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Wissenschaftlich begründeter Pazifismus

Wolf-Dieter Narr begründet seine Haltung zum NATO-Krieg und zum Desertionsaufruf

Den folgenden Text hat Wolf-Dieter Narr (Sprecher des Komitees für Grundrechte und Demokratie) als Verteidigungsrede vor dem Landgericht Berlin gehalten, vor dem er in zweiter Instanz wegen des Aufrufs zur Desertion (NATO-Krieg gegen Jugoslawien, 21. April 1999) angeklagt war und auch verurteilt wurde. Narr begründet darin seinen pazifistischen Standpunkt. Wir dokumentieren aus der Verteidigungsrede den ersten Teil (die anderen Teile gehen im Detail auf den NATO-Krieg gegen Jugoslawien ein). Narrs Rede war in einer gekürzten Fassung in der Frankfurter Rundschau vom 9. Juni 2001 dokumentiert.

Zum Urteil des Amtsgerichts Tiergarten vom 23. März 2000, zuerst vorgetragen und später schriftlich verfasst von der Amtsrichterin Frau Miller:

Zu den Urteilsgründen

Ich werde zutreffend ein "überzeugter Pazifist" genannt. Diese Charakterisierung könnte so verstanden werden, als sei Pazifismus für mich, der "-ismus" legt solches sprachlich nahe, eine Art Glaubensangelegenheit. Das ist nicht der Fall. So hoch ich die Zeugen Jehovas wegen ihres Verhaltens beispielsweise in der NS-Zeit und im Umkreis ihrer totalen Kriegsdienstverweigerung achte, so wenig kann und will ich die religiöse Begründung ihres Verhaltens für mich in Anspruch nehmen. Ich bin Pazifist in und aus meiner Eigenschaft als sozialwissenschaftlicher Hochschullehrer. Ich bin ein gelernter Pazifist. Ich bin erst im Lauf meines Lebens zu einem solchen geworden.

Heute bin ich davon überzeugt - bergehoch und bergwerktief zu belegen -, dass Kriege nicht nur aktuell schlimm sind und entsetzliche Kosten entbergen. Kriege kosten schon Ungeheuerliches in Form der permanenten Kriegsvorbereitung, dem Kriegsvorbereitetsein. Auch in Habitus und Bewusstsein. Man denke nur an all die Rüstungen und an die verniedlichend Waffenhandel genannte globale Ökonomie unter hervorragender Beteiligung der etablierten westlichen Demokratien, die Bundesrepublik Deutschland unter den händlerisch führenden. Man beachte das Denken in kriegerischen "Lösungen". Dafür ist der letzte Nato-Krieg ein sprechendes Exempel. Im Sinne der pervers gekehrten Clausewitz'schen Formulierung - Krieg sei die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln - wird politisches Handeln im militärischen aufgehoben. Das zeigt die Art der Kriegszuspitzung spätestens seit Herbst 1998.

Zuallererst und zentral gilt Albert Schweitzers Grundnorm konstitutiv: "Ehrfurcht vor dem Leben" samt dem damit gekoppelten Gewaltverbot. Anders sind Menschenrechte nicht. Gewiss: Normen, und seien sie noch so essenziell, reichen als solche nicht aus. Sonst blieben sie situativ abstrakt, obwohl sie, handelt es sich um menschenrechtlich substantielle Normen, höchst Konkretes für jeden einzelnen Menschen, für a l l e Menschen bedeuten. Und jede Situation kann veränderte Konsequenzen aus den Menschenrechten um ihres konkreten humanen Sinns willen bedeuten. Deshalb ist es erforderlich, in jeder Situation neu zu bedenken, welche Konsequenzen angesichts derselben menschenrechtstreu zu ziehen sind. Das ist ein Abwägungsprozess, der oft nur in Furcht und Zittern geschehen kann.

