Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

"So lange die durch die digitale Umwälzung aufgeworfenen Probleme und Hoffnungen bestehen, könnte diese Partei bleiben" / "Eine gewöhnliche Partei einer aufstrebenden gebildeten Bürgerschicht der technischen Intelligenz"

Georg Fülberth und Thomas Lohmeier debattieren im "neuen deutschland" über die Piratenpartei


Mehr als das Projekt einer Generation

Von Georg Fülberth *

Der Aufstieg der Piratenpartei wird zuweilen mit den Anfängen der Grünen verglichen: zwei Parteien, die aus dem Nichts zu kommen schienen; die eine ist mittlerweile etabliert, die andere könnte es werden.

Auf den ersten Blick gibt es einen Unterschied. Die Grünen hatten einen langen außerparlamentarischen Vorlauf: Umwelt-, neue Frauen- und Friedensbewegung. Bei den Piraten scheint das zu fehlen. Andererseits: Schon seit Jahrzehnten besteht der Chaos Computer Club. Und in dem Maße, in dem die Digitalisierung über die Produktion hinaus in die individuellen Massenkommunikation hinausgriff, bildeten sich Netzwerk-Gemeinden, die sich eben nicht mehr vor allem auf Straßen und Plätzen bemerkbar machen.

Wer vergleichen will, sollte eine längere historische Perspektive wählen.

Die Erste Individuelle Revolution vor zweihundert Jahren stellte die soziale Frage: Wohin führten Massenarmut und Ungleichheit? Eine mögliche negative Antwort: Ruin der Arbeitskraft und damit der Grundlagen des Kapitalismus selbst. Gewerkschaften und sozialistische Organisationen wehrten sich dagegen und und sahen eine andere Möglichkeit: Nutzung der enormen Produktivität für einen »Verein freier Menschen« (Marx) auf der Basis gesellschaftlichen Eigentums und umfassender Demokratie.

Daraus wurde nicht sehr viel: Die soziale Frage in ihrer wüstesten Form wurde und wird an die globalen, nationalen und urbanen Peripherien verdrängt und in den Zentren mehr oder weniger wohlfahrtsstaatlich verwaltet. Sie nahm damit die Form an, die mit dem Fortbestand des Kapitalismus vereinbar bleibt.

Inzwischen hat dieser ein neues Problem: Plünderung natürlicher Ressourcen, Belastung von Boden, Luft und Wasser, die Risiken der Kernenergie greifen seine stofflichen Grundlagen an. Der Bericht des Club of Rome über die Grenzen des Wachstums (1972) verwies auf eine denkbare Apokalypse: eine unbewohnbare Erde.

Die ökologische Frage wurde von Teilen der Intelligenz gestellt. Diese war inzwischen zu einer Massenschicht angewachsen, nicht mehr vergleichbar mit den paar Akademikern früherer Zeiten. Die fortgesetzte Steigerung der Produktivität hatte die Befreiung vieler Menschen von der Hand- und ihre Beschäftigung mit Kopfarbeit ermöglicht. Die politischen Loyalitäten der neuen Massenschicht verteilten sich in der Bundesrepublik über das gesamte Parteienspektrum: Ärzte, Betriebswirte, Juristen standen eher CDU/CSU und FDP nahe, Ingenieure und Naturwissenschaftler der Union, den Freie Demokraten und der SPD. Zugleich trieb ein ebenfalls wachsender Teil der Intelligenz - Naturwissenschaftler und Ingenieure - diesen Prozess noch voran.

Der produktionsfernste Sektor der neuen Massenschicht, Gesellschafts- und Geisteswissenschaftler(innen), hatte 1968 ff. eine besondere Sozialisation durchlaufen, schwankte kurz zwischen Faschismus- und Kriegsfurcht einerseits, der Vision der universellen Befreiung andererseits und landete schließlich ernüchtert bei den Grünen. Von deren Katalog: »Ökologisch, sozial, basisdemokratisch, gewaltfrei« blieb nach Jugoslawienkrieg, Agenda 2010 und Fischer schließlich nur noch die Umweltpolitik.

Mit der Digitalen Revolution differenzierte sich eine weitere Gruppe der Intelligenz heraus: IT-Spezialisten und andere Netzaffine. Eine Apokalypse wird in dem Bestseller »Angst« Robert Harris sichtbar: Verselbstständigung eines Algorithmus steuert einen Hedgefonds. Die Enttarnung eines Geheimdienst-Trojaners 2011 zeigte die Gefahr des totalen Überwachungsstaats. Zugleich öffnet sich die Chance neuer Freiheiten und wunderbaren kulturellen Konsums: kostenlose Downloads, »liquid democracy«, Transparenz.

Als die grüne Partei entstand, galt sie als das Projekt einer Generation, das mit diesen Jahrgängen wieder verschwinden werde. Das war ein Irrtum. Ihr Kern-Thema blieb. Für die Piraten könnte dies ebenfalls gelten. So lange die durch die digitale Umwälzung aufgeworfenen Probleme und Hoffnungen bestehen, könnte diese Partei - auch jenseits eines aktuellen Wutbürger-Nebeneffekts - bleiben. So ist es ja mit der angeblich alten und immer neuen sozialen Frage - die Organisationen, die sich auf sie beziehen, wandeln sich, gehen unter, entstehen wieder und erübrigen sich ebenfalls nicht.

