Jüdische Piraten: Am Sabbat floss kein Rum
Mit Gebetsriemen und Kippa durch die Karibik: Die Geschichte der jüdischen Piraterie ist auch eine Geschichte des Widerstands gegen Spanien
Von Hans-Ulrich Dillmann *
Der Sabbat war ihm heilig. Niemals, so bekannte Moses Cohen Henriques
später, habe er an diesem Tage Beute gemacht. Henriques, der in die
Annalen der Geschichtsschreiber des 17. Jahrhunderts einging, war einer
der bekanntesten Piraten in der Karibik - und er war Jude. Mit seinem
Korsarenschiff kreuzte er vor den Küsten der Neuen Welt, die Kolumbus
für die spanische Krone erobert hatte, um deren Karavellen aufzulauern
und sie auszurauben.
1628 gelang Henriques in den Gewässern von Kuba ein spektakulärer
Überfall auf ein Schiff der spanischen Silberflotte. Nach heutiger
Rechnung betrug die Beute über eine Milliarde Franken. Vergeblich
versuchte Spanien, «El pirata Moisés» zu ergreifen. Auch in fünfzehn
weiteren Ländern gehörte er damals zu den meist gesuchten Männern.
Nur einmal geriet Henriques mit seinem Judentum in Konflikt, bei einem
Ritual, dem sich die Freibeuter des Meeres unterziehen mussten. Henry
Morgan, der berühmte Piratenchef, der das Kommando in der heimlichen
Hauptstadt der Piraten, der jamaikanischen Hafenstadt Port Royal,
führte, wollte Henriques auf den Piratenbund vereidigen. Alle Mitglieder
mussten auf die christliche Bibel schwören. Henriques weigerte sich
wegen des darin enthaltenen Neuen Testamentes. Auch seine Hand beim
Schwur auf gekreuzte Knochen und einen Totenschädel zu legen, lehnte der
jüdische Korsar ab: Ein Cohen darf doch nicht mit einem toten Körper in
Verbindung kommen! Aber Piratenherrscher Morgan, der später für die
britische Krone Jamaika verwaltete, wusste Rat. Auf einer Kanone
sitzend, gelobte Henriques symbolträchtig, der «Bruderschaft der Küste»
treu zu dienen und die Interessen der Freibeuter auch mit seinem Leben
zu verteidigen.
Den Piraten auf der Spur
«Es gab nicht wenige Piraten, die Juden waren oder jüdische Vorfahren
hatten», sagt Ed Kritzler. Der New Yorker Journalist lebt seit Jahren
auf Jamaika. «Nur reden wollen viele nicht darüber. Manche haben Angst,
dem bereits existierenden Klischee über die Juden ein weiteres
hinzuzufügen. Anderen ist die Geschichte peinlich.» Kritzler lacht über
solche Zurückhaltung - dafür findet er das Thema viel zu spannend. Die
Juden einmal nicht als Opfer, sondern als raufende, hurende und saufende
Räuber, die hart am Wind die türkisblaue See zwischen Florida, dem
zentralamerikanischen und dem lateinamerikanischen Festland sowie den
Antilleninseln ober- und unterhalb des Windes auf der Suche nach
lukrativer Beute durchkreuzten - und über allen Masten wehte die
schwarze Fahne mit den gekreuzten Knochen und dem Totenkopf.
Seit Jahren schon beschäftigt sich Kritzler, der zuvor über Jahrzehnte
in einer PR-Agentur die Reggaeinsel als Ferienparadies angepriesen hat,
mit Piraten. «Natürlich habe ich als Kind auch von Piraten geschwärmt.»
Aber erst in den letzten Jahren, nachdem er seinen Job aufgegeben und
sich in Jamaika in der tiefsten Provinz - «in the bush», wie er sagt -
niedergelassen hatte, begann er, sich systematisch mit dem Thema zu
befassen. «Mir ist zugutegekommen, dass dank der Piratenfilme mit Johnny
Depp auch Verleger Interesse an einem Buch über jüdische Piraten fanden.»
Ein Rabbinerpirat
Wer in den Archiven sucht, findet, wie Kritzler versichert, unzählige
Dokumente über jüdische Freibeuter: Anscheinend konnte man in Marokko
als Rabbiner nicht genug Geld verdienen. Der Niederländer Samuel Palache
gab seine Stelle in der Synagoge auf, um ein Piratenschiff im Mittelmeer
zu kommandieren. Mal kreuzte der Rabbi-Pirat Ende des 16. Jahrhunderts
in der Meerenge von Gibraltar, ein anderes Mal lauerte er mit seiner
Bande Frachtseglern auf, die reiche Ware aus dem Nahen Osten nach
Italien liefern wollten. Auch Sinan, «der Grosse Jude», tummelte sich
mit seinen Mannen im späten 15., frühen 16. Jahrhundert im
Mittelmeerraum. Sie überfielen mit List, Tücke und wenn notwendig mit
roher Gewalt Kaufmannsschiffe mit lukrativer Fracht. Schiffe mit
wertvollen Gütern waren im 16. und 17. Jahrhundert in den
Küstengewässern Chiles nicht sicher. Hier war das Beutegebiet von
Suboltol Deul und seinen Mannen.
