohl es sich außerhalb seines Einsatzgebietes befand. Es habe die vermeintlichen Piraten festgesetzt und nach Dschibuti gebracht. Alles immer in Absprache mit der Atalanta-Einsatzzentrale und der niederländischen wie deutschen Staatsanwaltschaft.

Am vergangenen Mittwoch (9. März) sagte der niederländische Marineoffizier Paul Richard de Wind, der an Bord der »Tromp« zuständig für die Befragung der Verdächtigen war, vor dem Landgericht aus. Einer der Angeklagten habe bei seiner Vernehmung noch auf hoher See »bereut« und umfangreiche Angaben über die »Führungssituation an Land« gemacht, sagte de Wind zur großen Überraschung der Anwesenden. In den Prozeßakten sei dies nicht enthalten, weil es geheim sei. Die deutsche Staatsanwaltschaft habe der Vernehmung, um »verwendbare militärische Informationen zu erhalten«, damals zugestimmt, aber darauf bestanden, daß die Aussage »for netherland eyes only« sein müsse. Der Bericht des »Piraten« sei dem niederländischen Geheimdienst übergeben worden. Für den Vorfall auf der »Taipan« sei leider nichts Verwendbares dabeigewesen, sagte de Wind aus.

Insgesamt, so de Wind, seien im Verlauf der Mission 86 Verdächtige an Bord der »Tromp« gewesen. Bei den Befragungen seien sie immer »auf das Recht, freiwillige Erklärungen abzugeben« und auf alle anderen Rechte hingewiesen worden. Sie seien auch freiwillig zu den Vernehmungen gekommen – allerdings in Handfesseln von Wachleuten herbeigeführt. Manchmal hätte die zuständige Wache sie an den Stuhl fesseln müssen, weil sie »einen Hungerstreik gemacht oder die Wache mit Essen beworfen oder angespuckt« hätten, aber sie seien immer »mit Respekt behandelt worden«.

Auf die Frage des Richters, ob es stimme, daß einer der Angeklagten bei der Befragung nackt an den Stuhl gefesselt worden sei, meinte de Wind, das sei »absolut niemals passiert«. Einer der vermeintlichen Piraten hatte sich aus Angst von der »Tromp« ins Meer gestürzt, war aber wieder an Bord geholt worden.

Neben der Frage der Verwertbarkeit der Vernehmungen durch die niederländische Marine – weshalb de Wind noch ein weiteres Mal als Zeuge geladen werden soll – sind noch eine Reihe weiterer Fragen ungeklärt. Widersprüchliche Aussagen gibt es beispielsweise bezüglich des Angriffspotentials und des Einsatzes von Waffen durch die »Piraten«. Die Staatsanwaltschaft und vor allem ein ukrainisches Mannschaftsmitglied der »Tromp« bezichtigen die Angeklagten des versuchten Mordes, während der deutsche Kapitän der »Taipan« aussagte, er habe sich nicht lebensbedrohlich angegriffen gefühlt.

Es soll auch noch ein Sachverständiger zur Beurteilung der Situation in Somalia hinzugezogen werden, unter anderem weil sämtliche Dokumente, die die Angeklagten insbesondere zum Beleg ihrer Altersangaben vorlegten, bislang vom Gericht als »in ihrer Echtheit nicht überprüfbar« abgelehnt wurden. Eine reguläre Zusammenarbeit mit somalischen Behörden sei nicht möglich, weil sie schlicht nicht funktionsfähig seien. Der vom Gericht vorgeschlagene Experte ist Professor an der Führungsakademie der Bundeswehr. Das kritisierte Rechtsanwältin Gabriele Heinecke und schlug statt dessen einen Sachverständigen vom Institut für Frieden und Konfliktforschung vor.

Der Prozeß wird am 21. März fortgesetzt und dauert voraussichtlich sehr viel länger als geplant. Ursprünglich war ein Urteilsspruch für Mai angekündigt.

* Aus: junge Welt, 14. März 2011


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