Absacken der Politik ins gewalttätig Bodenlose
Wolf-Dieter Narr, Professor für Politikwissenschaften an der Freien Universität Berlin, nimmt Stellung zu Ludger Volmers "Beerdigung des Pazifismus"
I.Pazifismus als menschenrechtlicher Realismus
Leuten, die sich pazifistisch orientieren, demgemäß urteilen und handeln, geht es
gewöhnlich dem Büchner'schen Woyzeck gleich. Diesen charakterisiert sein
vorgesetzter Hauptmann. Er sei ein "guter Mensch", indes "ganz abscheulich
dumm". Pazifisten sind, im Vokabular "realpolitisch" gescheiter, also am
Hauptmann orientierter Intellektueller gesprochen, "Gutmenschen" ohne
Wirklichkeitssinn.
Ludger Volmer wertet sachter, im Ergebnis ähnlich desaströs ab. Ihm scheinen die
Pazifisten, die er in einer blumigen Variantenfülle präsentiert, dort jedenfalls, wo sie
Krieg in jeder Form ablehnen - was doch wohl erst die Bezeichnung "pazifistisch"
verdient -, blind für die gegenwärtig gestellten Probleme. Dass man stattdessen
pazifistische Moral mit kriegerischem Handeln in nicht weiter bestimmten Notfällen
vereinbaren könne, ist des Herrn Staatsministers großes, perverse Sachverhalte
harmonisierendes Ziel.
Im Gegensatz zu Volmer jedoch, der die heute - und gestern schon und morgen
noch mehr - gestellten Probleme über die neue mythische Chiffre "11. September"
hinaus nicht einmal antupft, behaupte ich, dass unter menschenrechtlich seriöser
Perspektive allein eine Politik den Problemen unserer Zeit verantwortlich entspricht,
die das Mittel kollektiver Gewalt, also des Kriegs in diversen Lesarten, nicht
benutzt. Ich greife einige der miteinander gekoppelten Probleme pointiert heraus.
Das überragende Problem stellt der weltweit wild und hemmungslos gewordene
Kapitalismus dar. Dieser bewirkt zusammen mit der ihm eng verbundenen
wissenschaftlich technologischen Entwicklung den sich dynamisch fortsetzenden
Zustand der Globalisierung. Getrieben von Millionen und Abermillionen von
Interessen hat der seit Jahrhunderten zuerst im Westen und Norden, dann ost- und
südwärts expandierende, unersättlich wachsende Kapitalismus einen unerhörten
Boom von Produktivität und Produkten entfesselt. Das Stichwort unserer Zeit lautet
nicht zufällig: Innovation. Zugleich bedeutet diese entfesselte Logik der weiteren
Entfesselung jedoch einen gleichfalls unerhörten Raubbau an natürlichen
Umständen, vor allem jedoch die Vernutzung und Zerstörung ("Dissoziation")
sozialer Institutionen und Verhaltensweisen. Nicht nur Pflanzen- und Tierarten,
"Menschentypen", um einen Begriff Max Webers in seinem Sinne aufzugreifen,
werden marginalisiert und in ihren Lebensbedingungen zerstört wie quer zur
Geschichte der moderne Indianer und vormoderne Stammeskulturen samt ihren
Angehörigen.
Bis heute werden zur Durchsetzung all dessen, was allzu unqualifiziert
euphemistisch "Modernisierung" oder "Transformation" oder eben Kapitalismus
und, als ob harmonisch vereint, liberale Demokratie genannt wird, eine Fülle mehr
oder minder sublimer Gewaltmittel eingesetzt. Notfalls Kriege. Heute ist jeder
aufmerksam sensiblen Beobachterin das Menetekel erkenntlich: Der Menschheit,
die weltweit den Menschenrechten gemäß leben könnte - das ist das große
Versprechen europäisch-angelsächsischer Aufklärung -, schwindet,
neutechnologisch vollends ausgehöhlt, die nötigen sozioökonomischen und
politischen Bedingungen. Vielmehr: Diese werden nie geschaffen. "Der flexible
Mensch" (Richard Sennett), möglicherweise entsprechend humangenetisch
befähigt, ist Trumpf. Rundum einsatz- und anpassungsfähig, mit
vernachlässigbaren, notfalls sicherheitspolitisch zu kasernierenden
kognitiv-psychischen "Innereien".
