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Mit dem Pazifismusbegriff wird Etikettenschwindel betrieben

Gewaltfreie Aktion als Antwort auf Gewalt

Von Wolfgang Sternstein*

Ludger Volmer entwickelt in seinem Artikel (FR-Dokumentation vom 7. 1. 02) eine interessante Theorie. Er unterscheidet einen gesinnungsethisch begründeten Pazifismus und einen "politischen" Pazifismus. Der gesinnungsethische Pazifismus sagt aus Gewissensgründen Nein zum Krieg. Der "politische" Pazifismus sagt nur bedingt Nein zum Krieg. Zu letzterem bekennt sich Volmer. Er unterscheidet zwischen guten und schlechten Kriegen. Den Krieg gegen den Terrorismus hält er für gut. Den Ersten und Zweiten Weltkrieg und den Vietnamkrieg hingegen für schlecht. Die Argumente, die Pazifisten gegen diese Kriege vortrugen und den Widerstand, den sie leisteten, hält er angesichts der terroristischen Bedrohung für historisch überholt.

Heute wissen wir, dass der Erste und der Zweite Weltkrieg, der Vietnamkrieg und der Kalte Krieg gigantische Verbrechen gegen die Menschlichkeit waren. Der Kalte Krieg war der mit Abstand teuerste und verlustreichste Krieg in der Geschichte der Menschheit, denkt man an die Vergeudung von Kapital und Ressourcen, die Umweltvergiftung durch radioaktive Abfälle und Tests sowie die 30 000 Hungertoten täglich, vornehmlich Kinder. Sie mussten sterben, weil das Geld in die Rüstung statt in die Entwicklungshilfe floss. Ich bin sicher, der Tag ist nicht mehr fern, an dem wir erkennen werden, dass auch der "Krieg gegen den Terrorismus" ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist.

Dennoch - das wird Ludger Volmer vielleicht überraschen - stimme ich seiner Kritik am gesinnungsethisch begründeten Pazifismus zu. Und zwar deshalb, weil dieser die Antwort auf die Frage: Was tun angesichts massiver Gewaltandrohung und Gewaltanwendung? schuldig bleibt. Ich meine, es ist höchste Zeit für eine differenziertere Betrachtungsweise.

Es gilt, zwischen vier Grundhaltungen zu unterscheiden: Erstens den Militarismus, der den Krieg als Prima Ratio des politischen Handelns betrachtet. Zweitens den Bellizismus, der ihn als Ultima Ratio der Konfliktaustragung ansieht. Drittens den Pazifismus, der aus gesinnungsethischer Überzeugung den Krieg bedingungslos ablehnt. Und schließlich viertens die Gewaltfreiheit, die in der gewaltfreien Aktion eine konstruktive Alternative zur Gewalt als Mittel der Konfliktaustragung erkennt. Was Volmer "politischen Pazifismus" nennt, ist in meiner Terminologie Bellizismus. In meinen Augen ist das, was er betreibt, Etikettenschwindel, denn sein "politischer Pazifismus" hat mit Pazifismus meines Erachtens nichts mehr zu tun.

Allerdings, bloßes Neinsagen zu Krieg und Gewalt ist nicht genug. Darin ist ihm zuzustimmen. Es kommt vielmehr darauf an, konstruktive Alternativen zu Krieg und Gewalt zu entwickeln und zu praktizieren. Eine solche Alternative gibt es in der Tat, es ist die gewaltfreie Aktion. Sie überwindet den Max Weberschen Gegensatz von pazifistischer Gesinnungsethik und realpolitischer Verantwortungsethik, denn sie gibt Antwort auf die Frage: Was tun angesichts massiver Gewaltandrohung und -anwendung?

Die Antwort lautet: Die Gewalt hinnehmen, ohne zurückzuschlagen, aber auch ohne zurückzuweichen, um sie auf diese Weise zu überwinden. Gewaltfreiheit hat demnach nichts zu tun mit feiger Flucht oder passiver Unterwerfung unter die Gewalt des Gegners. Sie ist vielmehr eine durch und durch kämpferische Haltung. Sie vereinigt in sich die positiven Aspekte des Bellizismus und des Pazifismus und vermeidet deren negative Aspekte. Mahatma Gandhi, Martin Luther King und andere haben die Tauglichkeit der gewaltfreien Aktion als Mittel der Konfliktlösung hinreichend erwiesen.

