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Supersnelle Flitsmacht der NATO nimmt Konturen an

Von Uli Cremer *

Im September 2014 beschloss die NATO anlässlich des Ukraine-Konflikts die Aufstellung ihrer „Very High Readiness Joint Task Force“ (abgekürzt VJTF) – ein eher sperrig geratener Name. Die sprachlich pragmatischeren Niederländer nennen sie „Supersnelle Flitsmacht“[1], in Deutschland hat sich der Begriff „NATO-Speerspitze“ eingebürgert. Anfang 2015 übernahm das deutsch-niederländische Korps in Münster den Aufbau der neuen Truppe. Nach aktuellen Plänen soll dieser rein europäische Verband final drei Brigaden (d.h. 15.000 bis 21.000 SoldatInnen) umfassen und im Osten wie im Süden einsetzbar sein.

Der folgende Beitrag soll die aktuellen Absichten und Pläne der NATO für die „Speerspitze“ bzw. „Flitsmacht“ und deren Verhältnis zu der schon länger existierenden NATO Response Force (NRF) skizzieren und beleuchten.

Kurzer Blick zurück: Die bisherige NATO Response Force (NRF)

Mit der vom damaligen US-Verteidigungsminister Rumsfeld initiierten und seit 2002 aufgebauten NATO Response Force (NRF)[2] verfügt die NATO bereits über eine schnelle Eingreiftruppe mit aktuell 28.000 SoldatInnen, darunter 13.000 „high readiness troops“, auch „Immediate Response Force“ genannt. Das war gewissermaßen die bisherige „Speerspitze“. Die anderen 15.000 waren so genannte „follow-on forces“, deren Verlegung länger in Anspruch nehmen würde. Sie sollen die „Immediate Response Force“ bei Bedarf ergänzen. Das war der öffentliche Stand vor dem NATO-Gipfel 2014. Jedenfalls wurde das entsprechende Factsheet von Februar 2013 seitdem nicht aktualisiert.[3]

Die „follow-on forces“ werden allerdings in der aktuellen Berichterstattung regelmäßig unterschlagen, so dass die NRF kleiner erscheint, als sie ist.

Die Verbände für die NRF werden rotierend von einzelnen europäischen Mitgliedstaaten gestellt, so dass nicht jeder immer „high ready“ sein muss. Die USA stellten bisher keine eigenen Truppenkontingente. Es handelt sich um ein rein europäisches Militärprojekt unter Aufsicht von USA und NATO.

Anfang November 2013 – in Kiew regierte noch Präsident Janukowitsch, der Regime Change im Februar 2014 hatte noch nicht stattgefunden, auch die Krim war noch nicht von Russland eingegliedert worden - wurde ein großes Manöver mit dem Namen „Steadiness Jazz“ abgehalten, das größte NATO-Manöver seit 2006. Die Bundeswehr berichtete: »Rund 6.000 Soldaten aus allen NATO-Staaten sowie aus Finnland, Schweden und der Ukraine beteiligen sich an Steadfast Jazz... Geografischer Schwerpunkt von Steadfast Jazz ist der Ostseeraum inklusive Polen und dem Baltikum. Trotzdem richtet sich Steadfast Jazz nicht gegen Russland, sondern „gegen jeden, der irgendwie auf die Idee kommt, die NATO anzugreifen“, so Bundeswehr-General Hans-Lothar Domröse, der die Übung leitet.«[4]

Eigentlich war die NRF jedoch keineswegs für den Einsatz im Osten sondern für den im Süden gebildet worden, um „wo auch immer in der Welt“ auf Krisen reagieren zu können. Und wenn die NATO von Bündnisverteidigung sprach, dachte man zuerst an den Afghanistankrieg. Denn nur einmal in ihrer Geschichte hat die NATO den Bündnisfall erklärt, nämlich im September 2001. »The NRF’s purpose is to be able to provide a rapid military response to an emerging crisis, whether for collective defence purposes or for other crisis response operations. The force gives NATO the means to respond swiftly to various types of crises anywhere in the world.«[5] So stand es jedenfalls in dem NRF-Factsheet von Februar 2013.

