Ein Glas halbvoll oder halbleer?
Überprüfungskonferenz zum Atomwaffensperrvertrag endete mit gemischten Ergebnissen
Von Wolfgang Kötter *
Vier Wochen dauerten die Verhandlungen am New Yorker East River. Und anders als beim letzten Mal vor fünf Jahren, als man auseinanderging, ohne sich in einer einzigen Frage einigen zu können, wurde ein
gemeinsames Schlussdokument im Konsens angenommen. Doch was ist das Papier wirklich wert? Der Gewinn besteht wohl hauptsächlich darin, dass es überhaupt zustande kam. Nachdem alle Aspekte des Nuklearen Nichtverbreitungsvertrages kritisch erörtert sind, fällt ein eindeutiges Fazit schwer – ist das Glas halbvoll oder halbleer?
Gemischte Bilanz
Die Antwort hängt vom jeweiligen Blickwinkel des Betrachters ab. Die bisherige Erfolgsbilanz des Vertrags fällt ambivalent aus. Das am 1. Juli 1968 unterzeichnete Abkommen sollte ursprünglich verhindern, dass Atomwaffen sich auf der Welt ausbreiten und weitere Besitzer finden. In der Realität jedoch ist die Zahl der Atomwaffenmächte von ursprünglich fünf auf mindestens neun angewachsen. Zwar hat sich die Anzahl der Kernwaffen gegenüber den Hochzeiten des Kalten Krieges verringert, aber immer noch sind an über hundert Orten in vierzehn Ländern rund 22.400 Sprengköpfe stationiert.
Aus Sicht der deutschen Friedensforschung weist der Nichtverbreitungsvertrag gegenwärtig Defizite in mehreren Belangen auf: Sein System der Vertragsdurchsetzung funktioniert nicht gut; der sicherheitspolitische und wirtschaftliche Nutzen befriedigt viele Mitglieder nicht; Regelbrecher und Außenseiter scheinen keinen hohen Preis zahlen zu müssen; und der Vertrag wird weithin nach Buchstaben und praktischer Umsetzung als ein ungerechter Vertrag empfunden. Infolge dieser Defizite schrumpft die Bindekraft der Nichtverbreitungsnorm. Die Konferenz stand also vor drei Herausforderungen: Einen neuen Konsens in der Abrüstung zu finden, die Lösung aktueller Nichtverbreitungskrisen voranzutreiben und Nuklearkontrollen zu verschärfen. Vor allem aber mussten die Atomwaffenstaaten überzeugend nachweisen, dass sie bereit sind, ihre Abrüstungsverpflichtung auch wirklich einzulösen.
Die Rückbesinnung der US-Regierung unter Barack Obama auf multilaterale Kooperation hatte jedoch bereits im Vorfeld die Atmosphäre spürbar entspannt. Inzwischen gibt es mit dem Neu-START-Vertrag über die Reduzierung der strategischen Offensivwaffen Russlands und der USA, einer modifizierten US-Nuklearstrategie, die das potentielle Einsatzspektrum für Kernwaffen einschränkt, und einem Gipfeltreffen über Nuklearsicherheit auch erste Ergebnisse. Ob das allerdings für einen erfolgreichen Konferenzverlauf ausreichen würde, war alles andere als selbstverständlich.
Der Konferenzverlauf
Die Überprüfungskonferenz tagte unter Vorsitz Libran Cabactulans von den Philippinen. Traditionsgemäß starteten die Teilnehmer mit einer allgemeinen Debatte, in der die Mitgliedstaaten ihre grundsätzliche Position über die Vertragserfüllung darlegen. Kritik am Verhalten der Atomwaffenmächte kam vor allem aus der 116 Staaten umfassenden Gruppe der Nichtpaktgebundenen, angeführt von Ägypten, Algerien, Brasilien, Kuba, Kuwait, Libyen, Iran und Syrien. Der brasilianische Außenminister Celso Amorim nannte den Vertrag ein „unfaires“ Abkommen, das die Welt in Besitzende und Nicht-Besitzende teile. Die einzige Möglichkeit, garantiert und langfristig die Weiterverbreitung von Atomwaffen zu verhindern, sei ihre Abschaffung. Kubas Delegationschef Pedro Nunez Mosquera beklagte, 40 Jahre nach Inkrafttreten des NPT existierten immer noch so viele Atomwaffen, dass damit die Welt mehrere Male vernichtet werden könnte. Der ägyptische Außenminister Ahmed Aboul-Gheit forderte eine atomwaffenfreie Zone im Nahen Osten. Die Konferenz müsse ein Vorbereitungskomitee einsetzen, damit konkrete Verhandlungen im kommenden Jahr beginnen könnten. Dem schlossen sich mehrere Redner an, und es wurde klar, dass Erfolg oder Misserfolg der Konferenz maßgeblich davon abhing, wieweit den arabischen Staaten in dieser Frage entsprochen wurde. Die Chefin des US State Departments Hillary Clinton versicherte, Washington würde „praktische Maßnahmen unterstützen“, um dieses Ziel zu erreichen. Auch EU-Außenministerin Catherine Ashton sprach sich für eine solche Zone aus. Hinter den Kulissen verhandelten die Diplomaten praktisch während der gesamte Zeit über eine allgemein annehmbare Formulierung.
