Stachel im Fleisch der Selbstgerechten
Harald Müller, Leiter der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung kommentiert die Pazifismus-Debatte
Der Autor dieses Essays ist kein Pazifist. Hinsichtlich der Gefahrenanalyse des
modernen Terrorismus und der Notwendigkeit, in Afghanistan militärisch
einzugreifen, teile ich die Bewertungen von
Staatsminister Volmer. Allerdings
unterscheide ich mich von seinem Urteil grundlegend, wo es um die Beurteilung der
Wertigkeit der von ihm als "alten" Pazifismus eingestuften Position geht. Obgleich
ich diese Position nicht teile, halte ich sie für den öffentlichen Diskurs über
Sicherheit, Krieg und Frieden für lebenswichtig und unverzichtbar, und zwar auch
und gerade unter den heutigen Umständen.
Volmer kritisiert zunächst die Weigerung dieses Pazifismus - der am unbedingten
Gewaltverbot unter allen Umständen festhält -, sich der eigenen historischen,
raum-zeitlichen Bedingtheit bewusst zu werden. Die politischen Bedingungen, so
Volmer, ändern sich mit den geschichtlichen Prozessen. Die politische Ethik des
Pazifismus hat, statt sich als "universelle Ethik" zu setzen, diesen Wandel
nachzuvollziehen und sich entsprechend zu positionieren.
Um diesen Gedankengang plausibel zu machen, begründet er zunächst die
Berechtigung des "alten" Pazifismus in vergangenen Zeiten. Dabei unternimmt er
eine Reihe höchst zweifelhafter Idealisierungen, die dem argumentativen Zweck
dienen, die "alte" Richtigkeit gegen die "neue" Falschheit setzen zu können.
Tatsächlich schillert aber auch der "alte" Pazifismus in den "alten" Zeiten durchaus
ambivalent: Der Protest gegen den Vietnam-Krieg war alles andere als pazifistisch,
sondern wurde in großen Teilen von klaren Sympathien für eine der kämpfenden
Parteien, den Vietkong, getragen. Die antinukleare Friedensbewegung nahm in
Kauf, dass die Sowjetunion neben der quantitativen Überlegenheit ihrer
konventionellen Streitkräfte auch überlegene operative Fähigkeiten im
taktisch-nuklearen Sektor hinzugewann.
Die früheren Feindbilder, von den Pazifisten bekämpft, waren auch nicht so absolut
falsch wie die heutigen (Al Qaeda) richtig sind. Die Sowjetunion war ein
antidemokratischer, imperialer Staat, der Menschenrechte gewaltsam unterdrückte
und den Terrorismus außerhalb ihrer Grenzen unterstützte. Wer dies feststellte,
hatte genauso Recht wie diejenigen, die heute Al Qaeda als "verbrecherische
Schattengesellschaft" bezeichnen. Schließlich bekämpfte der "alte" Pazifismus
nicht konsequent alle Feindbilder, er entwickelte auch kräftige eigene: Der
Antiamerikanismus gehört dazu, auch die Verachtung gegenüber den Soldaten, die
in dem diskriminierenden Verdikt "alle Soldaten sind Mörder" gipfelte, das auch in
den "alten" Zeiten falsch war. Selbst in der Zeit, in der die grüne Partei sich als
pazifistisch definierte, hatte der Pazifismus seine für Kritik offenen Flanken.
Außerdem ist der sich von der Geschichte freistellende Universalismus natürlich
kein Privileg des Pazifismus. Staatsminister Volmer reklamiert selbst das Recht, ja
die Pflicht zur Durchsetzung eines universalistischen Prinzips, nämlich der
Menschenrechte. Eine solche Forderung hat nur Sinn, wenn man die
Menschenrechte mit der gleichen Unbedingtheit für ein unverrückbares Prinzip hält
wie die Pazifisten das Gewaltverbot. Es geht also nicht, wie Volmer suggeriert, um
den Streit zwischen einer statischen, ahistorischen, gesinnungsethischen Position
auf der einen und einer wandelbaren, verantwortungsethischen auf der anderen
Seite, sondern um die Kollision zweier unbedingter, universalistischer Normen auf
der Grundlage unterschiedlich gewichtender Gesinnungsethiken.
