Vom Realopazifismus und dem Bündel an enttäuschten Erwartungen
Politiker müssen der Forderung nach nahezu unbedingtem Gehorsam widerstehen
Von Bischof Axel Noack*
Ein Pazifismus, der sich als politische Kraft versteht, dürfe sich vor der
Realität von Gewalt und Terror in der Welt nicht drücken, argumentierte
Ludger Volmer (Grüne), Staatsminister im Auswärtigen Amt, in der FR vom
7. Januar. Die daraufhin einsetzende Debatte hat auch Axel Noack, Bischof
der Evangelischen Kirche in Sachsen, sowie Wolfgang Sternstein,
Stuttgarter Friedens- und Konfliktforscher, Bürgerinitiativler und
bekenennder Aktivist des zivilen Ungehorsams, zu Kritik an Volmers
Thesen gereizt. Noack fordert mehr politische Aufrichtigkeit ein, Sternstein
spricht von Preisgabe grüner Ehrenprinzipien.
Der Pazifismus hat es schwer in Deutschland - jetzt nach dem 11. September erst
recht! Die Klagen darüber sind allgegenwärtig, und im Grunde genommen sind sie
nicht neu. Auch das, was Ludger Volmer in der FR vorgetragen hat, ist bei aller
feinsinnigen Unterscheidung verschiedenster Pazifismustypen kein neuer Einwand.
Zu allen Zeiten schon hat gegolten, dass eine pazifistische Haltung eigentlich nicht
gehe, denn "es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, solange es dem bösen
Nachbarn nicht gefällt". Mit der Bergpredigt könne man nun einmal die Welt nicht
regieren und die Menschen, die Verhältnisse oder beide sind nun mal nicht so,
dass es irgendwie etwas bringen würde, wenn man geschlagen auf die rechte
Wange auch noch die linke hinhalten wolle. Und also ist Pazifismus schon immer
als nicht "politikfähig" kritisiert worden. Wie gesagt, daran hat sich nichts geändert.
Was sich allerdings in den letzten Jahren deutlich geändert hat, ist, dass die Zahl
derer, die sich selber als Pazifisten bezeichnen und die dies auch in der
Öffentlichkeit zu erkennen gegeben haben. Die Pazifisten sind weniger geworden,
langsam, aber nicht mehr übersehbar. Friedensgruppen haben erhebliche Verluste
hinsichtlich ihrer Mitglieder hinnehmen müssen, und Pazifisten werden wieder
einmal zu Außenseitern und Einzelkämpfern.
Es ist schon erstaunlich, wie leicht und ohne größeren Widerspruch Militäraktionen
deutscher Soldaten im Ausland beschlossen und durchgeführt werden. Vor zehn
Jahren hätte es noch einen Aufschrei durch das ganze Land gegeben, wenn
irgendwo jemand gewagt hätte zu behaupten, die Bundeswehr würde sich von einer
"Verteidigungsarmee" zu einer "Einsatzarmee" verändern. Heute scheint das
niemanden mehr aufzuregen, man hat sich daran gewöhnt. Dennoch muss die
Frage erlaubt sein, warum so viele Menschen, die damals in der Friedensbewegung
große Hoffnungen hegten und sich als Pazifisten engagierten, heute nicht mehr auf
den Plan treten. Ist da Resignation im Spiel?
Freilich, die großen Hoffnungen der Friedensbewegung haben sich nicht erfüllt.
Heute kann mit einigem Nachdruck behauptet werden, dass das eigentliche Ende
des Ost-West-Konfliktes und der Zusammenbruch der Sowjetunion letztlich auf die
deutliche Überlegenheit des Westens zurückzuführen sei und die schließt die
waffentechnische Überlegenheit ein. Die Gegner der Nachrüstung in den 80er
Jahren im Osten werden heute noch nostalgisch als "ehemalige Bürgerrechtler"
einigermaßen positiv erwähnt, während die Gegner der Nachrüstung im Westen
eigentlich nur noch Spott und Hohn für ihre damalige Haltung ernten.
