Haben wir ein neues Bild vom Krieg?
Die "Enttabuisierung des Militärischen" (Bundeskanzler Schröder) ist weitgehend vollzogen
Von Johannes M. Becker*
Januar 1991: Eine Reihe von Staaten zerbombt mit UNO-Mandat
und 14 Milliarden DM-Zuschuss aus Bonn den Irak. - Deutschlands
Nachwuchs blockiert Kreuzungen und beschmiert Häuserwände:
"Kriegstreiber Kohl".
März 1999: Die NATO führt einen völkerrechtswidrigen
Angriffskrieg, die rosagrün geführte Bundeswehr ist in erster Front
dabei. Außenminister Joseph Fischer reklamiert "Auschwitz" als
historische Legitimation für die deutsche Teilnahme am Bomben. - Der Autoverkehr der Berliner Republik passiert ungehindert weiß getünchte Häuserwände.
November/Dezember 2001: Die rosagrüne Bundesregierung drängt
sich den im Afghanistan-Krieg führenden USA als Juniorpartner auf.
Der Kanzler desavouiert das Parlament mit der Vertrauensfrage,
vorher hatten die Fraktionsvorsitzenden der Regierungsparteien ihre
Abgeordneten entmündigt. Die Bundeswehr wird in Afghanistan,
am Horn von Afrika, vielleicht demnächst in Kenia stationiert.
Endlich darf Deutschland (nach einer kräftigen Steuererhöhung zur
Finanzierung des Vorhabens) Krieg führen. - Die Republik bleibt (weitgehend) ruhig. Wer hat den Film gewechselt?
Die Rede von Interessen
Der Klimawechsel in Deutschland, was das (weitreichende)
Schweigen der Friedensbewegung anbelangt, hat wesentlich mit
einem neuen Bild vom Krieg zu tun. Ich argumentiere in acht
Thesen.
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Die heute sich durchsetzende Politik beginnt nach dem Fall der
Mauer und nach dem Ende der Blockkonfrontation.
Das neue große Deutschland (in Frankreich und Großbritannien
grassiert zeitweise die Rede von "Le/The Großdeutschland")
fordert immer mehr Einfluß bei der Neuordnung der Welt. Erstes
Zeichen sind im Jahre 1992 die "Verteidigungspolitischen
Richtlinien" des Generalinspekteurs der Bundeswehr, Klaus
Naumann. Hier ist erstmals offiziell die Rede von der
Wahrnehmung von Interessen im Gegensatz zu den Aussagen des
Grundgesetzes, das die Bundeswehr auf Verteidigungsaufgaben
festlegt. Die Rede von "Interessen" und von der durch Deutschland
nun, nach "dem Geschenk der Wiedervereinigung", zu
übernehmenden Verantwortung löst im übrigen die tiefe
Legitimationskrise der Bundeswehr, die sich mit der Auflösung von
UdSSR und Warschauer Vertragsorganisation (WVO) ergeben hat.
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Diese neue Anlage der Sicherheitspolitik der westlichen Staaten
wird auf breitere Füße gestellt mit dem neuen NATO-Statut
(verabschiedet anläßlich der 50-Jahr-Feier im Mai 1999), in dem
drei wesentliche Neuerungen fixiert sind:
a) auch die NATO spricht nun nicht mehr von »Verteidigung« im
Falle eines Angriffs auf ein Mitgliedsland, sondern von der Wahrung
von Interessen (was ein gewaltiger Unterschied ist);
b) das Aktionsgebiet der NATO ist fortan nicht mehr auf den
nordatlantischen Raum begrenzt, die Interessen werden global
wahrgenommen;
c) die NATO agiert fortan notfalls auch ohne ein Mandat der UNO,
d.h. selbstmandatiert (der Jugoslawien-Krieg wird so im nachhinein
legitimiert).
Und wenn Caspar Weinberger, ehemals Verteidigungsminister der
USA, die Ölreserven der kaspischen Staaten als vital im Interesse
der USA stehend bezeichnet (jW vom 11.12.01), kann man über
den weiteren Fortgang der Konfliktlage vielerlei Vermutungen
anstellen.