Zwischen der Haltung Volmers, die er "politischen Pazifismus" nennt und die ich Bellizismus nenne, und der Haltung der Gewaltfreiheit liegt eine existenzielle Schwelle. Wer sie überschreitet, erkennt schlagartig, dass Gewalt als Mittel der Konfliktaustragung völlig untauglich ist, sofern das Ziel darin besteht, den Konflikt dauerhaft und für alle Beteiligten befriedigend zu lösen. Sie ist folglich nicht allein aus religiösen und ethischen, sondern auch aus pragmatischen Gründen abzulehnen. Ebensogut könnte man versuchen, mit dem Fahrrad oder dem Auto auf den Mond zu fahren. Je früher wir die Vergeblichkeit dieses Unterfangens einsehen, desto besser, denn es erspart uns unnötigen Zeit-, Geld- und Kraftaufwand.

Wer die Schwelle überschritten hat, erkennt, dass der Versuch, Gewalt durch größere Gewalt zu überwinden oder durch Androhung von Gewalt dauerhaft in Schranken zu halten, zum Scheitern verurteilt ist. Gewalt im Angriff, in der Verteidigung oder in Vergeltung hat die Menschheit im Laufe der Geschichte nur immer tiefer in den Sumpf der Gewaltsamkeit hineingeführt, sodass sie heute am Rand des Abgrunds der Selbstvernichtung steht, wie jeder weiß, der nicht die Augen vor der Realität verschließt.

In der deutschen Geschichte, die eine Geschichte gescheiterter Revolutionen und im Blut ertränkter Aufstände ist, gibt es in der Nachkriegszeit einen neuen Ton: Die gewaltfreie Aktion. Obwohl nur halbherzig und inkonsequent angewandt, hat sie sich doch als äußerst wirksam erwiesen. Die gewaltfreie Aktion im Form von Platzbesetzungen, Massenkundgebungen und Demonstrationen haben das Atomkraftwerk Wyhl bei Freiburg verhindert. Sie haben bewirkt, dass die Wiederaufarbeitungsanlage in Gorleben bzw. Wackersdorf nicht gebaut wurde, Kalkar und Mülheim-Kärlich nicht ans Netz gingen und das Atomprogramm der Bundesregierung von 50 000 Megawatt auf nicht einmal 20 000 Megawatt reduziert wurde. Trotzdem gingen nirgends die Lichter aus.

Ich habe von Seiten der Regierung und der Wirtschaft noch kein Wort des Dankes gehört für die vielen Milliarden D-Mark an Fehlinvestitionen, die Umweltschützer verhindert haben. Das Gleiche gilt für die Friedensbewegung der achtziger Jahre. Sie konnte zwar die Stationierung der neuen Mittelstreckenraketen nicht verhindern. Sie hat aber indirekt zum Abrüstungsvertrag über sämtliche landgestützte Mittel- und Kurzstreckenraketen sowie zum Ende des Kalten Krieges beigetragen. Das Hauptverdienst an dieser Entwicklung gebührt zweifellos Michael Gorbatschow. Er wäre ohne die Friedensbewegung aber wohl kaum zum Generalsekretär der KPdSU gewählt worden.

Dafür habe ich einen Zeugen, der ernst genommen zu werden verdient: Es ist Georgij Arbatow, Nordamerika-Experte und Gorbatschow-Berater. Er sagte 1986 bei einem Symposion in Washington: "Die Friedensbewegung war ein Ausdruck des Bewusstseinswandels, der sich in der westdeutschen Bevölkerung abgespielt hat. Das war ein Faktor für unsere Entscheidung, Michail Gorbatschow als Verfechter eines dezidierten Entspannungskurses zum Generalsekretär zu wählen."

In diesem Zusammenhang darf der "gewaltfreie Aufstand" von 1989 in der DDR nicht vergessen werden. Er war die erste erfolgreiche Revolution in der deutschen Geschichte! Auch hier gilt, dass denen, die damals Kopf und Kragen riskierten, bis heute Dank und Anerkennung weitgehend verweigert wird.

In dieser Richtung hätte die Entwicklung der Bundesrepublik fortgesetzt werden sollen mit dem Ziel, konstruktive Alternativen zur Gewalt als Mittel der Konfliktaustragung auf allen politischen und gesellschaftlichen Ebenen zu etablieren. Das setzt freilich gesellschaftliche Basisarbeit voraus. Ein harter und undankbarer Job. Man riskiert dabei, gesellschaftlich geächtet und bestraft zu werden, unter Umständen sogar im Gefängnis zu landen.

Die Betreiber des "grünen Projekts" wollten dagegen hoch hinaus - in den Bundestag, in die Regierung! Doch dieses Unternehmen konnte nur gelingen unter Preisgabe all dessen, wofür die neuen sozialen Bewegungen angetreten waren. Das war schon damals erkennbar. An Warnungen vor diesem Weg hat es denn auch nicht gefehlt. Aus der "Antiparteien-Partei" (Petra Kelly) wurde innerhalb von nur zwanzig Jahren eine stinknormale Partei.