Und auch nach der Wende und am Ende des Ost-West-Konfliktes haben sich viele
Hoffnungen nicht erfüllt. Die Aussicht auf Konversion und weitestgehende
Abrüstung haben sich gründlich zerschlagen. Zehn Jahre lang schien es so, als ob
mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes auch ein Ende des Rüstungswettlaufs
einhergehe. Nun scheint sich immer deutlicher herauszustellen, dass die
Rüstungsspirale neuen Antrieb erhält, nur dass diesmal Europa und die USA zu
einem Rüstungswettlauf miteinander angetreten sind. Diejenigen, die
Rüstungsgüter herstellen und verkaufen, wird es letzten Endes freuen.
Zu den Enttäuschungen gehört auch, dass nun klar zu Tage getreten ist, dass der
deutsche Rüstungsexport bei einer rot-grünen Bundesregierung keine deutliche
Einschränkung erfahren hat. Der kürzlich vorgelegte 5. Rüstungsexportbericht für
das Jahr 2001 der Gemeinsamen Konferenz Kirche und Entwicklung vom 17. 12.
2001 weist dies eindeutig aus. Besonders beim Export von so genannten
"Großwaffen" in Entwicklungsländer liegt der Anteil der Lieferungen deutlich über
dem langjährigen Schnitt. Überhaupt scheint durch den Eintritt der Bündnisgrünen
in die Regierung die politische Stimme des Pazifismus deutlich geschwächt zu
sein, denn dass alle aufrechten Pazifisten im Lande sich nur noch von der PDS
vertreten fühlen sollen, wird man wohl nicht ernsthaft annehmen können. Die
hoffnungslose Perspektive, dass einer Ächtung der Gewalt eine vernünftige Bindung
an das Recht und die Schaffung eines Gewaltmonopols im Sinne einer
"Weltinnenpolitik" vorausgehen könnte, hat wohl ebenfalls getrogen.
Selbst Ludger Volmer spricht noch von einer Weltinnenpolitik und erwähnt die UN
als die rechtlich übergeordnete Instanz, der es möglich sein müsste, Waffengewalt
und Militärgewalt an das Recht zu binden. Eine rechtlich verfasste internationale
Ordnung kann nur Friedensordnung sein, wenn sie unter dem Recht steht, d. h.
wenn das Recht in ihr als verbindlich anerkannt wird. Auch die Kirchen haben
immer wieder ein UN-Mandat für die Entscheidung zum Einsatz militärischer
Gewalt angemahnt. Dabei ist doch nicht zu übersehen, dass die UN in ihrer
derzeitigen Verfassung gar nicht in der Lage ist, wirklich eine auch von den
Mitgliedern getragene Weltinnenpolitik auch nur ansatzweise durchzusetzen. Die
Schwäche der UN gründet natürlich auch darin, dass die USA zu den säumigsten
Zahlern von Beiträgen gehören und, wie es auf der militärischen Tagung in
München deutlich wurde, im Zweifelsfall immer alle Entscheidungen auch ohne die
UN, ja sogar ohne die Mitsprache der Verbündeten in der Nato, zu treffen bereit
sind.
Dass nun in der so nötigen Bekämpfung des Terrorismus von ernst zu nehmenden
Menschen wieder über die Einführung der Folter nachgedacht wird, hätten sich die
schwärzesten Pessimisten in ihren finstersten Träumen nicht vorstellen können.
Selbst die von den demokratischen Staaten längst verinnerlichten Regeln der
Behandlung von Gefangenen scheinen plötzlich auf Guantanamo auf Kuba nicht
mehr oder nur noch sehr eingeschränkt zu gelten. Hinzu kommt, dass auch die
Hoffnung geschwunden ist, mit vereinter Anstrengung z. B. einer effektiven
Gestaltung der Entwicklungshilfe in der Dritten Welt soweit Gerechtigkeit
widerfahren zu lassen, dass Kriegsursachen schon in der Wurzel bekämpft werden
könnten. Schließlich darf nicht übersehen werden, dass sich auch für Christen und
Vertreter anderer Religionen die Lage deutlich verändert hat: Religionen gelten -
nicht zuletzt wegen des fundamentalistischen Islams - weithin als eine Quelle des
Unfriedens in der Welt. Man braucht ja nur auf Israel oder Nordirland zu verweisen.
