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Piratenabwehr: Suchen, fangen – laufen lassen

Die Befreiung des Tankers "Moscow University" hat Hoffnungen geweckt, die sich nicht erfüllen

Von René Heilig *

Eine Woche noch braucht die deutsche Fregatte »Schleswig Holstein« bis zum Einsatzgebiet vor Somalia. Sie löst die »Emden« ab und kommt doch zu spät, um den deutschen Chemietanker »Marida Marguerite« zu schützen. Der ist am Wochenende vor der Küste von Oman entführt worden.

Vor knapp einer Woche hatten sich Piraten einen anderen, einen ganz dicken, einen zu dicken Brocken vorgenommen. Sie kaperten nahe der zum Jemen gehörenden Inselgruppe Sokotra im westlichen Teil des Indischen Ozeans die »Moscow University«. Der Tanker war bemannt mit 23 russischen Seeleuten und hatte 86 000 Tonnen Rohöl an Bord. Doch die Besatzung konnte die Motoren stilllegen und sich – wie die 22 Seeleute der »Marida Marguerite« – verbarrikadieren.

Den »Universitätspiraten« blieb nicht lange Zeit, um zu überlegen, wie sie das Beutestück gänzlich unter Kontrolle bekommen. Unerwartet tauchte das U-Boot-Jagdschiff »Marschall Schaposchnikow« auf. Dann dauerte alles nur noch 22 Minuten. Drei Kommandos von jeweils sechs bis acht Mann russischer Marineinfanterie jagten mit Speedbooten auf den Tanker zu. Der Zerstörer gab Feuerschutz, um 5.35 Uhr Moskauer Zeit waren Schiff und Mannschaft frei, rapportieren der Kommandeur des russischen Schiffsverbandes im Golf von Aden, Ildar Achmetow. Verluste? Ja. Ein Pirat wurde erschossen.

Die Verantwortlichen der russischen Marineführung schöpften Hoffnung. So ein Coup würde sicher dafür sorgen, dass die Teilstreitkraft mehr Geld bekommt, um die von Moskau gewünschte globale Präsenz der Marine zu ermöglichen. Das Kalkül ging nicht auf, Russlands Generalstabschef verkündete am Freitag die pekuniär abschlägige Kreml-Entscheidung.

Hoffnungen hatten auch die für die EU-Piratenjagd-Aktion »Atalanta« Verantwortlichen, als Wladimir Markin, Sprecher der russischen Generalstaatsanwaltschaft, mitteilte, man treffe Maßnahmen, um die Piraten nach Moskau zu bringen. Bislang hat man gefangene Seeräuber, so man sie im EU- oder NATO-Patrouillenbereich erwischte, einfach ausgesetzt. Einige lieferte man an Kenia aus. Nairobi hat bisher über 130 somalische Seeräuber inhaftiert, kündigte aber vergangene Woche das Kooperationsabkommen mit der EU auf. Auch das Gefängnis der Seychellen ist überfüllt. Keine Chance auf Abschreckung durch harte Urteile.

Bereits Ende März mussten ein US-Kriegsschiff mit fünf Piraten an Bord sowie eine italienische Fregatte mit drei Arrestanten und einem toten Seeräuber den kenianischen Hafen Mombasa unverrichteter Dinge wieder verlassen. Begründung der Kenianer: Ihre Justiz sei überlastet, die Gefängnisse seien überfüllt, zudem hätten die Europäer ihre finanziellen Zusagen nicht erfüllt. Dazu kam, dass die USA vor einigen Monaten ein Einreiseverbot gegen den kenianischen Generalstaatsanwalt verhängten. Begründung? Korruptionsverdacht! Natürlich sank da die Bereitschaft, in Lohnarbeit Piraten abzuurteilen.

Nun hieß es plötzlich aus Moskau, man wolle die Angreifer der »Moscow University« im »Rahmen des russischen Strafprozess- und des Völkerrechts zur Verantwortung zu ziehen«. Eine mögliche 15-jährige Haftstrafe in einem russischen Knast hätte gewiss eine abschreckende Wirkung. Doch die Freude in Brüssel und Berlin dauerte nicht lange. Justizsprecher Markin bekam eine andere Order und ruderte zurück: »Die Ermittlungen gegen die Festgenommenen laufen vor Ort. Ihre Überführung nach Moskau steht vorerst nicht auf der Tagesordnung.« Und am Freitag wurde es definitiv: »Leider gibt es zurzeit keine rechtlichen Richtlinien für eine gerichtliche Belangung somalischer Piraten. Kein Staat ist für sie juristisch zuständig«, teilte diesmal das russische Verteidigungsministerium mit. Man habe die zehn Entführer ohne Waffen und Navigationsgeräte in ein Boot gesetzt und ziehen lassen.

