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Sigmund Freud – der vergessene Pazifist

Von Ilsegret Fink

Den folgenden Beitrag haben wir der Zeitschrift "utopie kreativ" entnommen, deren Heft Nr. 175 (Mai 2005) dem 60. Jahrestag der Befreiung von Krieg und Faschismus gewidmet ist.*



60 Jahre nach der Befreiung Europas vom Hitlerfaschismus wird auf allen Ebenen geforscht, interpretiert und disputiert: Wie konnte es 1933 zur demokratischen Machtübertragung auf Adolf Hitler kommen? Welche Hoffnungen setzten die Wähler auf das Programm dieser neuen Partei, daß sie so bereitwillig die erste deutsche Republik nach nur 15 Jahren abgewählt haben? Warum eroberte die Überzeugung, daß die Deutschen auf Grund ihres arischen Blutes zur Herrenrasse Europas bestimmt seien, so schnell Schulbücher und Hörsäle? Warum verbrannten Studenten und Hochschullehrer öffentlich auch die Werke Sigmund Freuds? Warum ließ sich der Volkszorn gegen Juden so leicht mobilisieren, und woher kam die rasante Mobilmachung gegen den »jüdischen Bolschewismus«? Wieso verübte die deutsche Armee wider alles Völkerrecht Grausamkeiten an Kriegsgefangenen und der Zivilbevölkerung der »Feinde«, und warum schuf die Waffen-SS unmenschliche Befehlsstrukturen in den Konzentrationslagern?

Und doch vermisse ich bei dieser erfreulichen Vielzahl der am 8. Mai 1945 orientierten Fragen die Überlegung, warum es nach dem Sieg der alliierten Armeen nicht zu einer alliierten Ächtung des Krieges gekommen ist. Denn darauf hatten weltweit Aktivisten der Friedensbewegungen, Friedensnobelpreisträger und vor allem die Überlebenden aus deutschen Konzentrationslagern und Haftanstalten und unzählige Emigranten gehofft. Seit 60 Jahren ist europaweit in autobiographischen Erinnerungen vom unerträglichen Ausmaß der Entwürdigung und Folter von KZ-Häftlingen und Zwangsarbeitern zu lesen, aber auch von Leid, Angst, Verlust und der Konfrontation mit sinnlosem Sterben deutscher Zivilisten unter Bombenkrieg und Flucht. Und es stellt sich die Frage: Sind Kriegstraumatisierungen überhaupt heilbar?

Albert Einstein, der sich selber einen militanten Pazifisten nannte, fragte im Jahre 1932 Sigmund Freud unter anderem, ob er – im Kontext seiner Erforschung der menschlichen Triebe – eine Möglichkeit sehe, »die psychische Entwicklung der Menschen so zu leiten, daß sie den Psychosen des Hassens und des Vernichtens gegenüber widerstandsfähiger werden«.[1] Freud aktualisierte als Antwort an Einstein seine bereits im April 1915 geäußerte klare Absage an den Krieg: »Den psychischen Einstellungen, die uns der Kulturprozeß aufnötigt, widerspricht nun der Krieg in der grellsten Weise, darum müssen wir uns gegen ihn empören, wir vertragen ihn einfach nicht mehr, es ist nicht bloß eine intellektuelle und affektive Ablehnung, es ist bei uns Pazifisten eine konstitutionelle Intoleranz, eine Idiosynkrasie gleichsam in äußerster Vergrößerung. Und zwar scheint es, daß die ästhetischen Erniedrigungen des Krieges nicht viel weniger Anteil an unserer Auflehnung haben als seine Grausamkeiten. (...) Alles, was die Kulturentwicklung fördert, arbeitet auch gegen den Krieg.«[2]