Der für uns Christen so bewährte Satz: "Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein!"
scheint angesichts der derzeitigen politischen Lage zu dem Satz: "Krieg soll nach
Gottes Willen sein, wenn er der Verhinderung von Menschenrechtsverletzungen
dient" zu mutieren.
Wir haben es also mit einem ganzen Bündel von Enttäuschungen, enttäuschenden
Entwicklungen und Verunsicherungen zu tun, und das kann schon erklären helfen,
warum so viele Menschen sich aus der Friedensbewegung zurückgezogen haben.
Engagement setzt Hoffnung und Perspektive voraus, und wenn die verloren gehen,
wird es um das Engagement auch deutlich stiller werden.
Angesichts dieser ernüchternden Lagebeschreibung rät Ludger Volmer nun den
Schritt zum so genannten "politischen Pazifismus", den man sich als eine Art
"Realo-Pazifismus" vorstellen muss, der sich deutlich von allen Fundamentalismen
abgrenzt und unterscheidet. Er soll einerseits "normengeleitet" und andererseits
sich "seiner historischen Bedingtheit bewusst" sein. So weit, so gut: Nur, ohne
Pazifisten wird es auch keinen politischen Pazifismus geben, und die Frage muss
daher auch lauten: Wie gelingt es, Menschen angesichts solcher ernüchternden
Einsichten innerlich so stabil zu machen, dass sie mit den allgegenwärtigen
Enttäuschungen umgehen können und nicht resigniert aufgeben? Sind etwa der
Sisyphos aus der Mythologie und das Stehaufmännchen aus dem Kinderzimmer
geeignete Vorbildfiguren? Woher nimmt jener seine Kraft zum jeweils neuen
Aufstieg und dieses seine Fähigkeit, aus der Niederlage wieder emporzuschnellen?
Beim Stehaufmännchen ist die Antwort relativ einfach. Es braucht eine fest
gegründete Basis und einen leichten Kopf, um nach Niederlagen wieder
hochzukommen. Über beides wird man reden müssen: über die Tragfähigkeit
unserer Basis und über die Klarheit in unseren Köpfen.
Hoffnung auf ein Ziel, das in ganz weite Ferne rückt, ist schwer durchzuhalten. Die
beständige Anspannung des Willens ohne Erfolg und Genugtuung zehrt an der
Selbstachtung und macht müde. Die Quellen unserer Zuversicht stehen zur
Diskussion. Als Christ habe ich keine Scheu zu behaupten, dass das die
Geborgenheit, die ich in meinem Glauben habe, ist, die mich nicht mutlos werden
lässt. Worauf gründen sich dann diejenigen, denen es nicht möglich ist zu
glauben? Gibt es in der säkularen Welt verinnerlichte Grundsätze, deren
Begründung in sich selbst ruht und die mich zu tragen in der Lage sind? Ich wäre
der Letzte, der das bestreiten wollte. Ist es eigentlich erlaubt, danach zu fragen,
was mich trägt und woran ich mich halte, wenn es ernst wird? Oder gehört das
nicht, weil Religion eben "Privatsache" ist, in den Bereich der Intimsphäre? Es
scheint ungewöhnlich und verwegen zu sein, solche Themen in einer Tageszeitung
ansprechen zu wollen. Ich denke aber, dass die Pazifisten - auch diejenigen, die
sich für "religiös unmusikalisch" halten - den ehrlichen Diskurs über den Grund
ihrer Zuversicht und den Punkt, an denen sie ihr Engagement letztlich festmachen,
wirklich brauchen. Man wird auch darüber reden müssen, ob unserer säkularen
Welt nicht nur die religiöse Sprache abhanden gekommen ist, wie es Jürgen
Habermas unlängst getan hat. Nein, man wird auch darüber zu reden haben, was
wir verlieren, wenn Glaube und Religion als Motivationskraft weithin ausfallen.
Nämlich als Motivationskraft, die es versteht, aus Enttäuschungen Klarsicht und
aus Niederlagen neuen Schwung zu gewinnen.