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Das Bild vom Krieg hat sich auch infolge des Vietnam-Traumas
in den USA gewandelt. Zwei Faktoren sind hier zu nennen:
a) die Rede vom "chirurgischen Schlag" oder auch von der
"Technologisierung der Kriegführung" legt nahe, daß die Armeen
der Industriestaaten, vor allem natürlich die der USA, heute Ziele
akkurat, d.h. gerade ohne unerwünschte Nebeneffekte, treffen und
zerstören können. (Beide Begriffe kamen beim Golfkrieg gegen den
Irak 1991 erstmals auf und wurden weiter kultiviert im Krieg gegen
Jugoslawien 1999.) Die militärische Realität sieht allerdings anders
aus: Beispielsweise traf im vergangenen Jugoslawien-Krieg
lediglich ein Drittel (!) der High-tech-Waffen ihre Ziele. (Die NATO
selbst sprach von 50 bis 60 Prozent Treffergenauigkeit.) Im
Afghanistan-Krieg allerdings haben die USA bereits "Fortschritte"
gemacht durch das »Echtzeit«-Bombardement: In geringen Höhen
klärten unbemannte Drohnen auf
aus großen Höhen wurden dann gleichzeitig Bomben geworfen. Die Treffergenauigkeit verbesserte
sich deutlich.
b) Die Illusion vom »Krieg mit null Toten« (fr.: "la guerre ŕ zéro
morts") bedeutet, daß man quasi ohne eigene Verluste Krieg
führen kann. Die "Resultate" sind in der Tat beeindruckend: Im
Golfkrieg betrugen die Verluste der UN-Truppe lediglich zirka 150 (!)
Soldaten, im JugoslawienKrieg die der Aggressoren gar nur noch
wenige Dutzend Soldaten. Das Problem dieses Bildes vom "Krieg
mit null Toten" ist, daß er die Toten der Gegenseite, so im Irak mit
seinen 300.000 Toten des zweiten Golfkrieges, oder auch die
Zivilopfer in Jugoslawien, außer acht läßt. (Ab Anfang Dezember
2001 häuften sich die Meldungen, dass die US-Truppen in
Afghanistan größere Verluste zu verzeichnen haben: bis Ende
November angeblich 500. Dies mag die aufgezeigte Illusion
verletzen. Zum einen jedoch hatten die USA wohl nicht damit
gerechnet, eigene Bodentruppen im nun vollzogenen Ausmaße
einsetzen zu müssen; zum anderen halten sich die Verluste
quantitativ doch in derart engen Grenzen, daß ein neues Vietnam-
Trauma nicht zu erwarten ist. Im übrigen zog die US-Regierung
offenbar Lehren aus dem partiellen Debakel der afghanischen
"Nordallianz": Sie hat umfangreiche Sondierungen in Somalia und
im Irak begonnen, um lokale Oppositionsbewegungen dafür zu
gewinnen, Bodenkämpfe zu führen. Auch Ausbildungskapazitäten
werden eröffnet. Das Trauma des Ausblutens der eigenen Jugend
fern der USA sitzt tief...)
Neue Rechtfertigungsbasis
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Die Rechtfertigungsbasis für Kriege hat sich
- im globalen Maßstab - weiter gewandelt. Führte man früher offen
Eroberungskriege oder Kolonialkriege, und definierte man
insbesondere nach den Grauen des Zweiten Weltkrieges Rüstung
als notwendig zum Zwecke der Verteidigung (die Kriegsminister
hießen nun Verteidigungsminister), so führt man heute Kriege
gegen "Diktatoren" von "Schurkenstaaten", und - als Gipfel -
zum Wohle der Menschenrechte. Obendrein nennt man diese
Kriege dann auch noch "Luftschläge". Man beachte auch die feine
Nomenklatur mit "friedenserhaltenden" oder "friedensschaffenden
Maßnahmen". Aufrüstung und Krieg benötigt man in jedem Falle.
Das Militärkontingent, das in das zuvor zerbombte Afghanistan
geschickt worden ist, wird feinnervig "Schutztruppe" genannt.
Beim Krieg gegen den "Islamismus" hat man auch endlich wieder
einmal einen "Extremismus" und einen "-ismus" im Visier, wo die
übrigen "-ismen" verschwunden scheinen. Der "Schurke" erinnert
also an Kommun"ismus", gar an den Befreiungskrieg gegen den
Fasch"ismus".