Heute wissen alle, daß der Zweite Weltkrieg wirtschaftlich von langer Hand vorbereitet worden ist und auch von Politikern gewollt war. Leider nicht nur von Hitler und seiner Partei. Dem Volksmund ist die Psychoanalyse-Couch von Freud ebenso geläufig wie der Begriff »Ödipuskomplex« und die verschmitzte Bezeichnung »Freudsche Fehlleistung« zur hintergründigen Deutung für ganz harmlos erscheinende Versprecher oder gar Vergeßlichkeit. Wie kommt es aber, daß beim Stichwort Frieden nicht auch spontan der Pazifist Sigmund Freud genannt wird? Zweifellos leisten die Wissenschaftler um den Psychoanalytiker Horst Eberhard Richter seit Jahrzehnten in und durch die internationale Organisation »Ärzte gegen den Atomkrieg« wichtige Friedensarbeit, aber die Mehrzahl der Ärzte, Psychologen, Psychoanalytiker und Psychiater, auf die auch Einstein und Freud die Hoffnung setzten, daß sie von Berufs wegen dem Krieg die Rechtfertigung entziehen würden, blieben und bleiben seit 60 Jahren in diesem Friedenskampf abseits. Ist das einfach nur ein Vergessen?

Im »Psychoanalytischen Volksbuch« beschreibt Ludwig Jekels das, was nach Freud als innerer Vorgang einer »Fehlleistung« zu verstehen ist: »Das Vergessen eines Vorsatzes ist ein nahezu sicheres Anzeichen dafür, daß in unserer Seele außer und neben der bewußten Absicht ein sich auf das nämliche beziehender ›entgegengesetzter‹ Wille, ein uns selbst mehr oder minder uneingestandener ›Gegenwille‹ vorhanden ist. Und die beiden einander entgegengesetzten Strömungen, das gleichzeitig bewußte Wollen und unbewußte Nichtwollen einigen sich gleichsam – auf das Vergessen.«[3] Frieden muß also in bewußter Absicht gewollt werden, und der »uneingestandene Gegenwille« muß öffentlich reflektiert werden.

Damit »bewußtes Wollen und uneingestandenes Gegenwollen« sich nicht auch weiterhin gleichsam ungestört auf das Vergessen der Antikriegs-Argumente Freuds von 1915 und 1932 einigen können, möchte ich mit diesem Artikel einige Widerhaken setzen.

Während im April 1915 noch in Schulen, Kirchen und patriotischen Manifestationen der Kampf gegen die Feinde als »Heilige Pflicht« verklärt wurde, brandmarkte Freud in der psychoanalytischen Zeitschrift »Imago, 4« das staatliche Verhalten der Kriegsparteien als in höchstem Maße unmoralisch: »Es will uns scheinen, als hätte noch niemals ein Ereignis so viel kostbares Gemeingut der Menschen zerstört, so viele der klarsten Intelligenzen verwirrt, so gründlich das Hohe erniedrigt.«[4] »Der kriegführende Staat gibt sich jedes Unrecht, jede Gewalttätigkeit frei, die den Einzelnen entehren würde. Er bedient sich nicht nur der erlaubten List, sondern der bewußten Lüge und des absichtlichen Betrugs gegen den Feind, und dies zwar in einem Maße, welches das in früheren Kriegen Gebäuchliche zu übersteigen scheint. Der Staat fordert das Äußerste an Gehorsam und Aufopferung von seinen Bürgern, entmüdigt sie aber durch ein Übermaß von Verheimlichung (...) Er löst sich los von Zusicherungen und Verträgen, durch die er sich gegen andere Staaten gebunden hatte, bekennt sich ungescheut zu seiner Habgier und seinem Machtstreben, die dann der Einzelne aus Patriotismus gutheißen soll.«[5]

Freud war der Meinung, daß der Erste Weltkrieg hätte vermieden werden können, wenn nur die bereits bestehenden internationalen Gremien zur friedlichen Lösung der Konflikte zwischen den Regierungen ernsthaft in Anspruch genommen worden wären. Aber ganz im Gegensatz zu der durch geltendes Völkerrecht gegebenen Chance der Kriegsvermeidung sei dieser Krieg aus Machtstreben und Habgier ausdrücklich gewollt worden.