* Georg Fülberth ist Politikwissenschaftler und lehrte an der Universität Marburg.


(K)ein Zeichen aus der Zukunft

Von Thomas Lohmeier **

Während der Piratenpartei von links wahlweise Neoliberalismus, Naivität, Rechtslastigkeit oder Frauenfeindlichkeit vorgeworfen werden, klingen die Vorwürfe von rechts fast origineller: Die Piraten seien eine »Linkspartei mit Internetanschluss« tönte FDP-Chef Philipp Rösler kürzlich, und FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher attestierte ihnen bereits 2009 Neigungen zum Marxismus, weil ihr Verhältnis zum Eigentum ungeklärt sei. Tatsächlich fordern sie freien Zugang zur Bildung oder die radikale Änderung des Urheberrechts.

Über Letzteres tobt gerade eine heftige Debatte in den Feuilletons der Republik: Angestoßen von einem Wutausbruch des Musikers und Schriftstellers Sven Regener führen Tatort-Autoren und das Handelsblatt die Kampagne »Mein Kopf gehört mir«. Softwareentwickler und Piraten fordern dagegen eine faire Bezahlung statt nutzloser Urheberrechte.

Leider sind die Piraten nicht die Vorhut des Kommunismus, wie Schirrmacher suggeriert. Trotzdem ist zu fragen, ob das Gespenst, das hier von bürgerlicher Seite an die Wand gemalt wird, nicht Zeichen für einen sich wandelnden Kapitalismus ist. Katja Kullmann interpretiert die Piratenpartei als Versuch einer neuen bürgerlichen Klasse, sich - wenn auch »vorläufig noch etwas stümperhaft« - über ihre Interessen zu verständigen. Die Wissensarbeiter und Softwareentwickler übertragen ihre alltäglichen Erfahrungen mit der Beschränkung der Wissensproduktion durch Patent- und Urheberrechte auf andere Lebensbereiche: Warum sich mit der Forderung nach einer freien Netzinfrastruktur zufrieden geben, wenn eine freie Verkehrsinfrastruktur genauso wichtig für Arbeit und Leben ist?

Wer Arbeit, Bezahlung und Nutzung der Arbeitsprodukte entkoppelt, ist schnell bei Ideen wie dem Grundeinkommen. Das Arbeitsprodukt gilt dann nicht mehr als privates Eigentum; das Eigentumsrecht am Produkt wird so gestaltet, dass es kollektives Eigentum bleibt. Und während Teile der Linken noch dem Eigentumsbegriff John Lockes anhängen, nach dem Arbeit Eigentum begründet, lässt diese Klasse - ohne es zu ahnen - die Marxsche Kritik praktisch werden: Jeder arbeitet nach seinen Fähigkeiten und konsumiert nach seinen Bedürfnissen. Getreu der Kritik des Gothaer Programms, wo Marx sich gegen die Vorstellung wandte, dass Gerechtigkeit hergestellt sei, wenn nur jeder Arbeiter den vollen Ertrag seiner Arbeit erhielte und formulierte: »Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen.«

Dennoch ist die Piratenpartei in ihrer Kapitalismuskritik nicht konsequent. Statt im »Spiegel«-Streitgespräch mit dem Musiker Jan Delay über die Entlohnung von Künstlern eine Kulturflatrate zu fordern, plädierte der kulturpolitische Sprecher der Piraten im Abgeordnetenhaus Berlin, Christopher Lauer, hilflos für eine freiwillige Bezahlkultur. Eine zu Ende gedachte Kritik an der Warenförmigkeit der Wissensproduktion wäre aber tatsächlich ein Zeichen aus einer postkapitalistischen Zukunft. Doch das geforderte Grundeinkommen wird nicht als Demokratiepauschale konzipiert. Statt dessen diskutieren die »Sozialpiraten« Modelle, die Hartz-IV-Betroffene finanziell noch schlechter stellen würden.

Selbst ihr Transparenzfetisch führt nicht zu mehr Demokratie: In Zeiten der Postdemokratie, wo der Widerspruch zwischen der Idee der Demokratie und einer Politik, die nur noch »Sachzwänge« der Finanzmärkte exekutiert, offensichtlich wird, gilt es über die Verteilung des Reichtums und die Gefährdung der Demokratie durch ökonomische Macht zu reden. Darüber schweigen die Piraten, stattdessen erfreuen sich wirtschaftsliberale Ansätze bei ihnen großer Beliebtheit. So wird die als Mantra wiederholte Forderung nach Transparenz zum verzweifelten Wunsch devoter Bürger, selbige an sich selbst zu vollstrecken - das emanzipatorische Potenzial der »liquid democracy« verkommt zur basisdemokratischen App zur Selbstgeißelung.

Die Piraten sind also weder wissenskommunistisches Gespenst noch postpolitische Partei neuen Typus, sondern die gewöhnliche Partei einer aufstrebenden gebildeten Bürgerschicht der technischen Intelligenz. Wenn die politische Linke klug ist, kapert sie deren kapitalismuskritisches Potenzial und überlässt das postpolitische Residuum der FDP.

** Thomas Lohmeier ist Redakteur des Magazins »prager frühling«, das drei Mal im Jahr erscheint.

Die beiden Beiträge erschienen im "neuen deutschland" vom 28. April 2012 ("Debatte")



Zurück zur Parteien-Seite

Zurück zur Homepage