Nach den Diskussionen im Plenum setzte die Konferenz ihre Arbeit traditionsgemäß in thematisch strukturierten Unterorganen fort, um die Erfüllung der einzelnen Vertragsbestimmungen zu bewerten. Der erste Ausschuss behandelte Fragen der Nichtverbreitungsnorm, der nuklearen Abrüstung und Sicherheitsgarantien für Nichtkernwaffenstaaten. Ausschuss zwei widmete sich der nuklearen Sicherheit (Safeguards) und kernwaffenfreien Zonen. Im dritten Ausschuss schließlich ging es um die Zusammenarbeit bei der friedlichen Nutzung der Kernenergie.
Die Ergebnisse
Angesichts der zahlreichen Kontroversen, erfüllte sich die Hoffnung auf eine "positive Konferenzdynamik" nur partiell. Im Anschluss an die Detaildiskussionen lagen die Ergebnisse der Arbeitsgruppen als Entwurf für eine Abschlusserklärung vor. Mit zahlreichen Formulierungsvorschlägen und Änderungswünschen versuchten die Konferenzteilnehmer dann, ihre jeweiligen Positionen zu stärken bzw. unliebsame Formulierungen zu eliminieren, zumindest aber abzuschwächen. Wie bei derartigen dipolomatischen Verfahren üblich, litt der ursprüngliche Text bei diesem Taktieren erheblich und wurde stellenweise empfindlich verwässert - zum ausdrücklichen Bedauern der Vertreter von rüstungskritischen Nichtregierungeorganisationen und Abrüstungsexperten, die die Manöver der Diplomaten wachsam verfolgten. Prägnante und handlungsorientierte Formulierungen mussten oftmals vagen aber allgemein akzeptablen Kompromissen weichen.
In der Schlussphase arbeitete eine „Gruppe der 16“ Staaten schließlich einen letzten Entwurf, für eine weitere Diskussionsrunde blieb keine Zeit mehr. In einem Husarenstück verhandlungstaktischer Konferenzführung stellte der Präsident die Delegierten am Freitagabend wenige Minuten vor dem offiziellen Ende vor die Entscheidung: „Take it or leave it!“ - alles oder nix. Am Ende obsiegte die Vernunft. Gut ein Drittel des knapp 28-seitigen Papiers macht der Aktionsplan zur nuklearen Abrüstung aus. Doch auf Druck der Kernwaffenmächte waren die ursprünglich vorgesehen Fristen und Zeitlimits verschwunden. Ebenso fehlen Hinweise zur Abrüstung taktischer Kernwaffen und eine Kritik an der nuklearen Teilhabe der NATO. Die von vielen geforderte Atomwaffenkonvention wird nur als Vorschlag von UN-Generalsekretär Ban Ki Moon erwähnt.