Das war auch am 24. März 1999 der Fall. Und in den Tagen und Wochen zuvor. Allerdings muss die Situationsanalyse extrem skrupulös betrieben werden. Die starke Vermutung spricht menschenrechtlich immer für die Gewaltfreiheit. Letzterer müsste im jeweiligen Fall einmalig-ausnahmsweise widersprochen werden, käme man zur verzweifelten Schlussfolgerung, kollektiver Gewalteinsatz sei singulär Not-wendig, um noch mehr Gewalt zu vermeiden. Auch dann wäre Wissen, das

Ge-Wissen nicht zu verleugnen, das urteilsklares, zusammensehendes, vorstellungskräftiges Wissen meint, dass es menschenrechtlich nie und nimmer angeht, quantifizierend und qualifizierend Menschenleben mit Menschenleben additiv oder subtraktiv aufzurechnen (und nota bene: Auch Soldaten sind Menschen!).

Am 24. März 1999 konnte und musste jedoch jeder/jedem genauer Hinsehenden der menschenrechtliche Unrechtscharakter des Nato-Krieges klar, ja eindeutig sein. Für alle, die ihren eigenen Verstand ernst nehmen und den Kant'schen Mut haben, sich seiner zu bedienen, verstand sich außerdem geradezu von selbst (und versteht sich noch): Misstrauen gegen den menschenrechtlichen ("humanitären") Goodspeak der stärksten Militär- und Wirtschaftsmächte der Welt gehört zur ersten Bürgerpflicht. Demokratie und Menschenrechte sind keine Sache der blauen Augen und des blinden Vertrauens, sondern des analytischen Blicks und des guten Gedächtnisses.

Ich stehe zu unserem Desertions-Aufruf vom April 1999, dem corpus criminandi, ohne Wenn und Aber. Ich würde denselben in vergleichbarer Situation erneut schreiben und unterschreiben. Ich würde allein durch Zusatzaktionen ungleich mehr dafür sorgen, dass er möglichst flächendeckend und viele Personen erreichend verbreitet werde. Hierbei würde ich insbesondere den letzten Satz des vorletzten Absatzes aus dem Aufruf besonders markieren: "Gemäß unserem Verständnis der Menschenwürde trägt jeder die Verantwortung für seine Entscheidung selbst." Gleicherweise unterstriche ich den letzten Satz: "Deserteure und Kriegsdienstverweigerer jedoch sind Friedensboten."

Das Amtsgericht behauptet, ich hätte mich schuldig gemacht im Sinne der Paragrafen 111 Abs. 1 und 2, 25 Abs. 2 StGB (Strafgesetzbuch) der Verführung zu rechtswidrigen Taten, nämlich zur Fahnenflucht. Wir behaupteten und behaupten, unser Aufruf sei grundgesetzkonform gewesen. Wir wollten die Soldaten davon überzeugen, statt handelnd einer regierungsamtlich befohlenen Desertion vom Grundgesetz zu folgen, also konformistisch mitkriegend an einer Grundgesetzflucht teilzunehmen, das allein grundgesetzkonforme Gegenteil zu tun. Nämlich, sich dem qua Befehl aufgenötigten kollektiven Gehorsam zu entziehen, wie es jedem Bürger in Uniform als seiner ersten Pflicht geziemt. Nicht Befehlsempfänger-Gehorsam, so Helmut Gollwitzer einmal erfahrungsdicht über das Verhalten der meisten Deutschen im Zuge des "Dritten Reiches", der Soldaten zumal, Grundgesetzgehorsam war und ist es, was wir bei uns und anderen, den Soldaten in diesem Falle zuerst, anmahn(t)en.

Wenn mein menschenrechtlich-völkerrechtlich begründetes Rechtsstaatsverständnis zutrifft, dann war die Aufforderung zur "Fahnenflucht" richtig, ja geboten. Gleicherweise wäre die praktizierte "Fahnenflucht" richtig und geboten gewesen. Staatsanwaltschaft und verurteilende Gerichte - samt der in der Kommentarliteratur erkennbaren "hM" (herrschende Meinung) - arbeiten nun lebensfremd und der Situation unangemessen mit einer höchst fragwürdigen Unterscheidung. Sie konzedieren dem Wehrstrafgesetz gemäß (Paragrafen 20 und 22) die Möglichkeit einer bedingten Gehorsamsverweigerung des Soldaten. Die so genannte Fahnenflucht gemäß Paragraf 16 WStG heben sie jedoch auf die Empore eines geradezu absoluten Straftatbestands. Der Straftatbestand des Paragrafen 15 WStG, als da lautet: "eigenmächtige Abwesenheit", wird dem einschlägigen Kurzkommentar von Schölz/Lingens gemäß intensiviert, ja absolutiert. Die Kommentatoren unterscheiden hierbei zwischen einer subjektiven Seite - die da bedeutet: "schwerste Verletzung der Pflicht des Soldaten" - und einer "objektiven", die Fahnenflucht vollends zum "reinen Vorsatzdelikt" macht: dass nämlich das "objektiv geschützte Rechtsgut", sprich "die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr" in Frage gestellt werde.