Eine richtige Berühmtheit ist Jean-Marie Lafitte. Die chilenische
Schriftstellerin Isabel Allende hat ihm mit ihrem Zorro-Buch posthum ein
Denkmal gesetzt. Lafitte, der bei der Schlacht von New Orleans half, die
spanische Armada entscheidend zu schlagen, verdiente über Jahrzehnte
seinen Unterhalt mit Überfällen auf Schiffe. Er wird heute noch immer
als US-amerikanischer Freiheitsheld verehrt. Der 1776 oder 1782 geborene
französische Korsar begründete seine Raubzüge gegen Spaniens Flotte mit
seinen jüdischen Vorfahren: «Meine jüdisch-spanische Grossmutter, eine
Zeugin aus der Zeit der Inquisition, beflügelte meinen Hass auf die
spanische Krone.»
Roberto Cofresí, Sohn eines nach Puerto Rico ausgewanderten
italienischen Juden, wurde als einer der letzten Piraten am 27. März
1825 in der Festung von San Juan hingerichtet - seine soziale
Einstellung, den Reichen zu nehmen und den Armen zu geben, hat Roberto
Cofresí Ramírez de Arellano den Namen «Robin Hood der Karibik»
eingebracht. In Puerto Rico wird der Freibeuter sogar mit einem Denkmal
geehrt. Und noch heute wird über die reiche Beute gemunkelt, die Cofresí
in Höhlen in der Dominikanischen Republik verbuddelt haben soll.
Gefunden wurde das Versteck allerdings bis jetzt nicht.
Rache an Spanien
Die Geschichte der jüdischen Piraten ist «eine Geschichte des
Widerstands gegen die Spanier - eine Art Rache für die Vertreibung aus
dem Sefarad» (dem Land der SefardInnen, der spanischen Juden),
versichert Kritzler. Nach der Reconquista Spaniens hatten die
Katholischen Könige 1492 die Zwangschristianisierung der jüdischen
Bevölkerung beziehungsweise deren Vertreibung angeordnet. Wer sich
widersetzte, wurde hingerichtet. Viele zum Katholizismus «Übergetretene»
nutzten die «Entdeckung» der Karibik als Fluchtpunkt. Sie betrieben
Handel zuerst unter dem Schutz der portugiesischen Krone. Später dann
siedelten sie sich auf Inseln an, die von den Niederlanden, England oder
Frankreich beherrscht wurden.
Aber nicht nur die jüdischen Piraten waren wichtig, hat Ed Kritzler bei
seinen Recherchen herausgefunden. «Noch bedeutsamer war die Rolle der
Kaufleute.» Kritzler ist sich aufgrund der Aktenlage sicher, dass
«jüdische Handelsleute verschlüsselt mit anderen zwangschristianisierten
Geschäftsleuten in den spanischen Kolonien korrespondierten und dadurch
informiert waren, welches Schiff wann, mit welcher Ladung, über welche
Route, zu welchem Bestimmungshafen unterwegs war - und was der Kapitän
möglicherweise an weiteren wertvollen Geheimnissen in seiner Kajüte
aufbewahrte. Mit diesen Informationen belieferten und finanzierten sie
die Freibeuter. Einige jüdische Handelsleute besassen selbst Schiffe,
die auf Kaperfahrt gingen.» Nicht nur die Informanten bekamen einen
genau festgelegen Beuteanteil, «nämlich drei Prozent», erzählt der New
Yorker Journalist, auch die Synagogen wurden «mit einem Betrag bedacht».
Die Juden hätten massgeblich an der Eroberung Jamaikas und der
Vertreibung der Spanier durch die Briten 1655 mitgewirkt. Oliver
Cromwell habe sich das Wissen der «konvertierten» Juden bei seinen
Eroberungsplänen für die Karibik zunutze gemacht. Seit 1622 bildeten
diese «Coversos», wie die Spanier sie nannten, eine «fünfte Kolonne» im
Auftrag der britischen Krone, die ihnen im Gegenzug religiöse Freiheit
versprochen hatte. Die Spanier wurden von den «Neuchristen», die
heimlich zu ihrem Glauben zurückgekehrt waren, als Feind bekämpft, und
ihnen wollten sie etwas wegnehmen.
Davidstern und Totenkopf
Die Bedeutung der Juden im Handel in der Karibik, aber auch in Sachen
Piraterie macht Kritzler beispielhaft am jamaikanischen Port Royal fest.