Misst man die derzeitige Politik der Grünen an den vier "Säulen", die einst das grüne Parteiprogramm trugen: ökologisch, sozial, gewaltfrei und basisdemokratisch, misst man sie auch nur an der Koalitionsvereinbarung von 1998, so kommen einem die Tränen. Volmer meint: "Das deutsche Ansehen in der Welt wuchs, gerade auch wegen der militärischen Zurückhaltung und des Selbstverständnisses als zivile Macht." Wohl wahr! Fragt sich nur, weshalb wir diese so erfolgreiche Politik aufgegeben haben zugunsten einer Politik, die im Nato-Bündnis überall in der Welt deutsche Interessen mit militärischen Mitteln durchzusetzen bereit ist.

Volmer erklärt: "Ein Pazifismus, der als politische Kraft ernst genommen werden will, darf nicht die Realitäten verdrängen, um sein Weltbild zu retten. Er darf nicht nur die anderen kritisieren, er muss selbst Antworten geben." Gewiss doch. Die gewaltfreie Aktion und die nichtmilitärischen Formen der Konfliktbearbeitung sind eine solche Antwort! Es fragt sich allerdings, wer die Realitäten verdrängt. "Humanitäre Intervention" ist eine gute Sache. Es fragt sich nur, mit welchen Mitteln sie erfolgt, ob mit gewaltsamen oder gewaltfreien Mitteln. "Humanitäre Intervention" kann sehr wohl ein Deckmantel für Interessenpolitik sein. Es geht beim Krieg in Afghanistan ja nicht allein um lautere Motive, wie dem Kampf gegen den Terrorismus oder die Befreiung des afghanischen Volkes vom Taliban-Regime. Es geht auch um das Öl und das Gas der Kaspi-Region. Volmer verdrängt diese Realität. Er behauptet: "Nicht Rohstoffinteressen sind bestimmend, sondern Verteidigung gegen neue terroristische Angriffe."

Seine Feststellung, es gebe nicht nur falsche Feindbilder, sondern auch echte Feindschaft, ist nicht gerade neu. "Massenvernichtungswaffen in den Händen von Terroristen - das ist die neue Gefahr, eine reale, nicht nur ein falsches Feindbild. Die Parole "Kampf dem Atomtod" wird Al Qaeda wenig beeindruckt haben."

Die USA hatten 1945 die Atombombe. Präsident Truman dankte Gott, dass die USA und nicht ihre Feinde diese Superwaffe besitzen. Der Gott Harry Trumans hat den Dank offenbar nicht honoriert, denn der ließ die Atombombe ziemlich rasch in die Hand der Feinde gelangen. Heute besitzen acht Staaten die Bombe und ein Ende der Weiterverbreitung ist nicht abzusehen. Auch staatliche und nichtstaatliche Terroristen werden früher oder später in ihren Besitz gelangen mit fürchterlichen Konsequenzen. Die Lage scheint ausweglos. Und doch gibt es einen Ausweg: "Verhandlungen über wirksame Maßnahmen zur Beendigung des nuklearen Wettrüstens in naher Zukunft und zur nuklearen Abrüstung . . . unter strenger und wirksamer internationaler Kontrolle". Zu solchen Verhandlungen haben sich die Vertragsstaaten in Art. VI des Nichtverbreitungsvertrags schon vor dreißig Jahren verpflichtet. Was hat die rot-grüne Bundesregierung, die sich doch als Sachwalterin der Friedensbewegung geriert, eigentlich getan, um die völkerrechtlich verbindliche Verpflichtung der Bundesrepublik einzulösen? Die vollständige atomare Abrüstung kann zwar nicht mit hundertprozentiger Sicherheit verhindern, dass Atomwaffen hergestellt werden und ihr Einsatz angedroht wird. Sie reduziert diese Gefahr jedoch ganz erheblich.

Nach soviel Kritik scheint mir auch ein Wort der Selbstkritik angebracht. Über gewaltfreie Aktion ist viel gesagt und geschrieben worden. Sie hat ihre Wirksamkeit als Methode der Konfliktlösung vielfältig unter Beweis gestellt, nicht zuletzt in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Woran es mangelt, sind Menschen, die sie im privaten und öffentlichen Bereich praktizieren. Sollte Ludger Volmer die Absicht haben, diesen Mangel zu kritisieren, so kann ich ihm nur "uneingeschränkt" (Wort des Jahres) zustimmen.

* Stuttgart, Friedens- und Konfliktforscher, Aktivist des zivilen Ungehorsams

Von der Dokumentationsseite der Frankfurter Rundschau, 20. Februar 2002


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