Das noch größere NATO-Manöver 2006 betraf ebenfalls die NRF. Es fand in wärmeren Gefilden statt: auf den Kapverdischen Inseln. Das Manöver-Szenario war damals noch klar auf Einsätze im Süden ausgerichtet. Konkret ging es um Schutzverantwortung für Öl: »Über 7.000 Soldaten, inklusive deutscher und französischer Infanterie, amerikanischer Bomberpiloten und spanischer Seeleute werden sich einer Auseinandersetzung rivalisierender Fraktionen gegenübersehen, die um die Kontrolle der Ölvorkommen der Insel kämpfen.«[6]

Im September 2015 ist das nächste Manöver der NRF geplant. Diesmal in Westeuropa. „Trident Juncture“ wird mit 30.000 SoldatInnen das größte NATO-Manöver seit 1990 sein. Die Anzahl der teilnehmenden SoldatInnen belegt, dass die NRF eben nicht nur aus den 13.000 High Readiness Truppen besteht. Erinnert sei an die gern unterschlagenen weiteren NATO-offiziellen 15.000 follow-on-forces. Außerdem sind natürlich auch US-amerikanische Truppen bei solchen Manövern mit von der Partie.

The Making of the Supersnelle Flitsmacht

Im September 2014 beschloss die NATO dann ihre neue Eingreiftruppe, die sie als Teil der NRF deklarierte. Die ersten Angaben lauteten: Es ginge um eine Brigade, also ca. 5.000-7.000 SoldatInnen, die für den Einsatz an der Ostgrenze vorgesehen wären.

Dazu muss man wissen, dass jede schnelle Eingreiftruppe (also auch die vorhandene NRF) gemäß der US-Erfahrungen aus drei Teilen besteht. Der prominenteste Teil ist die Truppe, die tatsächlich innerhalb weniger Tage verlegbar ist („high readiness“). Das ist das erste Drittel. Dahinter steht ein doppelt so großer Pool. Das zweite Drittel ruht sich vom Einsatz bzw. der High Readiness Phase aus, das dritte Drittel bereitet sich auf die High Readiness Phase vor. Wenn die NRF also 13.000 SoldatInnen stark war, konnte 1/3 (also ca. 4.300) unmittelbar eingesetzt werden. Dazu kamen jeweils ergänzende Spezialfähigkeiten aus einem weiteren Pool, der „follow-on-forces“ bezeichnet wurde. Die Nationen, die z.B. 2009 als NRF „high ready“ waren, hatten sich 2008 darauf vorbereitet und blieben 2010 in Reserve („ausruhen“). Erst nach 3 Jahren waren diese Truppen also wieder für andere Zwecke verfügbar.

Deswegen sollte auch die neue Flitsmacht zu keinem Zeitpunkt aus nur ca. 5.000 bis 7.000 Leuten bestehen, sondern vorgesehen war von Anfang an die dreifache Anzahl: Geplant war und ist also der Aufbau einer Truppe in der Größenordnung 15.000 bis 21.000.

Die Frage war nun: Handelte es sich beim Aufbau der „Supersnellen Flitsmacht“ um einen zusätzlichen Truppenverband, eine Aufrüstungsmaßnahme, oder würden einfach Teile der bereits bestehenden NRF neu gelabelt? Dann büßte die bestehende NRF offensive Kampfkraft ein, die NATO würde flexible Interventionsfähigkeiten aufgeben, da Kräfte an der Ostgrenze des Bündnisses gebunden würden. Dann würde die NATO nur eine Umgruppierung vorhandener Kräfte vornehmen.

Ursprünglich sollte die „Flitsmacht“ erst 2016 einsatzbereit sein, nun ist sie es schon vorzeitig. Möglich wird diese „Interimslösung“ durch Umgruppierung: Das deutsch-niederländisches Korps in Münster, 2015 ohnehin für die NRF als „high ready“ gemeldet, bildet ab sofort das Rückgrat der „Flitsmacht“.