Die Einschätzung der bisherigen Vertragserfüllung erscheint lediglich als Erklärung des Präsidenten. Sie widerspiegelt die nach wie vor unterschiedlichen Positionen in den Sachfragen. Nur abgeschwächt erscheinen verschärfte Sicherheitskontrollen, Exportbeschränkungen und erschwerte Austrittsbedingungen. Den Kernkraftanhängern kommt entgegen, dass das Recht zur friedlichen Nutzung von Kernenergie als „ein fundamentales Ziel des Vertrags“ bezeichnet wird. Die Erklärung vermeidet eine explizite Kritik am Iran und äußert lediglich Besorgnis über Vertragsverletzungen von Mitgliedsstaaten. Nordkorea, das vor einigen Jahren seinen Austritt erklärt hatte, solle baldigst wieder zurückkehren und seine Nichtverbreitungsverpflichtungen erfüllen. An alle bisher abseits gebliebenen Staaten - gemeint sind Indien und Pakistan - wird appelliert dem Vertrag beizutreten. Israel wird namentlich aufgefordert, dem Nichtverbreitungsvertrag beizutreten und seine Nuklearanlagen internationalen Kontrollen zu öffnen.
Ein Erfolg ist zweifellos, dass das Projekt einer von atomaren, biologischen und chemischen Massenvernichtungswaffen freien Zone in Nahost im Abschlussdokument unterstützt wird. US-Vizepräsident Jo Biden hatte noch am vorletzten Tag die arabischen Botschafter eigens zu einer Krisensitzung nach Washington bestellt, um verbliebene Differenzen auszuräumen. Nun ist vorgesehen, in 2012 eine entsprechende Konferenz abzuhalten. Mit Hilfe eines Sonderkoordinators soll der UN-Generalsekretär das Treffen organisieren - unter Teilnahme aller Regionalstaaten einschließlich Israels und des Irans.
Die Konferenzergebnisse fallen also allenfalls gemischt aus. Die Teilnehmer wollten offensichtlich die Chance für einen Neuanfang nicht verspielen und die politische Botschaft verbreiten: Wir wollen es trotz aller Kontroversen noch einmal versuchen. Das Resultat ist sicher keinesfalls die Lösung, aber es räumt ein wenig von den im vergangenen Jahrzehnt angehäuften Trümmern vom Weg zur nuklearen Nichtverbreitung und Abrüstung beiseite. Vielleicht gelingt es sogar, das Nichtverbreitungsregime noch einige Zeit zu stabilisieren. Auf lange Sicht aber kann nur die Radikalkur einer umfassenden nuklearen Abrüstung das Übel an der Wurzel packen.
Atomwaffenarsenale weltweit (2010)
Land | Anzahl |
Russland | ca. 12.000 |
USA | ca. 9.400 |
China | 240 |
Frankreich | 300 |
Großbritannien | 225 |
Israel | 100 - 300 |
Indien | 60 - 80 |
Pakistan | 70 - 90 |
KDVR | 6 - 12 |
gesamt | ca. 22.400 |
Quellen: Arms Control Association, Bulletin of the Atomic Scientists
Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen
(Zusammenfassung der Hauptbestimmungen)
Artikel I
Die Kernwaffenstaaten verpflichten sich, Kernwaffen an niemanden weiterzugeben und Nichtkernwaffenstaaten weder zu unterstützen noch zu ermutigen, Kernwaffen herzustellen oder zu erwerben.
Artikel II
Die Nichtkernwaffenstaaten verpflichten sich, Kernwaffen nicht herzustellen oder zu erwerben.
Artikel III
Kontrolle durch die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEA) auf der Grundlage individueller Abkommen.
Artikel IV
Recht auf Erforschung, Erzeugung und Verwendung der Kernenergie für friedliche Zwecke. Verpflichtung zum Austausch von Ausrüstungen, Material und wissenschaftlichen und technologischen Informationen zur friedlichen Nutzung der Kernenergie.
Artikel V
Recht auf überirdische friedliche Kernexplosionen (obsolet, da aus Umweltgründen keine mehr durchgeführt werden).
Artikel VI
Verpflichtung zu Verhandlungen über Beendigung des nuklearen Wettrüstens, nukleare Abrüstung sowie allgemeine und vollständige Abrüstung unter internationaler Kontrolle.
Artikel VII
Recht zur Bildung kernwaffenfreier Zonen.
Artikel VIII
Bestimmungen für Vertragsänderungen.
Artikel IX
Unterzeichnungs- und Ratifikationsbestimmungen.
Artikel X
Bei Gefährdung der höchsten Landesinteressen Recht auf Rücktritt nach dreimonatiger Kündigungsfrist.
* Eine gekürzte Fassung dieses Beitrags erschien am 31. Mai 2010 im "Neuen Deutschland"
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