In der heimlichen Hauptstadt der Piraterie gab es mehrere jüdische
Bethäuser. Das grösste, mit etwa tausend regelmässig dort Betenden,
befand sich direkt im Zentrum. Und auf einer von der damaligen Gemeinde
unterhaltenen Begräbnisstätte in der Nähe von Kingston haben Ashley
Henriques und Freiwillige aus der jüdischen Gemeinschaft des Landes mehr
als 300 Grabsteine mit englischen, portugiesischen, spanischen und
hebräischen Schriftzeichen freigelegt.
«Wir waren schon überrascht, als wir auf den Marmorplatten neben dem
Davidstern auch den Totenkopf und gekreuzte Knochen eingemeisselt
fanden», sagt Ashley Henriques, der frühere Präsident der United
Congregation of Israelites (UCI) in Jamaika. Der siebzigjährige
Hobbyhistoriker ist auch Vorstandsmitglied des jamaikanischen National
Heritage Trust, der sich für den Erhalt historischer Bauwerke und des
historischen Erbes des Landes einsetzt.
Der «abenteuerlustige Bursche» David Baruch Alvarez starb am 8. November
1692, nur wenige Monate, nachdem ein Seebeben Port Royal dem Erdboden
gleichgemacht hatte. Seinen Grabstein schmückt das Piratensignet ebenso
wie das von Abraham Baruch Alvarez, der im Februar des gleichen Jahres
starb, wie Henriques der Grabinschrift auf dem jüdischen Friedhof von
Hunts Bay südlich von Downtown Kingston entnimmt. «Hier war alles
zugewachsen.» Nachdem der Friedhof gesäubert war, entdeckten Henriques
und seine Helfer die Zeichen auf den Grabplatten. «Zusammen mit den
Dokumenten ergibt das alles nur einen Sinn: Einige Verstorbene waren
Freibeuter. Wir haben auch mehrere Gräber von Kaufleuten gefunden, die
das Piratenzeichen zierte.»
In der 200-köpfigen Gemeinde gingen die Meinungen auseinander, ob man
die Entdeckung veröffentlichen sollte. «Wir haben sehr kontrovers
diskutiert. Aber die Tatsachen einfach unterschlagen oder
unveröffentlicht lassen wollten wir auch nicht», sagt Henriques. Die
Gemüter haben sich längst beruhigt - die Piraterei ist Teil der
jüdischen Siedlungsgeschichte von Jamaika. Henriques antwortet nur mit
einem Lächeln und einem Augenzwinkern auf die Frage, ob er Nachfahre des
berühmten Piraten Moses Cohen Henriques sei. «Nun», sagt Kritzler mit
lässig über der Brust verschränkten Armen und einem verschmitzten
Sonnyboy-Lachen, «ich kann alle beruhigen. Die Mehrheit der jüdischen
Piraten waren gottesfürchtige Menschen. Am Sabbat waren in Port Royal
die Kneipen geschlossen. Die Frauen gingen freitags in die Mikwe, und
die Männer suchten am Ruhetag anstatt Rausch, Sinneslust und Würfelspiel
geistige Erbauung in der Synagoge - wenn sie nicht auf Kaperfahrt waren.»
Schon seit Kolumbus
Die ersten zwangsgetauften Juden kamen 1492 an Bord der ersten drei
Schiffe unter dem Kommando von Christoph Kolumbus in die Karibik. 1497
verboten die Katholischen Könige den Aufenthalt und die
Religionsausübung von Juden und Jüdinnen in ihrem Herrschaftsbereich.
Franzosen, Briten und Niederländer im Kampf gegen die spanische
Vorherrschaft duldeten hingegen die JüdInnen auf ihren Inseln. Barbados
und die niederländische Antilleninsel Curaçao rühmen sich noch heute
ihrer ErstbesiedlerInnen, der sefardischen JüdInnen. Die Karibik
verdankt ihnen die wirtschaftliche Entwicklung.
JüdInnen beteiligten sich am Befreiungskampf für die Unabhängigkeit
Kubas und der Dominikanischen Republik. Die Eroberung der spanischen
Kolonie Jamaika durch die britische Flotte bereiteten Juden mit vor, die
in der Piratenhochburg Port Royal lebten. Grössere jüdische Gemeinden
gibt es heute in Curaçao (rund 450 Gemeindemitglieder), in der
Dominikanischen Republik (250), auf Jamaika (300), Kuba (600), Puerto
Rico (2500) und auf den US-amerikanischen Virgin Islands (300).
Eduard Kritzler: «Jewish Pirates of the Caribbean. How a generation
of swashbuckling Jews carved out an empire in the New World in their
quest for treasure, religious freedom - and Revenge». Doubleday. New
York 2008. 324 Seiten. Fr. 43.50.
* Aus: Schweizer Wochenzeitung WOZ, 23. April 2009
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