Zur Anwendung kommt das Rahmennationen-Konzept, ein von Deutschland initiiertes neues NATO-Organisationsmodell. Dabei schließen sich Mitgliedsstaaten zu einem Cluster zusammen, um eine bestimmte Aufgabe zu erfüllen (in diesem Fall die Formierung der „Flitsmacht“). Eine große Nation übernimmt die Führung und wird von kleineren NATO-Ländern mit einzelnen „Spezialfähigkeiten“ unterstützt. Die Führungsnation braucht so nicht alles allein stemmen und finanzieren, sondern es kommt zu einer Art Hebelwirkung ähnlich wie beim Euro-Rettungsfonds, bei dem man sich zu den eigenen Einlagen der EU-Mitgliedsländer noch Geld dazu leiht. Eine große Rahmennation ist natürlich Deutschland, das so auch den eigenen Einfluss im Bündnis mehrt. Für das Projekt „Flitsmacht“ meldeten sich aber sofort weitere fünf europäische NATO-Mitglieder als Rahmennationen: Britannien, Frankreich, Italien, Polen und Spanien.[7] Im Juni 2015 kam noch die Türkei hinzu. Zwischen diesen Rahmennationen wird in den nächsten Jahren jährlich rotiert werden. 2016 übernimmt Spanien von Deutschland, das sich in dem Jahr aber weiter in Reserve zu halten hat.

2015 führt Deutschland gemeinsam mit den Niederlanden. Kernstück ist das deutsch-niederländische Korps, das seit 1995 in Münster stationiert ist. Dort befindet sich die Kommandozentrale der „Flitsmacht“ in 2015. Das Korps besteht in der Hauptsache aus einem multinationalen Stab von knapp über 400 NATO-SoldatInnen. Dazu kommen die »organisch zugehörigen Verbände« mit einer »Stärke von ca. 1.100 Soldaten«, darunter ein ebenfalls in Münster stationiertes binationales Stabunterstützungsbataillon mit mehreren Hundert Soldaten.[8]

Alles weitere Personal wird nur zeitweise zugeordnet. Die Niederlande stellen aktuell mit knapp 3.000 Infanteristen die meisten Soldaten der „Flitsmacht“. Dazu kommen: »ein Panzergrenadierbataillon aus Marienberg in Sachsen mit 900 Mann« und »450 Mann aus dem multinationalen Hauptquartier des Deutsch-Niederländischen Korps.«[9] Die Norweger steuern schnell verlegbare Artillerie bei. Prinzipiell, das sahen wir schon beim NRF-Manöver 2013, können auch Nicht-NATO-Mitglieder bei der NRF mitwirken, z.B. die Ukraine.

Größe, Manöver und Einsatzgebiet

Der Plan ist, die „Flitsmacht“ final auf ca. 15.000 bis 21.000 plus Luft- und Seekomponenten aufzubauen. Zu der ersten Brigade kommen zwei weitere Brigadeäquivalente. Wie bei der bisherigen NRF könnte ein Drittel der Truppen im Einsatz sein (bzw. „high ready“), ein Drittel ruhte sich aus („Stand-down“-Verbände) und ein Drittel bereitete sich auf den Einsatz vor. Da es sich um eine „sehr schnelle Eingreiftruppe“ handelt, soll bei der neuen „Flitsmacht“ das erste Drittel in 5-7 Tagen verlegt werden können, die ersten Einheiten sogar in 48 Stunden.[10] Aber bei Bedarf sind auch die beiden anderen Drittel relativ schnell mobilisierbar: Die „Stand-down“-Verbände sollen in 30 Tagen einsatzfähig sein, die sich vorbereitenden Verbände sollen 45 Tage benötigen. So die Angaben der Planer aus dem deutschen Verteidigungsministerium. Innerhalb von 45 Tagen wäre also die NATO in der Lage ca. 20.000 SoldatInnen bereit zu stellen! Die Austauschbarkeit des gesamten Pools könnte im Extremfall dadurch gewährleistet werden, dass die einzelnen beteiligten NATO-Länder die von ihnen gestellten Soldaten durchwechseln. Damit die Kooperation der ablösenden Soldaten funktioniert, müssten natürlich auch diese vorher gemeinsame Trainings absolvieren. Insofern: mehr Manöver. Und tatsächlich ist deren Anzahl der schon jetzt stark gestiegen. Allein die Bundeswehr beteiligt sich in diesem Jahr mit ca. 5.200 Soldaten an den diversen NATO-Manövern.[11]

Vergleicht man also „Flitsmacht“ mit der bisherigen NRF, so wird offenbar eine relevante qualitative Verbesserung angestrebt: Es werden mehr offensive Truppenteile schneller verlegbar sein. Die NATO würde so interventionsfähiger.