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Die Medien, vor allem das Fernsehen, haben eine neue Rolle in
der Sicherheitspolitik inne. Bis zum Ende des Ost-West-Konfliktes
sind sie eher Nach-(Be)Richter. Der Irak-Krieg der NATO jedoch
läutet (maßgeblich unter der Dominanz des US-Senders CNN) eine
neue Ära ein: Nun begleiten TV-Teams Kriege mit Live-
Übertragungen, militärische Schläge orientieren sich an der Prime-
time großer Medien, deren Konzerne im Zuge der allumfassenden
Konzentrationen zudem auch mit Rüstungsproduzenten verwoben
sind.
Auch hier markiert Vietnam die Wende: Die Analyse des Pentagon
gibt den Medien eine wesentliche Rolle beim verlorenen Krieg, d.h.
beim verlorenen Rückhalt in der US-Bevölkerung. Die Konsequenz:
Frühes Einbinden der vor allem visuellen Medien in
Kriegsvorbereitung, sehr genaues Selektieren der
Nachrichtenströme (s. Jugoslawien-Krieg 1999), allumfassendes
Lenken medialen Vollzuges. Auch kleinräumlich ist ein Wandel zu
beobachten: Minister Scharping beispielsweise wird seit geraumer
Zeit von einem Medienunternehmen (Huntzinger in Frankfurt/M.)
beraten. Nichts soll mehr dem Zufall überlassen werden: Weder
soll ein Militärminister im Wüstensand stolpernd und fallend gefilmt
noch sollen Bilder von Fahrradunfällen Scharpings gezeigt werden
und Gegner wie Freunde nachdenklich machen.
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Die Abschaffung bzw. Aussetzung der Wehrpflicht, die in der
Bundesrepublik nach den kommenden Wahlen nicht lange auf sich
warten lassen wird, tut ein übriges: Die Existenz einer Armee von
Freiwilligen macht es leichter, Truppen in einen Krieg zu schicken
als eine Wehrpflichtigen-Armee. Auch wenn der folgende Satz das
Problem vereinfacht: "Eine Wehrpflichtarmee muß der Bevölkerung
erklären, warum sie in den Krieg zieht. Eine Berufsarmee muß
erklären, warum sie nicht in den Krieg zieht...", hat es eine
interventionsbereite Regierung sicherlich leichter im Umgang mit
Berufssoldaten. Kriegführen und Intervenieren wird mit einer
Berufsarmee zum normalen Politikvollzug.
Die Wehrpflicht wird derzeit von der militärischen und politischen
Führung vornehmlich aufrechterhalten zum Zwecke eines besseren
Zugriffs auf ein größeres Personal-Spektrum eines jeden
Jahrgangs. Die Bundeswehr ist nämlich, im Gegensatz zu
mancherlei Spekulationen auf der politischen Linken, nicht daran
interessiert, ein Sammelbecken Rechtsradikaler oder anderer
Marginalisierter zu werden.
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Auch die neue (u.a. deutsche, hier von Innenminister Schily
eingeführte) Strategie, Kriegsflüchtlinge "vor Ort" zu versorgen,
d.h. die kriegführenden Länder und ihre Bevölkerung nicht mehr mit
den unmittelbaren Folgen ihrer Kriege zu konfrontieren, dient dem
einen Ziel: Die Schwelle zum bewaffneten Konflikt soll weiter
gesenkt werden! (Kamen in den frühen 90er Jahren noch 400.000
bis 500.000 Flüchtlinge aus Jugoslawien nach Deutschland, so
betrug deren Zahl im Krieg von 1999 nur noch weniger als 100.000.)
Es gibt, um beim Thema zu bleiben, in der Bevölkerung kein "Bild
vom Krieg".
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Die US-Regierung hat die Terroranschläge vom 11.September
zum "Krieg" gegen die USA und gegen die "Zivilisation" erklärt.
Sie verdeutlichte in diesem Zusammenhang wiederholt, daß sie von
einem langen "Feldzug" gegen den Terrorismus ausgehe, der sich
nicht auf Afghanistan beschränken werde. Verschiedene - den
internationalen Terrorismus vermeintlich fördernde - Staaten
wurden genannt, in denen die Intervention weitergeführt werden
könnte: Irak, Somalia, Sudan... Anfang Dezember 2001 war die
Rede von etwa 50 Staaten, die sich im Visier der USA befänden.
