"Auch ein Höchstmaß an Militärmacht macht verwundbar"
Horst-Eberhard Richter über einen modernen und lebendigen Pazifismus
Den folgenden Beitrag schrieb Horst-Eberhard Richter als Antwort auf die Thesen des grünen Staatssekretärs Ludger Volmer. Richters Beitrag erschien am 5. Februar 2002 in der Frankfurter Rundschau.
Lassen sich die Deutschen in einen Krieg hineinziehen, erscheinen prompt Artikel
gegen den Pazifismus. Er wird entweder als blamable Feigheit oder als weltfremde
Blauäugigkeit oder gar als getarnte Sympathie mit dem jeweiligen Feind
hingestellt. Oder aber in Erklärungsnot geratene Ex-Kriegsgegner erfinden zur
eigenen Entlastung einen Pazifismusbegriff, der einen von ihnen aktuell gebilligten
Kriegseinsatz einzuschließen erlauben soll. Hier zu Lande haben sich eine Reihe
von Ex-68ern in den 90er Jahren offen von früheren pazifistischen Positionen
verabschiedet und ihren Wandel zu "Verrätern" begründet. Einige darunter hatten
sich allerdings nie im eigentlich pazifistischen Sinn, sondern nur gegen die
amerikanischen Raketen engagiert, so dass es eher ein Frontwechsel war, wenn
sie sich später auf die Nato-Seite schlugen.
Zur Bekämpfung von moralischen Selbstzweifeln hängen manche den
Pazifismus-Begriff so hoch, dass er nur zu Heiligen passt, zu Jesus oder Franz von
Assisi. Die Rede ist dann von einem abstrakten, von einem radikalen oder
absoluten Pazifismus. Der Trick besteht darin, die Gesinnung von der politischen
Realität abzukoppeln. Dabei wird immer wieder Max Webers Unterscheidung von
Gesinnungsethik und Verantwortungsethik zitiert. Helmut Schmidt bemühte sich
seinerzeit, die Billigung von atomaren Mittelstreckenraketen auf westdeutschem
Boden verantwortungsethisch zu begründen und den Gegnern gesinnungsethische
Träumerei vorzuhalten. Tatsächlich zeigte sich aber später, dass die Sowjets mit
neuen Kurzstreckenraketen im Stande gewesen wären, die amerikanischen
Pershings schnell auszuschalten, so dass Deutschland Opfer eines Atomkrieges
hätte werden können, der sich nicht interkontinental hätte ausweiten müssen.
Stattdessen erwies sich das gesinnungsethische Argument Gorbatschows, dass
nur eine Humanisierung der internationalen Beziehungen das Vertrauen zu einer
Auflösung des Bedrohungsdenkens schaffen könne, als entscheidendes Mittel zur
Beendigung des Kalten Krieges. Gorbatschows Vorleistungen mit einem
Atomtest-Stopp und einseitigem Abbau konventioneller Waffen leiteten die
Entspannung ein. Ganz klar erwies sich die Überlegenheit eines zugleich
gesinnungsgeleiteten wie verantwortlich in den Folgen vorausbedachten Handelns.
Wer alles daransetzt, seinen Überzeugungswandel vom entschiedenen
Kriegsgegner zum aktuellen Kriegsbefürworter zu verbergen, der kann, wie Ludger
Volmer, sagen: Nicht ich habe mich verän-dert, sondern die Welt ist eine andere
geworden. Seine gewundenen Argumente, in dieser Zeitung dargelegt, klingen so:
Zuvor hätten es die Pazifisten nur mit Projektionen, mit eingebildeten Feindbildern
zu tun gehabt. Nun aber handle es sich um wirkliche Feinde. Und deren
kriegerische Bekämpfung vertrage sich noch immer mit einem "politischen
Pazifismus".
Richtig ist natürlich, dass die terroristischen Anschläge vom 11. September eine
neue Form von politischem Massenverbrechen darstellen. Sie entsprechen in
anderer Dimension dem Typ der Selbstmordanschläge der Palästinenser in
Nahost. Aber die kriegerische Reaktion der USA in das Konzept eines "politischen
Pazifismus" einzuordnen, wie es Volmer versucht, ist nun wahrlich eine Zumutung.