Diesen Ermessensspielraum wünschte man sich auch im Kanzleramt. Die niederländische Marine hatte am 5. April einen Piratenüberfall auf die »Taipan« rund 900 Kilometer östlich der somalischen Küste auf ähnliche Art beendet wie die russische Marine die Kaperung der »Moscow University«. Zehn somalische Piraten wurden verhaftet und in die Niederlande geflogen. Die Hamburger Staatsanwaltschaft möchte Anklage erheben und die Niederlande möchten die Seeräuber los werden. Doch die Verdächtigen haben Widerspruch gegen die Auslieferungsanträge der Bundesrepublik eingelegt.

Übrigens: Piraterie gibt es nicht nur vor Somalia, sondern sogar in der Ostsee. Nach der spektakulären Entführung, der Odyssee und der Befreiung des finnisch-russischen Frachters »Arctic Sea« durch russische Marinekräfte hat ein russisches Gericht am Freitag den ersten der damals gefassten acht Seeräuber zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Ohne dass die Öffentlichkeit je erfahren hat, was damals wirklich vorgefallen ist.

* Aus: Neues Deutschland, 10. Mai 2010


Öltanker befreit: Mehr Härte zeigen gegen Piraten

Von Ilja Kramnik **

In der Nacht zum Donnerstag (5. Mai) hat das russische Kriegsschiff „Marschall Schaposchnikow" einen Tanker aus den Fängen der Piraten befreit.

Der Tanker „Moscow University" der Reederei Novoship, der mit 23 russischen Seeleuten und 86 000 Tonnen Rohöl nach China unterwegs war, war am Vortag gekapert worden. Das russische U-Boot-Jagdschiff „Marschall Schaposchnikow" gehört zu den Schiffen, die für die Sicherheit der Schifffahrt im Golf von Aden sorgen.

Die Piraten schlugen am frühen Mittwochmorgen (4. Mai) zu. Die Schiffsbesatzung meldete, dass sich Schnellboote mit Bewaffneten an Bord dem Schiff annähern. Danach brach der Funkkontakt ab. Es stellte sich heraus, dass der Besatzung während der Kaperung es gelang, sich in einem Innenraum zu verschanzen. Außerdem schalteten sie die Motoren und die Steuerung des Schiffs ab.

Die Piraten verkündeten, das Schiff gekapert zu haben, und warnten, dass bei einem Befreiungsversuch die Seeleute in Lebensgefahr schweben würde. Allerdings konnten sie weder die Besatzung in ihre Gewalt bekommen noch den Tanker von der Stelle bewegen.

In der Zwischenzeit legte das russische Kriegsschiff mehr als 300 Meilen zurück und befand sich in Sichtweite des Tankers. Als die russische Marine sich davon überzeugen konnte, dass die Besatzung sich nicht in den Händen der Piraten befindet und dass Schiff unmanövrierfähig ist, wurde die Erstürmung des Tankers vorbereitet.

Die russischen Marineinfanteristen hatten vor Beginn des Einsatzes in den gefährlichen Gewässern ein Sondertraining und mehrere Übungen zur Befreiung von Schiffen absolviert. Deswegen verlief die Operation schnell und ohne Zwischenfälle. Die Marinesoldaten griffen das Schiff mit Schnellbooten an und entwaffneten die Piraten. Dabei wurde einer der Seeräuber getötet. Bei der riskanten Aktion wurden weder russische Soldaten noch Besatzungsmitglieder verletzt.

Die russische Staatsanwaltschaft leitete ein Strafverfahren nach Artikel 227 des russischen Strafgesetzbuchs („Piraterie") ein. Unklarheit herrschte nach der Befreiungsaktion, ob die gefangengenommenen Freibeuter in Moskau vor Gericht gestellt werden sollen. Russland ließ sie schließlich ziehen.

Doch der Zwischenfall rückt die juristischen Aspekte des Anti-Piraten-Kampfes in den Blickpunkt. Außerdem erheben sich Fragen nach der Effizienz der Piratenbekämpfung.

Der Artikel 227 des russischen Strafgesetzbuches ("Piraterie") sieht bis zu 15 Jahre Gefängnis vor. Allerdings muss eingeräumt werden, dass die Haftstrafe in einer russischen Strafkolonie mit der Möglichkeit der vorzeitigen Freilassung auf Bewährung gegenüber einem freien Leben in Somalia wie ein Urlaub aussieht. Ganz zu schweigen von den Gefängnissen in der Europäischen Union. Viele Piraten wünschen sich nichts sehnlicher, als in den Knast kommen, weil sie nach der Haftstrafe in der EU zu bleiben hoffen.