Der globale Kapitalismus gründet nicht nur auf innergesellschaftlicher und
zwischengesellschaftlicher Ungleichheit. Sein konkurrierendes, arbeitsteilig
produzierendes und konsumierendes, sein auf dem Wachstum von
Profit-Reichtum-Macht ausgerichtetes "Wesen" produziert neue, auf der
vorhandenen in der Regel aufgesetzte soziale Ungleichheit fort und fort.
Ungleichheit, massenhafte Unterversorgungen aller Art - von der Ernährung über die
Gesundheit bis zur Bildung und Beteiligung -, verstößt nicht allein systematisch
wider die Menschenrechte, die mehr sind als bürgerlich privilegierte Farbtupfer.
Ungleichheit staut Aggressionen. Sie bildet Reservoirs aller Arten von Gewalt. Wer
immer, herrschaftsinteressiert, dieses Reservoir für sich nutzen mag.
Damit jedoch nicht genug der im weltweiten Wirkungszusammenhang nicht zuletzt
(neo-)liberal vom siegreichen "Westen" her historisch und gegenwärtig gebildeten
Probleme. Wenigstens ein zentrales Problem ist noch zu erwähnen. Der Mangel
angemessener soziopolitischer Organisationen.
Obwohl die kapitalistische Vergesellschaftung - bald mit der politisch staatlichen
verbunden - sich im Westen über Jahrhunderte entwickelt hat und die neuere
Globalisierung lange erkenntlich gewesen ist, haben es selbst die europäisch
angelsächsischen Gesellschaften versäumt, problemangemessene, allein den
quantitativen Dimensionen gewachsene Institutionen und Prozeduren
("Organisationsformen") zu erfinden, die sie nicht zu abhängigen Größen der
dominanten kapitalistischen Vergesellschaftungsform als spezifischem
Entgesellschaftungsprozess machen.
Bis heute tut die bei weitem überwiegende, in diesem Sinne liberale Mehrheit so,
als reiche "Marktvertrauen" prinzipiell aus. Als müssten dazu hin nur ein wenig
Rechtsgarantie aller (ökonomischen) Verträge und durch das staatliche
Gewaltmonopol zu gewährleistende Sicherheit der gegebenen und konkurrierend
wachsenden Privilegienordnung hinzukommen. Dann werde alles inmitten einer
grenzenlosen kapitalistischen Welt eitel Wonne.
Diese kapitalistisch quietistischen Annahmen sind im Kern unrichtig. Das belegen
nicht nur die ungeheuren Kosten inmitten der durchkapitalisierten Welt und mehr
noch der Welt, die gegenwärtig bis hin zu den Ländern Zentralasiens, angefangen
mit Afghanistan, durchkapitalisiert wird. Das belegt auch das lemminghaft
unverantwortliche Verhalten der scheinmächtigen global players und der
scheinmachtvollen Staatsleute.
Das ist die Oberfläche einiger Hauptprobleme. Von diesen Problemen hat Volmer
nicht gesprochen. Sein analytischer Spaten blieb im Kellerraum des Außenamts.
Niemand, der einigermaßen durchblickt, vermag eindeutige oder gar auf Dauer
angelegte "Lösungen" vorzuschlagen. Die zweiteilenden Etiketten "böse" oder
"gut", fast immer herrschaftlich verblödende Kennzeichnungen, helfen am
wenigsten. Auch und gerade angesichts des innig ambivalenten globalen
Kapitalismus nicht.
Nur dreierlei ist eindeutig und klar:
-
(a) So wie die westlichen Staatsleute den 11. September 2001 interpretieren,
demonstriert dies nur, dass sie die terroristisch zum Ausdruck gekommenen
Probleme nicht begriffen haben, nicht begreifen wollen. Angetan mit ihren alten,
privilegierten Interessenspelzen betreiben sie vielmehr herrschaftlich routinisierte
und das heißt selbstredend in Gewalt, Öl, Gas und Drogen ersäufte Pseudopolitik.
Sie suchen nun, vom weltpolitischen Gernegroß Schröder besonders auffällig
repräsentiert, die ganze Welt noch stärker militärisch, westlich privilegierten
Interessen gemäß, zu besetzen und zu durchdringen. Als ob damit die ohnehin
schon lange überbordende Gewalt nicht weiter überbordete, dann auch den Westen
nicht mehr schützend. Wenn nicht heute, dann morgen.