Für die Menschenrechte wie für den unbedingten Pazifismus gilt, dass die Aufgabe
der Unbedingtheit und die Anerkennung von historischem Relativismus
Selbstaufgabe bedeutet. Den Pazifismus dazu aufzufordern, scheint mir wenig
Erfolg versprechend.
Beide Positionen, aber auch der abwägende, verantwortungsethische des von
Staatsminister Volmer mit "politischer Pazifismus" bezeichnete Standpunkt sind
mit unausweichlichen Dilemmata konfrontiert. Der Pazifist muss zu Gunsten seiner
prinzipiellen Gewaltlosigkeit in Kauf nehmen, dass das Böse widerstandslos
Gewalt anwenden kann. Die für die Menschenrechte Streitenden verantworten den
unvermeidlichen "Kollateralschaden", die Opfer an Leib und Leben Unschuldiger,
die dieser Streit nach sich ziehen kann. Der abwägende Verantwortungsethiker
läuft ständig Gefahr, die Grenze zu überschreiten, in dem das Anbequemen an die
"Sachzwänge" der Realität ihn zum Objekt, wenn nicht gar zum Subjekt der
Macht- und Interessenspiele so genannter Realpolitik werden lässt. Im Rahmen
des einmal gewählten ethischen Bezugsrahmens lässt sich das Bewusstsein von
diesen Dilemmata zwar verdrängen - für die psychischen Mechanismen, die dafür
zuständig sind, gibt es kaum Unmögliches -, beseitigen lassen sie sich jedoch
nicht.
In diesem Sinne stellen menschenrechts- oder verantwortungsethische Positionen
nicht geschichtlich oder gar moralisch überlegene Standpunkte dar, während der
Pazifismus sich überholt hätte. Nützlicher ist es, sie als notwendige Pole im
demokratischen Diskurs über Sicherheit, Krieg und Frieden zu begreifen, die die
aus diesem Diskurs erwachsende Politik beeinflussen wollen. Von dieser
Sichtweise her legt gerade die jüngere Entwicklung nahe, wie wichtig der
pazifistische Pol in diesem Diskurs ist.
Denn heute scheint das Verhältnis der Demokratien zu Krieg und Frieden eine
allmähliche Änderung zu erfahren. Dass Demokratien eine höhere Neigung zum
Frieden und eine entschiedenere Abneigung gegen Gewalt verzeichneten, wird seit
Immanuel Kant auf dreierlei Weise begründet. Zum einen schrecken die
Bürgerinnen und Bürgern vor den Kosten und menschlichen Opfern des Krieges
zurück. Zum zweiten lässt ihre Achtung vor der Menschenwürde - auch der des
Gegners - das Töten im Krieg nur im Verteidigungsfalle unvermeidlich und damit
gerechtfertigt erscheinen. Zum dritten sorgen ihre Institutionen, Transparenz,
Gewaltenteilung und Meinungsfreiheit (d. h. eine unabhängige Presse) dafür, dass
sich diese Wünsche der Bürger auch gegen etwaige gegenläufige Interessen der
Exekutive durchsetzen. Alle drei Pfeiler der demokratischen Friedfertigkeit sind
aber ins Wanken gekommen:
-
Moderne Kriegstechnik und die erdrückende militärische Überlegenheit des
Westens, vor allem seiner Führungsmacht USA, haben militärische Interventionen
erfolgversprechender und opferärmer gemacht. Die Kriegsscheu aus
Kostengründen vermindert sich damit.
- Zielgenauigkeit und fast perfekte Aufklärung minimieren selbst die zivilen Opfer
auf der Gegenseite. Zwar fordert jeder Krieg unschuldige Opfer, von den Massakern
der Flächenbombardements im Zweiten Weltkrieg oder Vietnam ist die heutige
Kriegführung jedoch weit entfernt.