Das Kurioseste an dieser Sache ist, dass es den Piraten schwerer ergangen wäre, wenn sie vor Beginn eines Strafverfahrens in Russland gefangen genommen wären. In diesem Fall wären sie höchstwahrscheinlich an Jemen ausgeliefert worden. Dort werden die Piraten, die mit eindeutigen Beweisen (Waffen) ihrer Straftaten auf der See gefangen werden, in der Regel ohne ausschweifende Formalitäten an den Galgen geschickt.

Die russischen und anderen Militärs haben nichts anderes zu tun, als das Kapern von Schiffen zu verhindern. Das endet nicht immer erfolgreich wie dieses Mal. Es handelt sich um einen Kampf gegen die Symptome, doch nicht gegen die Krankheit. Die Piraterie bleibt ein lukratives Geschäft. Die Seeräuber nehmen permanent neue Schiffe und Seeleute gefangen und verlangen dafür Lösegeld.

Dieser Sachverhalt steht im scharfen Kontrast mit einer Situation, deren Anlass weitaus unbedeutender war: der Ausbruch des Vulkans Eyjafjallajökull in Island. Eine Gefahr, die sich als viel weniger realistisch herausstellte als viele dachten, verursachte Panik und ein sofortiges Flugverbot in vielen europäischen Ländern. Der Grund für so ein Verbot liegt auf der Hand: 90 Prozent der Fluggäste, die über Europa fliegen, sind EU-Bürger. Falls es zu vielen Toten gekommen wäre, selbst wenn es sich um höhere Gewalt handelt, hätten ernsthafte politische Konsequenzen gedroht.

Vor diesem Hintergrund sind die Angriffe der Piraten auf die Handelsschiffe für die europäischen Politiker kein Thema. Die Besatzungen der Schiffe stammen aus Dritte-Welt-Ländern oder nicht sonderlich reichen Ländern Europas wie Griechenland oder Rumänien, oder aus größeren Ländern, die nicht der EU angehören wie die Ukraine, Russland oder Indien.

Gleichzeitig ist das Ausmaß der Piraterie nicht so groß, um der Wirtschaft einen Schrecken einzujagen. Letzten Endes müssen sich die zivilen Seeleute auf die Marineschiffe, die die Schifffahrt in der Region nicht überall überwachen können, und auf den Zufall verlassen.

So eine Situation rückt das Thema Kooperation in der Anti-Piraten-Allianz in den Fokus. Das Problem entsteht nicht nur unmittelbar beim Patrouillen vor Somalias Küste, sondern auch auf Justizebene. Die Bekämpfung der Piraterie muss nach Einheitsregeln geführt werden, das Schicksal der Piraten darf sich nicht danach unterscheiden, welches Land sie gefangen genommen hat.

Ein möglicher Ausweg wäre ein neues internationales Gesetz, das die Strafen für jeweilige Verbrechen sowie die Prozessordnung und die Vollstreckungsart festlegt. Dabei muss beachtet werden, dass eine Haftstrafe in einem EU-Gefängnis die somalischen Piraten kaum in Angst versetzen wird: Dort sind sie zumindest nicht von Hunger und ständiger Todesangst wie in dem vom Bürgerkrieg erschütterten Somalia bedroht.

Doch es ist unmöglich, allein durch die Verschärfung der Strafen ein Ergebnis zu erreichen. Ein erfolgreicher Kampf gegen die Piraten muss auf drei Dingen beruhen. Erstens auf der Normalisierung der Zustände in Somalia. Zweitens auf militärischen Operationen gegen die Piratenstützpunkte an der Küste. Drittens auf der kompromisslosen Zerschlagung der finanziellen Infrastruktur der kriminellen Banden, die sich durch die Aktionen eine goldene Nase verdienen. Das alles wurde bereits mehrmals gesagt. Dabei soll die Piraterie ebenso wie die Begünstigung dieses Geschäfts wieder, wie vor Jahrhunderten, lebensgefährlich werden.

Doch es ist leider offensichtlich, dass die neue Mentalität in den EU-Ländern nicht dazu führen wird, sich an den eigenen Kampf gegen die Piraten im 17. bis 19. Jahrhundert zu erinnern. Damals wurden die gefangenen Korsaren größtenteils über Bord geworfen. In Einzelfällen wurden sie an Land gebracht, wo ein Gericht und ein Galgen auf sie wartete.

Vielleicht wäre es für Russland ein Ausweg, mit den USA, China oder mit den arabischen Ländern zu kooperieren. In diesen Ländern hat die Würdigung des Menschenlebens noch nicht ins Absurde geführt, das eine gerechte Vergeltung für Verbrechen ausschließt.

Die Meinung des Verfassers muss nicht mit der von RIA Novosti übereinstimmen.

** Aus: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 7. Mai 2010; http://de.rian.ru


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