Dass Menschen, Soldaten beispielsweise, infolge politisch grundgesetzlicher Einsicht und menschenrechtlicher Urteilskraft einen Beschluss der Art, an diesem unrechten Krieg nehme ich nicht teil, fassen könnten, ist nicht vorgesehen. Noch verräterischer ist das Verständnis unerschütterlicher, also mit fester Fahne beflaggter Objektivität. Das verletzungsempfindliche Objekt ist nicht die Verfassung des Grundgesetzes insgesamt. Verletzungsempfindlich ist exklusiv die Totalität der Truppe als soldatisch gültige Ersatzverfassung. Wie die so genannte Fahnenflucht die äußerste Straftat gegen eine militärische Dienstpflicht darstellt und deswegen "mit aller Härte des Gesetzes" bestraft wird, wird auch die mögliche "Anstiftung" dazu schon sanktionskräftig traktiert.

Wie das gesamte Wehrstrafgesetz, so atmet insbesondere sein fahnenflüchtiger Paragraf 16 den Geist einer auch noch anderwärts kräftig riechenden und wirksamen schlimmen deutschen Tradition. An die Wehrmachtsausstellung und ihre im Kern stimmige Aussage - die unterlaufenen Fehler sind gerade darum sehr zu bedauern und kaum zu entschuldigen - will ich gar nicht besonders erinnern. Der Großteil der im Wehrstrafgesetz und, weniger aufgetragen, im Soldatengesetz (mitsamt den diversen Konnexgesetzen) vor 1945 geprägten Form, die in der Bundesrepublik weiterentwickelt worden ist, hat mit dem Konzept "Bürger in Uniform", hat mit einer Wehrmacht, wenn sie denn sein muss, als selbst Menschenrechten und Demokratie verpflichteter Institution in einer Demokratie wenig zu tun, in der Menschenrechte und Völkerrecht unmittelbar gelten (vgl. Art. 1 Abs. 3 und Art. 25 und 26 GG). Die Kommentatoren greifen deshalb ohne Scheu auf frühere Wehrstrafgesetze und deren Auslegung zurück, um die heute gültigen Paragrafen "angemessen" auszulegen.

Ungeheuerlich ist hierbei zuerst das vordemokratische "Soldatenbild". Ungeheuerlich ist zum Zweiten die Vorstellung von der Bundeswehr als einer kollektiven, auf sich selbst bezogenen Gehorsamsphalanx. Ungeheuerlich ist erst an dritter Stelle der abgeleitete Gehorsam, zu dem gewöhnliche Bürger wie wir verpflichtet werden. Wehe, wenn wir der Sonder- und Überorganisation, genannt Bundeswehr, in unserem Verhalten, in diesem Fall einem angeblich fehlplatzierten und fehladressierten Aufruf, nicht gerecht werden. Hinzu kommt als grundrechtliches Ärgernis im Ärgernis, wie mit Hilfe des Symbols "Fahne" und des Antisymbols und Verhaltens "Fahnenflucht" Gehorsam unterhalb aller eigenen Vernunft "eingeseelt" und kopflose Identifikation mit der Truppe gleichsam automatisiert werden sollen. Diese kopflose, alles eigene Nachdenken ersparende Identifikation soll just mit einem Symbol eingeübt, ja erzwungen werden, das geradezu emphatisch alle bürgerlich demokratische Vernunft zu Gunsten der nationalstaatlichen Gedankenlosigkeit hat ausverkaufen lassen.