- Die Hochschätzung der Menschenwürde führt zu einer tiefen Verachtung
derjenigen, die Menschenrechte mit Füßen treten. Mehr und mehr macht sich in
den Demokratien die Auffassung breit, dass ihre eigene, engere Gemeinschaft,
nicht die heterogenere Staatengemeinschaft, die vom Völkerrecht zur
Entscheidung über Krieg und Frieden autorisiert wird, zum Entschluss über
humanitäre Interventionen berechtigt ist. Der Universalismus der Menschenrechte,
der einerseits kriegshemmend wirkt, ist andererseits ein mächtiger
Feindbildproduzent, der die Kriegsschwelle der Demokratien senkt.
- Transparenz wird heute zum Teil durch die perfekte Inszenierung der Kriegführung
für die Öffentlichkeit konterkariert. Die Medien (vor allem die auf das Bild
angewiesenen) zeigen die Tendenz, Gegnerschaft zu personalisieren und damit am
Entwurf eines wirkungskräftigen Feindbilds (Saddam Hussein, Aidid, Milosevic, bin
Laden) mitzuwirken.
- Die Parlamente werden von den Exekutiven durch vorab eingegangene
Verpflichtungen gegenüber dem Bündnis in eine Entscheidungszwangslage
gebracht, die eine unabhängige und kritische Prüfung von
Regierungsentscheidungen unterläuft.
Es soll nicht behauptet werden, der Nexus zwischen Demokratie und Frieden sei
völlig aufgelöst. Es gibt jedoch eine Tendenz dazu. Diese Tendenz macht die
Teilnahme des unbeugsamen Pazifismus am öffentlichen Diskurs notwendig:
Entgegen der Tendenz in unserer westlichen Debatte, humanitäre Interventionen
auf eine Doktrin des gerechten Krieges zurückzuführen, erinnern uns die Pazifisten
an die unverrückbare Ungerechtigkeit jedes Krieges. Da Krieg unweigerlich zum
Tod Unschuldiger führt, produziert jeder Krieg Ungerechtigkeit. Sie wird nicht
dadurch neutralisiert, dass die Zahl von Leben, die durch die Intervention gerettet
werden, die der Opfer übersteigt.
Gerade eine Menschenrechtsethik, die solche humanitären Interventionen fordert,
kann Gerechtigkeit nicht in der Verrechenbarkeit von Menschenleben suchen; hier
trifft sie sich mit der Werteorientierung der Pazifisten. Die pazifistische Kritik
zwingt die Befürworter der humanitären Intervention dazu, die Messlatte sehr hoch
zu legen, bevor sie die Gewaltanwendung befürworten.
Die Herausforderung der Pazifisten hält auch den Verantwortungsethikern das
ständige Risiko vor Augen, hinter der Folie angeblicher politischer Sachzwänge
schrittweise zur Figur im Macht- und Interessenspiel zu werden. Sie zwingt zur
ständigen, sorgfältigen, selbstkritischen Prüfung. Der Pazifismus ist der Stachel im
Fleisch von Selbstgerechtigkeit und Abschottung, die unserer politischen Debatte
über Krieg und Frieden in seiner Abwesenheit drohen mag.
Als Friedensforscher nehme ich eine andere Position ein als ein mit den Nöten und
Mühen der Parteipolitik, Koalitionsdisziplin und Bündnisfähigkeit ringender
Staatsminister. Auch ich habe mich über pazifistischen "Starrsinn" (vor allem auf
Podiumsdiskussionen) schon massiv geärgert, habe über die unabänderliche
Unbedingtheit pazifistischer Positionen den Kopf geschüttelt und bin bei
verantwortungsethisch begründeten Abwägungen zu anderen Schlüssen
gekommen als meine pazifistischen Gesprächspartner.
Und dennoch: Um die Friedensfähigkeit der Demokratien zu bewahren und um
unsere Abwägungen und Bewertungen so skrupulös und sorgfältig zu halten, wie
das der ernsten Frage von Krieg und Frieden angemessen ist, brauchen wir einen
unbedingten, unverfälschten, historisch unangepassten Pazifismus als kräftige
Stimme in unserer Öffentlichkeit. Und dabei bleibt es.
der Beitrag von Harald Müller wurde dokumentiert in der Frankfurter Rundschau vom 24. Januar 2001
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