Von politischem Pazifismus hätte man sprechen können, hätten die USA einen
Weg eingeschlagen, den eine große Zahl von amerikanischen, kanadischen und
eine Reihe von europäischen Wissenschaftlern dem amerikanischen Präsidenten
und allen Kongressmitgliedern in einem Brief empfahlen: nämlich die Schuldigen an
den Massenverbrechen zu verfolgen und mit den Mitteln des Rechts zu bestrafen.
Stattdessen würde ein Rachekrieg erstens viele Unschuldige treffen, würde die
Terrorakte zu kriegerischen Handlungen aufwerten und einen Abstieg zu der
gleichen primitiven Brutalität bedeuten, der man ausgesetzt worden sei. Im Übrigen
würde man damit höchstwahrscheinlich neuen Racheterror provo-zieren.
Tatsächlich hat der dennoch entfesselte Krieg nun in Afghanistan das schlimme
Taliban-Regime, das allerdings erst von den USA selbst an die Macht gebracht
worden war, beseitigt. Aber bisher ist nicht bekannt geworden, dass der
Bombenkrieg, der einige hundert Zivilisten das Leben gekostet hat, auch nur einen
einzigen der Verantwortlichen für die Anschläge in den USA getroffen oder in
Gefangenschaft gebracht habe. Wie sich herausgestellt hat, kamen die Täter zum
überwiegenden Teil aus dem mit Amerika befreundeten Saudi-Arabien. Finanziert
wurde der Terror hauptsächlich aus den Golf-Emiraten. Der eigentliche
terroristische Feind ist also von dem Krieg, der nun noch auf andere Territorien
ausgeweitet werden soll, gar nicht erfasst worden. Man hätte besser aus dem
Testfall Nahost lernen sollen, dass noch überlegener Waffeneinsatz das
fortwährende Nachwachsen von Selbstmordattentätern nicht verhindern,
stattdessen nur fördern kann. Nahost wäre für die USA und den Westen das
Lehrbeispiel, das davor warnt, eine endlose Gewaltkette zu entfesseln, die nur auf
einem Wege gebrochen werden kann, wie er durch die Vereinbarungen von Oslo
beinahe schon erreichbar schien. Fast drei Jahre war der Terrorismus fast
verschwunden, als die Palästinenser auf einen baldigen unabhängigen Staat und
auf Freigabe der besetzten Gebiete hoffen konnten.
In dieser Richtung allein liegt die Chance für eine Austrocknung des Nährbodens
für islamistische terroristische Gewalt. Und es wäre kurzsichtig, die Palästinenser
etwa aus ihrem Zentrum in Ost-Jerusalem, ihrer zweitheiligsten Stätte,
hinausdrängen zu lassen. Darüber sind sich die Friedensgruppen auf israelischer
und palästinensischer Seite, denen bislang allerdings durch die Grenzsperren eine
Zusammenarbeit verweigert wird, längst einig.
So ist der 11. September am allerwenigsten ein Argument für eine Rehabilitation
des Krieges, viel eher für eine Erweiterung des Programms eines modernen
Pazifismus. So deutlich wie nie zuvor haben die Terroranschläge bewiesen, dass
selbst ein Höchstmaß an offensiver und defensiver Militärmacht, verbunden mit
dem auf-wendigsten weltweit operierenden Geheimdienst, nichts an der eigenen
Verwundbarkeit ändert. Die Globalisierung führt uns vielmehr vor Augen, dass es
eine partielle Ohnmacht der Mächtigsten und eine partielle Macht der
Ohnmächtigsten gibt, das heißt eine unsichtbare Beziehung zueinander, die zur
Abwendung einer zerstörerischen Interaktion unbedingt Bemühungen um eine
konstruktive Kooperation verlangt.
Das hat der renommierte amerikanische Politikwissenschaftler Benjamin Barber
unmittelbar nach den Anschlägen in einem Brief an Präsident Bush präzise so
formuliert: "Terrorismus ist die negative und verzerrte Form der gegenseitigen
Abhängigkeit, die wir in der positiven und nützlichen Form nicht anzuerkennen
bereit sind."