Das allererste Manöver der Flitsmacht Anfang April 2015 zeigte ihren hybriden Charakter. Geübt wurde keineswegs eine militärische Situation wie in der Ostukraine, bei der der militärische Gegner ebenfalls über schwere Waffen wie Panzer und Artillerie verfügte. Vielmehr glich das Szenario eher einem Einsatz in Afghanistan.[12] Idee ist also weiterhin, die Truppe für verschiedene Aufgaben bereit zu halten. Dem entspricht auch, dass Verbände nach aktueller Beschlusslage eben nicht permanent an der Ostgrenze stationiert werden sollen. Das Einsatzgebiet ist keineswegs auf das NATO-Territorium beschränkt, sondern die Truppe könnte auch außerhalb „zur Krisenreaktion“ in der Ukraine, Afrika oder Asien eingesetzt werden.

Selbst jedwede Vorabeinlagerung militärischen Materials an der Ostgrenze war bis Mitte Juni 2015 nicht vorgesehen – auch seitens der parallel agierenden US-Truppen nicht: Im März 2015 verlegten die USA 3.000 SoldatInnen samt Material ins Baltikum und fuhren das Gerät anschließend als Panzerdemonstrationszug über Polen und Tschechien nach Deutschland zurück.

Aufgebaut werden sollten lediglich sechs kleine lokale Stäbe mit jeweils ca. 40 Soldaten [13] (in denen auch die Bundeswehr personell vertreten sein wird). Vorräte („supplies“) sollten eingelagert und Infrastrukturmaßnahmen wie Ausbau von Landepisten in Angriff genommen werden. Den kleinen Stäben mit dem hübschen Namen „NATO Force Integration Units (NFIUs)“ war also ursprünglich eher die Aufgabe eines Quartiermeisters zugedacht.

Doch dann überschlugen sich politisch und medial die Ereignisse: Mitte Juni lancierte der US-General Breedlove, der nicht nur Oberkommandeur der NATO sondern auch der US-Truppen in Europa ist, seinen Plan, »die Ausrüstung einer Panzerbrigade nach Osteuropa zu verlagern... darunter 250 Kampfpanzer«. Diese sind nicht für die europäische Flitsmacht, sondern für eine zusätzliche US-Panzerbrigade von ca. 5.000 Soldaten gedacht und werden auf diverse Länder an der NATO-Ostgrenze verteilt, vermutlich zufälligerweise die Orte, an denen die NATO-Stäbe Quartier nehmen. Relativ unbemerkt von der Öffentlichkeit (lediglich Thomas Wiegold von augengerade.de war es aufgefallen) hatten die US-Truppen allerdings schon im Januar die Einlagerung von Material und die damit verbundene Suche nach Standorten angekündigt.[14] Damit nicht genug: auf Druck der USA und der Osteuropäer beschlossen die NATO-Verteidigungsminister ein paar Tage später: »prepositioning of equipment and supplies«[15]. Zu den Vorräten tritt also das Gerät. Es soll also nicht nur seitens der US-Truppen (die ja gar nicht Teil der Flitsmacht bzw. der NRF sind), sondern auch durch die europäischen NATO-Länder eingelagert werden! Insofern sollten Meldungen über Einlagerung westeuropäischer Kampfpanzer und anderer Gerätschaften an der NATO-Ostgrenze in den nächsten Monaten nicht überraschen.

Politische Dimension der NATO-Stützpunkte an der Ostgrenze

Politisch wird auf zweierlei verwiesen: Erstens sei ohnehin alles, was die NATO mache, rein defensiv - ein Argument, das seit 1949 jede NATO-Aufrüstungsmaßnahme begleitet. In den Worten von NATO-Generalsekretär Stoltenberg: »NATO is a defensive Alliance. And what we do is defensive. And we are responding to a new and more challenging security environment. But everything we do is defensive, it is proportionate, and it’s fully in line with our international commitments.«[16]