Die Regierung Bush hat mit Reden vom "Krieg" gegen die USA
und dem notwendigerweise langen Abwehrkampf eine
Legitimationsgrundlage zu schaffen versucht für eine Politik der
permanenten Intervention. Auch eine neue Welle der Aufrüstung ist
hiermit verbunden. (Beim NMD, der weltraumgestützten
Raketenabwehr, z.B. werden die Terroranschläge zum Anlaß eines
gigantischen Rüstungsprojekts genommen. Dieses dient in
Wirklichkeit der Absicherung einer weltumfassenden
Interventionsfähigkeit der USA.)
Die FAZ (Jordan Mejias am 10.12.2001) schrieb in diesem
Zusammenhang über die plötzliche Renaissance des Gedenkens
an Pearl Harbor und seine Veteranen in den USA: "Pearl Harbor
muß derweil als leuchtendes Beispiel dienen, als Rezept, wie ein Trauma nicht nur zu überwinden ist, sondern durch den aufopfernden Einsatz der gesamten Nation auf viele Jahre hin patriotische Zinsen abwirft."
Permanente Intervention
Fazit: Das "neue Kriegsbild" bedeutet im wesentlichen, daß wir es - funktioniert das
Vorhaben - im Massenbewusstsein gar nicht mehr mit "Kriegen" zu tun haben, sondern mit einer besonderen,
durch die neuen Unsicherheiten der internationalen Gesellschaft erforderten Form der
Sicherheitspolitik. Sicherheitspolitik wird hier, und das ist der Sinn des Ganzen, auf Militärpolitik
reduziert.
Die mächtigen und reichen Staaten der Erde wollen auf Terrorismus und vor allem auf die
wachsenden sozialen Probleme nicht mehr politisch, sondern mit permanenter Intervention reagieren. Die
Europäische Union schickt sich an, eigene, d.h. von den USA unabhängige, Interventionskapazitäten
aufzubauen. Und die Bundesrepublik Deutschland paßt mit ihrer gerade vollzogenen und durch
den Mazedonien- und Afghanistan-Einsatz gleichsam gekrönten Wende von einer Tendenz zur Zivillogik
hin zur Militärlogik gut in diese neue sicherheitspolitische Welt.
Die latent zivilisatorische, teilweise pazifistische Haltung weiter Kreise der
Bundesrepublik in den ersten Nachkriegsjahrzehnten hatte ja Gründe: Zum ersten ist sie dem kollektiven Gedenken an die Greuel und Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges geschuldet, der ja seinen Ursprung im
faschistischen Deutschland hatte; zum zweiten mündete dieser Krieg bekanntlich in eine Desavouierung alles Militärischen und eine streitkräftefreie Zäsur von immerhin einem Jahrzehnt, an das sich dann eine
gewisse sicherheitspolitische Sonderrolle der Bundesrepublik anschloß, eingeschlossen
Rüstungsbeschränkungen infolge des WEU-Vertrages. Außerdem sollten die Wirkungen der
Hartnäckigkeit der sozialen Bewegungen gegen die Remilitarisierung, gegen die drohende Atombewaffnung,
gegen die Raketenstationierung, gegen den Golfkrieg etc. nicht unterschätzt werden. Immerhin
resultierte aus den letztgenannten Bewegungen auch der Aufstieg der Grünen als starker friedenspolitischer Partei - bis zu ihrem Regierungseintritt im Herbst 1998. Dann brachen eben diese Grünen der Friedensbewegung das Rückgrat.
All dies gilt es, mit klarem Kopf zu analysieren und die verbleibenden Kräfte zur Gegenwehr
zu sammeln.
* PD Dr. Johannes M. Becker lehrt Politikwissenschaften in Marburg, u.a. am Zentrum für
Konfliktforschung (ZfK). Das Manuskript entstammt einer Vortragsreihe an der Marburger
Philipps-Universität im Wintersemester 2001/2002 unter dem Titel "Intelligenter Frieden".
Der Text erscheint am 5. März 2002 auch in der "jungen welt".
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