Die viel gerühmten "Werte" und "leitenden Normen" schweben nicht im luftleeren
Raum. Sie müssen in Leitlinien umgesprochen und diese in konkrete, auch
erlernbare Lebensregeln umgesetzt werden. Ludger Volmer wird da meines
Erachtens nicht konkret genug. Gerade ein "politischer Pazifismus" darf sich nicht
scheuen, konkrete politische Ziele zu benennen. Es nützt nicht, so hohe ethische
Ziele zu formulieren, dass ich im praktischen Alltag immer wieder bequem darunter
hindurch- laufen kann.
Volmers Definition des politischen Pluralismus bewegt sich in solcher Höhe.
Gerade die hier formulierten Richtungen lassen nun aber auch danach fragen, was
daraus für das politische Handeln der Bundesregierung zu folgen hat: Wie verträgt
es sich, z. B. das Primat der Politik und die Abwägung von wichtigen politischen
Entscheidungen mit einer Vertrauensfrage zu koppeln. Das mag rechtlich legitim
sein, trägt aber den deutlichen Makel, dass es hier nicht um sachgerechte,
sondern um parteitaktische Entscheidungen gehen soll. In unserer Demokratie, die
Meinungsvielfalt nicht nur zulassen muss, sondern diese zur Wahrheits- und
Entscheidungsfindung dringend braucht, wurde die Zustimmung zur Position der
Bundesregierung zur Bekenntnisfrage hochstilisiert. Wer an den Entscheidungen
der Regierung Kritik übt, verweigert den Opfern des 11. September nicht seine
Solidarität. Auch ein politischer Pazifismus muss der Forderung nach nahezu
"unbedingtem Gehorsam" widersprechen. Falsche Entscheidungen werden nicht
dadurch richtig, dass ich sie mit schlechtem Gewissen und unter "großen
Bedenken" getroffen habe. Es gibt Situationen, in denen es nur um "Ja" oder
"Nein" geht. Einschränkende Zusätze und die Betonung der "Bauchschmerzen"
dienen allein dem eigenen Seelenfrieden.
Die Forderung nach der Verhältnismäßigkeit der Mittel schließt die Forderung nach
einer genauen Analyse des Erreichten nach erfolgten Militäreinsätzen und
Bombardierungen zwingend mit ein. Solche Analysen stehen sowohl für den
GolfKrieg als auch für die Bombardierung Jugoslawiens noch aus. Es ist einem
demokratischen Staatswesen abträglich, wenn der Öffentlichkeit unter dem
Argument der militärisch gebotenen Geheimhaltung Informationen, die zum
Mittragen von Entscheidungen nötig sind, immer wieder vorenthalten werden.
Soll die militärische Gewaltanwendung als "Ultima Ratio" gelten, darf uns die
Vernunft nicht unter die Räder kommen. Nichtrationaler feindseeliger Rhetorik
("Schurkenstaat", "Achse des Bösen", "Kreuzzug") nach außen ist genauso wie
der verharmlosenden Redeweise ("Kolateralschaden") nach innen entschieden zu
widersprechen.
Dass Bomben immer auch Unschuldige treffen, wird niemand bestreiten wollen.
Und es muss auch gefragt werden dürfen, wie denn z. B. die Position gegen eine
"verbrauchende Embryonenforschung" letztlich plausibel gemacht und
durchgehalten werden kann, wenn die "verbrauchende Terrorismusbekämpfung",
die es billigend in Kauf nimmt, Unschuldige zu Opfern zu machen, keine dauernde
Kritik erfährt.
Die Forderung nach einer Weltinnenpolitik schließt auch rechtsstaatliche
Methoden der Verbrechensbekämpfung ein: Schuldigen muss die Schuld
nachgewiesen werden. Es reicht nicht, "die Geltung des humanitären
Kriegsvölkerrechtes" zu fordern, aber das Reden zu Guantanamo
Nichtregierungsorganisationen und Kirchen zu überlassen.
* Bischof der Evangelischen Kirche in Sachsen
Von der Dokumentationsseite der Frankfurter Rundschau, 20. Februar 2002
Weitere Beiträge zur Pazifismus-Debatte
Zur Seite "Kirche und Friedensbewegung"
Zurück zur Homepage