Zweitens wolle sich die NATO weiterhin an die Grundakte NATO-Russland von 1997 halten. Darin versprach die NATO, keine Atomwaffen und auch keine substantiellen konventionellen Kontingente in den neuen NATO-Ländern zu stationieren.[17] 240 NATO-Soldaten in sechs Stützpunkten wären in der Tat keine große Sache, gäbe es nicht den Kontext. Nach Eigeninterpretation der NATO wäre allerdings weder die jetzt konzipierte Flitsmacht, noch die Einlagerung von Kampfpanzern und anderem schweren Gerät ein substantielles Kontingent im Osten. Somit sei alles mit der Grundakte kompatibel. Dass man das in Moskau natürlich völlig anders sieht, hat mit auch mit der permanenten Manövertätigkeit der NATO zu tun, die im Grunde von einer ständigen Stationierung kaum noch zu unterscheiden ist. Diese Manöver höhlen die Grundakte weiter aus.

Die hybride „Flitsmacht“, die ursprünglich für Einsätze im Osten oder im Süden gedacht war, würde bei Einlagerung schweren Material in Depots an der Ostgrenze und erst recht, wenn man permanent auch das Personal vor Ort stationierte, auf eine Eingreiftruppe Ost zusammengestutzt. Die NATO hätte Fähigkeiten gebunden, die zum Intervenieren anderswo fehlten. Sie hätte in die „Alte NATO“ investiert und nicht in die Neue NATO, die auf Interventionen außerhalb des NATO-Gebiets ausgerichtet ist.

Keinen Sinn für die Neue NATO oder die Grundakte NATO-Russland haben die Regierungen der baltischen Länder, die Anfang Mai die permanente Stationierung einer NATO-Brigade im Baltikum verlangten. Auch die WELT hatte die Orientierung verloren, als sie die Aufstellung einer deutsch-polnischen Brigade mit 2.500 permanent in Polen stationierten deutschen Soldaten anregte. Denn »das Baltikum« sei »das West-Berlin der Gegenwart«[18]. Aus Polen werden ebenfalls militärische Forderungen an Deutschland vorgetragen. Krzysztof Szczerski, designierter außenpolitischer Chefberater des zukünftigen polnischen Präsidenten Andrzej Duda verlangte in der Zeitung „Rzeczpospolita“, »Berlin müsse seinen Widerstand gegen die Installierung ständiger NATO-Stützpunkte in Osteuropa aufgeben.«[19]

Es mochte bereits Anfang 2015 etwas überraschen, dass ausgerechnet die deutsche Regierung die Sache mit der „Flitsmacht“ in die Hand nahm. Denn sie befindet sich in einem riesigen Dilemma: Einerseits droht die deutsche Wirtschaft, gerade auch die mittelständische, durch den westlichen Wirtschaftskrieg gegen Russland relevanten Schaden zu nehmen. Schließlich sind die deutsch-russischen Wirtschaftsbeziehungen intensiv. Unternehmen könnten insolvent, Arbeitsplätze vernichtet werden, das Wirtschaftswachstum könnte einbrechen. Andererseits hat die deutsche Regierung im Rahmen des neuen »Neuen Verantwortungs«-Diskurs wiederholt betont, dass Deutschland als Mittelmacht nicht allein, sondern nur im Rahmen ihrer Führungsrolle in der EU globaler Player sein und somit Ordnungspolitik betreiben könnte.[20] Die deutsche Führung in der EU muss jedoch auch von den Russland-feindlichen EU-Mitgliedern mitgetragen werden. Deswegen muss Deutschland bei der Sanktionspolitik und der „Supersnellen Flitsmacht“ vorangehen, um die eigene Führung in der EU abzusichern. Wer führt, also vorne geht, kann natürlich auch immer ein wenig bremsen und eine etwas andere Richtung einschlagen. Aber der Spagat kann auf Dauer kaum funktionieren. Und so kam es dann Ende Juni auch. Ministerin von der Leyen begrüßte anlässlich des Besuchs des US-Verteidigungsministers Carter die Stationierung der 250 US-Panzer und weiteren schweren Geräts an der Ostgrenze als »angemessene defensive Maßnahme«.[21] Man darf gespannt sein, wann sie die Verlagerung deutschen Geräts an die NATO-Ostgrenze ankündigt.