Freud äußert in seinem ausführlichen Antikriegstext nicht nur spontanen Protest. Er bezieht die Leser in eine Verpflichtung zu langfristigen Überlegungen ein: »Aber die großen Völker selbst, konnte man meinen, hätten so viel Verständnis für ihre Gemeinsamkeiten und so viel Toleranz für ihre Verschiedenheiten erworben, daß ›freund‹ und ›feindlich‹ nicht mehr wie noch im klassischen Altertum für sie zu einem Begriff verschmelzen durften (...) Der Krieg, an den wir nicht glauben wollten, brach nun aus (...) Er setzt sich über alle Einschränkungen hinaus, zu denen man sich in friedlichen Zeiten verpflichtet, die man das Völkerrecht genannt hatte (...) Er wirft nieder, was ihm im Wege steht in blinder Wut, als sollte es keine Zukunft und keinen Frieden unter den Menschen nach ihm geben.«[6]

Freud war sich dessen bewußt, daß Kriege nicht von Friedenswilligen abgeschafft werden können. Aber alle Friedenswilligen können sich dafür öffentlich einsetzen, daß Kriege nicht länger in patriotischer Verzückung des Heldentodes für Gott, Kaiser und Vaterland gerechtfertigt werden. Das bedingt auch ein neues, realistisches Verhältnis zum Tod. Aber die Neigung, den Tod aus der eigenen Lebensrechnung auszuschließen, läßt sich für den Krieg nicht länger aufrechterhalten. Im April 1915 ahnte Freud noch nicht, daß Giftgas tatsächlich erstmals zur Vernichtung der Feinde eingesetzt würde.

Und zur Irreführung über die eigentlichen Kriegsgründe hätten sich die Regierungen sogar Professoren dienstbar gemacht: »Selbst die Wissenschaft hat ihre leidenschaftslose Unparteilichkeit verloren; ihre aufs tiefste erbitterten Diener suchen ihr Waffen zu entnehmen, um einen Beitrag zur Bekämpfung des Feindes zu leisten. Der Anthropologe muß den Gegner für minderwertig und degeneriert erklären, der Psychiater die Diagnose seiner Geistes- oder Seelenstörung verkünden«.[7] »Der einzelne Volksangehörige kann in diesem Kriege mit Schrecken feststellen, was sich ihm gelegentlich schon in Friedenszeiten aufdrängen wollte, daß der Staat dem Einzelnen den Gebrauch des Unrechts untersagt hat nicht weil er es abschaffen, sondern weil er es monopolisieren will wie Salz und Tabak.«

Freud weiß, daß, durch den Soldateneid gebunden, jeder die Befehle des militärisch Vorgesetzten bedingungslos zu erfüllen hat. Persönliche Entscheidungen sind also nicht mehr an das persönliche Gewissen gebunden, sondern von den Entscheidungen der Kriegsführung abhängig. Freud hat über die Bedeutung des Gewissens durchaus umfassendere Erwägungen angestellt. Aber ich halte es für sehr wichtig, daß er im Zusammenhang seiner Ablehnung von Krieg sogar warnt: » (…) unser Gewissen ist nicht der unbeugsame Richter, für den die Ethiker es ausgeben, es ist in seinem Ursprung ›soziale Angst‹ und nichts anderes. Wo die Gemeinschaft den Vorwurf aufhebt, hört auch die Unterdrückung der bösen Gelüste auf, und die Menschen begehen Taten von Grausamkeit, Tücke, Verrat und Roheit, deren Möglichkeit man mit ihrem kulturellen Niveau für unvereinbar gehalten hätte.«[8]