Wie kommt es nur, dass das Wehrstrafgesetz als ein Sonderrecht einer schwer kontrollierbaren, de jure und mehr noch de facto höchst dürftig kontrollierten Institution - des Militärs also -, deren Aktionsbegründungen informationell meist geheim erfolgen, ebenso wie deren wichtigste Entscheidungsverläufe, nicht einmal gründlich im Lichte liberaler Demokratie und ihres Rechtsstaates durch- und aufgeforstet worden ist? Meines Wissens hat noch kein Richter die Notwendigkeit empfunden, nicht de lege lata eines solchen Gesetzes und seines unmöglichen Paragrafen 16 WStG zu entscheiden, sondern, sein Urteil einstweilen suspendierend, Karlsruhe anzurufen.

Die das Urteil fundierende Behauptung, weder das Recht auf Kriegsdienstverweigerung noch Paragraf 22 WStG erlaubten, dass sich ein Soldat von der Truppe entferne, belegt, mit Verlaub gesagt, dass die Amtsrichterin jenseits meiner allgemeinen Einwände wenig Ahnung vom Sozialverhalt einer Truppe und darüber hinaus einer Truppe mitten im Krieg hat. Dass Frau Miller es außerdem versäumt, die soldatische Pflicht zum Gehorsam gegenüber dem Grundgesetz auch nur zu erwähnen, mag angesichts der aufgezählten Mängel geradezu als eine lässliche Unterlassungssünde gewertet werden.

Im Übrigen, meint Richterin Miller, könne "letztlich dahinstehen", ob die von mir "vertretene Rechtsmeinung zur Völkerrechtswidrigkeit des Kosovo-Krieges" zutreffe oder nicht. Aus Art. 5 GG (Meinungsfreiheit) folge nach entsprechender Güterabwägung "dass der Aufruf zur Befehlsverweigerung aus Art. 5 GG gerechtfertigt" sei. Diese Rechtfertigung gelte allerdings nicht "für den Aufruf zur Fahnenflucht, weil Fahnenflucht ... für keinen Soldaten die legale oder logische Konsequenz aus einer etwaigen Völkerrechtswidrigkeit des Einsatzes hätte sein können und dürfen".

Ich lasse an dieser Stelle außer Acht, in welch rechtssystematisch fataler Weise hier die Hierarchie der Normen verkehrt, Völkerrecht und Grundgesetz mit der kleinen, aber wirksamen Spezialnorm des Paragrafen 16 WStG ausgehebelt werden. Ich konzentriere mich allein auf den richterlichen Missbrauch der ohne Frage zentralen grundrechtlichen Norm der Meinungsfreiheit. Das Grundrecht auf Meinungsfreiheit wird so umfunktioniert, dass die Gerichte sich mit den substanziellen und zugleich umstrittenen Rechtsproblemen nicht zu befassen brauchen, die die Anklage und das Handeln der Angeklagten motivierten.

"Die Angeklagten handelten auch schuldhaft", so tritt Oberstaatsanwalt Arnold in seiner Revisionsbegründung mit ganzer Sohle auf. "Bei Anspannung ihres Gewissens und ihrer Einsichtsfähigkeit hätten sie erkennen können, dass der Einsatz der Nato - unabhängig von seiner völkerrechtlichen Einordnung - kein kriminelles Unrecht darstellt, und dass die den Soldaten erteilten Einsatzbefehle verbindlich sind." Das Völkerrecht wird erneut wie selbstverständlich als eine quantité négligeable behandelt. Als hätte es die nationalsozialistische Herrschaft und mögliche Lerneffekte gerade im Rahmen der Jurisprudenz nicht gegeben, setzt OStA Arnold auf einen Schelm den zweiten. "Die Angeklagten hätten sich daher ohne Schwierigkeiten", so klärt sich alles zu den kantenscharfen Bügelfalten bürgerlich soldatischen, in jedem Fall beamtenhaften Gehorsams, "Klarheit darüber verschaffen können, dass ein Soldat, ebenso wie jeder andere Beschäftigte des öffentlichen Dienstes, zwar möglicherweise unter gewissen Umständen ein bestimmtes, von ihm verlangtes Verhalten verweigern kann, aber nicht den Dienst einstellen und ihm fernbleiben darf." Man könnte ob solcher unkompliziert fantasieloser Strammheit eine demokratisch menschenrechtliche Gänsehaut kriegen.

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