Die finanziellen Konsequenzen

Um die Neue NATO nicht wegen der Aktivitäten an der Ostgrenze beerdigen zu müssen, fordert die NATO von ihren Mitgliedern immer vehementer eine drastische Erhöhung ihrer Militäretats. Das Ziel, 2% des BIP für Militär auszugeben, ist zwar seit Jahren Beschlusslage, wurde aber nur in wenigen Ländern umgesetzt. Auf ihrem Waliser Gipfel 2014 bekannte sich die NATO erneut zu dem 2%-Ziel und gab den Mitgliedsländern 10 Jahre Zeit zur Realisierung. In Deutschland würde das eine dramatische Steigerung des Militärhaushalts von jetzt 33 Mrd. € auf ca. 55 Mrd. € für die Bundeswehr bedeuten. Von der Leyen hat sich gerade beim Besuch von NATO-Generalsekretär Stoltenberg in Berlin Anfang Juli öffentlichkeitswirksam zu dem Ziel bekannt. Auch die deutsche Etatplanung für 2016 sieht bereits eine Steigerung des Militäretats um 4,2% auf 34,4 Mrd. € vor.

Ohne höhere Aufwendungen wäre auch die im Juni 2015 von den NATO-Verteidigungsministern verkündete neue Zielgröße für die Gesamt-NRF nicht zu erreichen. Die NRF soll nämlich von „13.000“ auf „40.000“ vergrößert werden. Die deutschen Medien sprachen entsprechend von Verdreifachung. Doch so einfach ist es nicht.

Was genau geschehen soll, wird nicht so genau verraten. An die NATO-Mathematik stellt sich zuerst einmal die folgende Frage: Wie und warum sollte die NRF von 2013 bis 2015 von 28.000 auf 13.000 Soldaten geschrumpft sein? Die Antwort könnte sein: Die „Follow-on-forces“ in der aktuellen Größenordnung von 15.000 werden nicht mitgerechnet. Dadurch verschwinden sie natürlich nicht. Aber: Müssen sie ebenfalls verdreifacht werden? Sollen aus 28.000 NRF-Kräften 84.000 werden?

Ziehen wir von den 40.000 NRF-Kräften die Flitsmacht mit ihren drei Brigadeäquivalenten (= ca. 20.000 Soldaten) ab, würde eine etwa eben so große Rest-NRF aus 3 Brigadeäquivalenten (auch ca. 20.000) übrig bleiben. Die eine Hälfte der NRF könnte dann für die Verwendung an der Ostgrenze reserviert bleiben, die andere Hälfte stände für Krisenreaktion, also Militärinterventionen, anderswo zur Verfügung. (Nicht mitgerechnet sind natürlich die US-Verbände, die in Kombination mit der NRF zum Einsatz kommen können.)

Alle Teile der NRF müssten natürlich mit modernster Ausrüstung und modernsten Waffen versehen werden. Sofern das Material für die NRF-Hälfte an der Ostgrenze dort an den sechs NATO-Stützpunkten eingelagert würde, könnte die NATO diesen Teil der NRF tatsächlich nicht mehr für Militärinterventionen anderswo nutzen – es sei denn, man verdoppelte das Material und legte einen zweiten Vorrat an den Stationierungsorten der Personals in Westeuropa an. Hier könnten lukrative Aufträge für die Rüstungsindustrie winken, die mittels der steigenden Militärhaushalte finanziert würden.

In jedem Fall hat die Vergrößerung der NRF auf 40.000 SoldatInnen den Sinn, die Interventionsfähigkeit der NATO trotz neuer Aktivitäten an der Ostgrenze aufrecht zu erhalten.

Schlussbemerkungen

Offenbar wird die Gelegenheit rund um den Ukraine-Konflikt genutzt, um die NATO-Militäretats zu steigern und zusätzliche militärische Fähigkeiten aufzubauen. Man redet von Einsätzen im Osten und effektiviert gleichzeitig die Interventionsstreitkräfte für den Einsatz im Süden!