-
(b) Die extrem verkürzt angeritzten Probleme lassen sich in keinem Fall mit Gewalt
lösen. Gewalt, auch solche überlegene und damit fürs erste fast risikolose Gewalt,
wie sie westlich, US-geführt zu militärisch-tödlichem Gebote steht, ist nichts
anderes als kontraproduktiv. "Nicht nur" kommen Menschen um - ein "nicht nur",
das menschenrechtlich nicht gilt, es sei denn man funktionalisiere
Menschenrechte nach eigenem Interessensgout; werden Lebensmöglichkeiten von
Menschen zerstört; wird in Gewalt "sozialisiert"; und werden Aggressionen
habitualisiert. Vielmehr verdummt, menschenrechtlich demokratisch qualifiziert, die
Politik der militärisch (und kapitalistisch) Gewaltigen. Sie verlangt dauernde
Hochrüstung. Und sie produziert nachahmende Hochrüstung weltweit. Sicherheit
wächst nicht; sie sackt ins gewalttätig Bodenlose.
-
(c) Die Konzentration auf militärische Gewalt fordert enorme Opfer auch in
westlichen Gesellschaften, auch in Nicht-Kriegszeiten. Demokratisierung, Grund-
und Menschenrechte werden durch "Sicherheitspakete" abgebaut.
II.Volmers Problem- und Normvernebelung
Ludger Volmer will sich und andere weiter als Pazifisten bezeichnen können.
Darum tut er ein Doppeltes: Er bestimmt mit Zusatz "politisch" das um, was
Pazifismus heißen muss, wie unterschiedlich man ihn im Einzelnen begründen
mag. Dass Krieg kein Mittel der Politik ist, weil Politik im Krieg aufhört. Schon im
Prozess des dauernden Hochrüstens wird Politik zur Fortsetzung des Krieges mit
anderen Mitteln. Das zum einen. Zum anderen unterstellt er, dass Pazifismus
heute, also eine Politik, die nicht mit kollektiver Gewalt im Hinter- und eventuell im
Vordergrund arbeitet, sich gegenwärtigen Probleme nicht stelle. Genau umgekehrt
verhält es sich (siehe oben). Verantwortungsethisch, so man Max Webers viel
missbrauchte Unterscheidung erneut aufnehmen will, verantwortungsethisch, sage
ich geradezu apodiktisch, sprich: Die Folgen für die Menschen und für das
zukünftige Leben der nach uns kommenden Menschen bedenkend verhält sich
heute politisch nur die- oder derjenige, die praktizierend wissen, dass das Mittel
kollektiver Gewalt nur negative Effekte erzeugt. Allenfalls kurzschlüssig mag das
militärisch anscheinshaft erzeugte "Ende des Schreckens" dem moralischen
Ruhebedürfnis entsprechen.
III. Was heißt politisch wirksam?
Pazifistischer Protest bleibe folgenlos, so drängt Volmer. Nur ein militärisch
ergänzter Bellipazifismus sei realpolitisch. Das zuletzt Gesagte mag angesichts
der bestehenden Herrschaftsstrukturen zutreffen. Realpolitik bedeutet in
antimenschenrechtlicher deutscher Tradition, Politik kurzsichtig "mit Blut und
Eisen" zu betreiben oder zu unterstützen, wenn's den eigenen Macht- und
Wohlstandsinteressen dient. Darum führt der "lange Weg nach Westen" zu
unkritischer Identifikation mit immergrüner westlicher Expansionspolitik, der eine
Welt des 21. Jahrhunderts voller Kriege und Gewalt verheißt, dem Gegenteil der
Volmerisch schöngeredeten "Weltinnenpolitik". Letztere müsste man gegenüber
den eigenen Interessen kritisch, reformriskant und reformverantwortlich gestalten
und sich nicht nur gewaltig dem Gewalthegemon der Welt unterwerfen.
Das aber verlangte wahre Politik, die nicht nachäffen, die vielmehr im Sinne von
Menschenrechten gestalten will. Sie müsste unter anderem die Verhältnisse
umkehren und die Abermilliarden statt für Rüstung für Friedensförderung und zivile
Bearbeitung von Konflikten einsetzen. Das verlangte eine Politik, die anstrengend
den Möglichkeitssinn beförderte und Frieden durch den allmählichen Abbau von
Gewalt nach und nach möglich machte. Indem sie Aggressionen individuell und
kollektiv nicht leugnete, jedoch deren massive Ursachen abbauen hälfe und Formen
des Konfliktumgangs fände, die politisch den Problemen angemessen wären.
Der Beitrag von Wolf-Dieter Narr erschien am 24. Januar 2002 in der Frankfurter Rundschau
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