Freud will mit seinem Beitrag zur heilsamen Desillusionierung des Krieges beitragen, während 1915 in der kriegsrechtfertigenden Propaganda allerorts suggeriert wird, daß auch die Opferbereitschaft der Zivilbevölkerung als Heimatfront den Sieg herbeiführen helfe. Freud will als verantwortlicher Wissenschaftler vor allem die hartnäckige Illusion entlarven helfen, daß das Böse durch Krieg besiegbar und möglicherweise sogar auszurotten sei: »Es kann also auch die Triebumbildung, auf welcher unsere Kultureignung beruht, durch Einwirkungen des Lebens dauernd oder zeitweilig rückgängig gemacht werden. Ohne Zweifel gehören die Einflüsse des Krieges zu den Mächten, welche solche Rückbildung erzeugen können und darum brauchen wir nicht allen jenen, die sich gegenwärtig unkulturell benehmen die Kulturneigung abzusprechen und dürfen erwarten, daß sich ihre Triebveredelung in ruhigeren Zeiten wieder herstellen wird.«[9] Freud ist sich darüber klar, daß Krieg nicht nur wegen Leid und Not abzuschaffen ist. Krieg ist Verneinung der Kultur, die die Völker so dringlich brauchen und darum mit friedlichen Mitteln verteidigen lernen müssen.

»Man braucht kein Mitleidsschwärmer zu sein, man kann die biologische und psychologische Notwendigkeit des Leidens für die Ökonomie des Menschenlebens einsehen und darf doch den Krieg in seinen Mitteln und Zielen verurteilen. Und das Aufhören des Krieges herbeisehnen.« [10]

Die Lehre Freuds hat im 20. Jahrhundert zu prägenden Erkenntnissen über den Menschen verholfen. Auf allen Kontinenten gibt es heute Institute, die nach seinen Erkenntnissen Psychoanalyse betreiben und sie mit neuen Erfahrungen weiterentwickeln. Unbeantwortet bleibt aber immer noch die Frage Freuds, mit der er 1932 den Brief an Einstein beschlossen hat: »Wie lange müssen wir nun warten, bis auch die anderen Pazifisten werden? (...) vielleicht ist es keine utopische Hoffnung, daß der Einfluß dieser beiden Momente der kulturellen Einstellung und der berechtigten Angst vor der Wirkung eines Zukunftskrieges den Kriegsführern in absehbarer Zeit ein Ende setzen wird (...) Alles, was die Kulturentwicklung fördert, arbeitet auch gegen den Krieg.« [11]

Ein fordernd-förderlicher Beitrag Sigmund Freuds zum Erinnern an die Befreiung vom Faschismus vor 60 Jahren.

Fußnoten
  1. Warum Krieg? von Albert Einstein, Sigmund Freud, Zürich 1996.
  2. Sigmund Freud: Essays Bd. III, Berlin (DDR) 1989, S. 425.
  3. Ludwig Jekels: Fehlleistungen im täglichen Leben, in: »Das Psychoanalytische Volksbuch«, Bern und Stuttgart 1957 S. 126.
  4. Sigmund Freud: Psychoanalyse, Ausgewählte Schriften, Leipzig 1984, S. 371.
  5. Ebenda, S. 371.
  6. Ebenda, S. 371.
  7. Ebenda, S. 367.
  8. Ebenda, S. 372.
  9. Ebenda, S. 379.
  10. Ebenda.
  11. Warum Krieg? A. a. O.
Ilsegret Fink – Jg. 1932; nach Theologiestudium in Jena 1960 als Pastorin ordiniert; Studentenpfarrerin, langjährige Mitarbeiterin der Evangelischen Akademie; Krankenhausseelsorgerin, aktiv in Friedens- und Frauenbewegung


* Aus: utopie kreativ, Heft 175 (Mai 2005), S. 470-473 utopie kreativ wird herausgegeben von der Rosa-Luxemburg-Stiftung e.V.;
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