Die NATO weiß: Die NRF könnte die als potentielle Bedrohung an die Wand gemalte Invasion russischer Truppen wo auch immer gar nicht verhindern. Insofern geht es mehr um die politische Botschaft: Das Baltikum, Polen, Rumänien und Bulgarien sind Teil der westlichen Einflusssphäre. Außerdem wird der besonders im Baltikum und Polen populären Angst vor Russland Rechnung getragen. Deswegen wertet man in Moskau den Aufbau der neuen „Flitsmacht“ sicher nicht als frohe politische Botschaft und dürfte mit eigenem militärischen Balzverhalten (Manöver, Demonstrationsflüge etc.) und eigener Aufrüstung reagieren. Und schon ist ein neues Wettrüsten im Gange.

Doch lassen wir die Kirche im Dorf: Zu Hochzeiten des Afghanistankriegs hatte die NATO dort über 130.000 SoldatInnen im Einsatz. Im Vergleich würden sich selbst drei permanent stationierte NATO-Brigaden (mit 15.000 bis 20.000 SoldatInnen) an der Ostgrenze eher bescheiden ausnehmen.

Anmerkungen
  1. Thomas Wiegold von augengeradeaus.de hat den niederländischen Begriff in die deutsche Debatte eingeführt.

  2. Zur Geschichte und Vorgeschichte der NRF vergleiche auch: Uli Cremer: Neue NATO: die ersten Kriege, Hamburg 2009, S.183ff

  3. http://www.nato.int/nato_static/assets/pdf/pdf_2013_02/20130220_130220-factsheet_nrf_en.pdf, gefunden 5.7.2015

  4. „NATO-Übung Steadfast Jazz: Training der Eingreifkräfte“, 5.11.2014, www.bundeswehr.de, gefunden 5.7.2015

  5. http://www.nato.int/nato_static/assets/pdf/pdf_2013_02/20130220_130220-factsheet_nrf_en.pdf, gefunden 5.7.2015

  6. Hallinan, Conn: Into Africa, Foreign Policy in Focus, 15.03.2007, zitiert nach: „Deutschlands Kampf um den letzten Tropfen“, IMI-Studie 2008/02, http://www.imi-online.de/2008.php3?id=1700

  7. http://www.nato.int/nato_static_fl2014/assets/pdf/pdf_2015_05/20150508_1505-Factsheet-RAP-en.pdf, gefunden 5.7.2015

  8. Das Stabunterstützungsbataillon ist in der Blücher- und der Lützow-Kaserne stationiert. Der Kommandostab residiert am Münsteraner Schlossplatz, der in der Anfahrtsskizze von www.deutschesheer.de am 5.7.2015, also mehr als drei Jahre nach der Umbenennung, immer noch Hindenburgplatz heißt.

  9. »Die Deutschen an die Front«, in: FAZ vom 5.2.2015.

  10. »Their lead elements will be able to start deploying in just 48 hours. « s. http://www.nato.int/nato_static_fl2014/assets/pdf/pdf_2015_05/20150508_1505-Factsheet-RAP-en.pdf, gefunden 5.7.2015

  11. http://www.imi-online.de/2015/04/07/rede-von-tobias-pflueger-beim-ostermarsch-in-stuttgart-am-ostersamstag-04-04-2015/

  12. Siehe dazu: http://augengeradeaus.net/2015/04/exercise-watch-abschlussuebung-des-deutschen-nrf-verbandes/

  13. http://www.nato.int/cps/en/natohq/news_120993.htm?selectedLocale=en

  14. http://augengeradeaus.net/2015/01/panzer-in-den-osten-u-s-army-sucht-standorte/

  15. http://www.nato.int/cps/en/natohq/topics_119353.htm

  16. http://www.nato.int/cps/en/natohq/opinions_120953.htm

  17. Wortlaut der Grundakte: http://www.nato.diplo.de/contentblob/1940894/Daten/189459/1997_05_Paris_DownlDat.pdf

  18. http://m.welt.de/debatte/kommentare/article140984577/Wir-brauchen-eine-deutsch-polnische-Kampfbrigade.html

  19. http://de.sputniknews.com/politik/20150628/302976316.html

  20. Vgl. www.gruene-friedensinitiative.de/cms/neue-verantwortung-deutschland-fordert-die-eu-kapitaensbinde/

  21. http://www.spiegel.de/politik/ausland/usa-verlegen-schweres-militaergeraet-nach-osteuropa-a-1040283.html

* Abschluss des Manuskripts: 6.7.2015; Uli Cremer gehört der GRÜNEN Friedensinitiative an.


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