Es gibt also in der globalisierten Gesellschaft nur eine gemeinsame Sicherheit.
Kein Weg führt daran vorbei, mit den islamischen Ländern, deren Mehrheiten sich
ohnehin zum eigenen Nutzen ein friedliches Zusammenleben mit dem Westen
wünschen, engere Verbindungen zu knüpfen. Ein zeitgemäßer Pazifismus ist nicht
mehr ein auf das Militärische eingeengter Anti-Pazifismus, sondern ein auf eine
Kultur des Friedens zielender Pro-Pazifismus.
Das schließt keine gezielten Polizeiaktionen gegen Massenverbrechen aus. Sein
Schwerpunkt liegt indessen in konstruktiver Arbeit am Abbau von
Ungerechtigkeiten und aggressionsträchtigen Entfremdungen. Alle noch so
großartigen technischen Kommunikationsmöglichkeiten nützen nichts, wenn nicht
der Wille zu persönlichen Begegnungen, zu gegenseitigem Zuhören und zum
Lernen voneinander hinzutritt. Nur die Bemühung um menschliche Nähe zueinander
weckt das Bewusstsein für die gegenseitige Verantwortung. Verantwortung ist
Nähe, und Nähe ist Verantwortung, stellt der polnische Soziologe Zygmunt
Bauman fest. Einen lebendigen Pazifismus dieser Art führt der gebrechliche Papst
Wojtyla vor: 2000 hat er an der Klagemauer in Jerusalem gebetet. 2001 hat er als
erstes katholisches Kirchenoberhaupt die Omaijaden-Moschee in Damaskus
besucht. Er setzt sich für eine Beendigung der Embargos gegen Kuba und Irak ein
und neuerdings gegen eine Ausdehnung der Terroristenverfolgung auf Länder,
Nationen und Religionen.
Dafür nimmt er Kritik aus der römischen Kurie in Kauf. Stirnrunzeln erträgt auch
Bundespräsident Rau für seine Äußerungen, wonach andere Kulturkreise uns im
Westen Vorstellung und Forderungen entgegenhielten, unser Verhalten zu ändern,
was wir akzeptieren müssten.
Hoch geachteten Autoritäten kann man schwer offen entgegentreten, wenn sie sich
mit solchen selbstkritischen Äußerungen oder mutigen Versöhnungsgesten
hervorwagen. Anderen, die sich im gleichen Sinne für ein Brückenschlagen
einsetzen, ergeht es ähnlich wie den humanistischen Gruppen der
Friedensbewegung Mitte der 80er Jahre, denen das Eintreten für eine
blockübergreifende Verständigung und Vertrauensbildung prompt als Ausscheren
aus der gebotenen westlichen Solidarität ausgelegt wurde. So wie sich im
Augenblick Staatsminister Ludger Volmer nicht verkneifen kann, Kriegskritikern
Verdrängung und eine Verkehrung des TäterOpfer-Verhältnisses vorzuwerfen,
genauso wurden wir Friedensärzte der IPPNW von der bundesdeutschen Obrigkeit
öffentlich diskriminiert, als wir 1985 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet
wurden.
Damals protestierte sogar Helmut Kohl in Oslo höchstpersönlich und musste sich
vom Vorsitzenden des Nobel-Komitees sagen lassen, dass er der erste
Regierungschef nach Adolf Hitler sei, der in dieser Eigenschaft gegen eine
Preisvergabe protestiert habe. Wie in den 80er Jahren werden sich auch heute
Pazifisten im echten Sinne nicht durch die üblichen Verdächtigungen
einschüchtern lassen. Sie werden zunächst am Abbau der neuen Variante der
geistigen Spaltung der Welt in die Guten, das sind wir, und das Böse draußen
weiterarbeiten - in der Besorgnis, dass dieses Böse womöglich bald noch je nach
strategischer Planung weiteren Ländern zugeteilt werden soll.
Dokumentiert in der Frankfurter Rundschau vom 5. Februar 2002
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