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NATO-Parlamentarier tagen auf dem Boden der ehemaligen Sowjetunion

Russische Duma entsendet aus Protest keine Vertreter nach Wilna (Litauen)

Von Rainer Rupp

Letzten Sonntag hat zum ersten Mal in der Geschichte ein NATO-Treffen auf dem Boden der ehemaligen Sowjetunion stattgefunden. Im Rahmen der Frühlingstagung der parlamentarischen Nato-Versammlung trafen sich in Wilna, der Hauptstadt Litauens, Delegierte der 19 Nato-Mitglieder und der 17 assoziierten Staaten aus Osteuropa und der ehemaligen Sowjetunion zu Beratungen. Die Duma, das Parlament Russlands, das ebenfalls den Status eines assoziierten Staates hat, hat jedoch keine Delegation entsandt. Nach Berichten aus Moskau, will die Duma damit gegen eine Nato-Expansion bis an die russischen Grenzen deutliche Zeichen setzen. Denn eine NATO-Mitgliedschaft der drei baltischen Staaten an der Nordwestgrenze Russlands wird von Moskau als schwerer strategischer Nachteil und daher als ernste Bedrohung seiner vitalen Sicherheitsinteressen gesehen. Dagegen erhoffen sich sowohl Litauen als auch seine baltischen Nachbarstaaten Lettland und Estland von der NATO-Tagung in Wilna ein positives Signal für den angestrebten Nato-Beitritt, obwohl die Parlamentarier Versammlung keinen formalen Status innerhalb der Organisationsstrukturen der Nordatlantischen Vertragsorganisation (NATO) hat.

Trotzdem hoffen baltische Politiker und Strategen, dass die Zusammenkunft in Wilna eine einmalige Gelegenheit bietet, die aus allen NATO-Ländern herbei geeilten Parlamentarier von der „Notwendigkeit“ der Aufnahme der baltischen Staaten in die NATO zu überzeugen. Schließlich muss eine jede NATO-Expansion von den nationalen Parlamenten aller NATO-Mitgliedsstaaten ratifizieren werden. Bei der Zusammenkunft in Wilna, die erst am 31. Mai zu Ende geht, wird daher dem Thema „NATO-Erweiterung“ besonders viel Platz eingeräumt. Alle Augen sind dabei auf die US-amerikanischen Delegierten gerichtet. Denn letztendlich entscheiden die Vereinigten Staaten als Führungsmacht der NATO darüber, wer neu aufgenommen wird und wer nicht.

Dabei kommt den baltischen Staaten zugute, dass der amerikanische Senat derzeit 49 zu 51 zwischen Republikanern und Demokraten gespalten ist. Folglich wird die Bush-Regierung tunlichst alle außenpolitische Initiativen vermeiden, die nicht von beiden Parteien getragen werden. So gab denn auch der Außenminister Estlands, Harry Tiido, am Rande der Tagung in Wilna seiner Hoffnung Ausdruck, dass „ein Konsens im US-Senat über die baltische Frage Präsident Bush zur Aufnahme der baltischen Staaten“ in die NATO bewegen könnte. (“NATO meeting in former Soviet Union a boost to Baltic bids”, VILNIUS, May 24, AFP)

Die Zusammenkunft in Wilna bietet daher den baltischen Staaten die Möglichkeit, auf wichtige Abgeordnete des amerikanischen Kongresses einzuwirken, in der Hoffnung, auf diese Weise die Position von Präsident Bush zu ihren Gunsten zu beeinflussen. Und die Haltung der US-Senatoren – so die Erwartung der Balten – könnte bereits jetzt darüber Aufschluss geben, ob die NATO bei der nächsten Expansionsrunde im November 2002 anlässlich des Gipfeltreffens in Prag bis zu neun neue Mitglieder, einschließlich der drei baltischen Staaten, aufnehmen wird. Anfang dieses Jahres hatte eine Gruppe von Senatoren die Aufnahme der baltischen Staaten bereits unterstützt. Die Unterstützung von offizieller NATO-Seite ist jedoch nur lauwarm, wie am Rande einer Konferenz in Bratislava Anfang Mai deutlich geworden war. In der slowakischen Hauptstadt hatten sich alle neun NATO-Beitrittskandidaten zwecks Vorbereitung einer gemeinsamen Strategie auf Ministerebene getroffen. Zu ihrer großen Enttäuschung glänzten die alten NATO-Länder aus dem Westen durch Abwesenheit. Nur die Minister aus den neuen NATO-Ländern Polen, Ungarn und Tschechien waren gekommen. Das NATO-Hauptquartier hatte lediglich den beisitzenden Generalsekretär für politische Angelegenheiten geschickt.

Allerdings hatte der tschechische Präsident Vazlav Havel die in Bratislava Anwesenden beschworen: "Das schlimmste, was die Allianz tun könnte, ware, einem sogenannten geopolitischen oder geostrategischen Iinteresse Russland, oder vielleicht nur dessen Prestigestreben nachzugeben.

Und US-Präsident Bush hatte ein Botschaft geschickt, dass "kein Teil Europas wegen seiner Geschichte oder seiner Geographie ausgeschlossen würde. Allerdings hat sich Washington bisher nicht darauf festgelegt, ob es für 2002 den Beitritt auch nur eines einzigen Kandidaten begrüßen würde. Dieser Schleier könnte am 15. Juni gelüftet werden. An diesem Tag will Präsident Bush anlässlich seines Besuches in Polen eine Rede halten. Beobachter erwarten, dass er diese Gelegenheit nutzt, um auf die neue Runde der NATO-Expansion nach Osten einzugehen. Der russische Präsident Wladimir Putin hatte dagegen letztes Jahr den Westen gewarnt, dass die Aufnahme der baltischen Staaten in die NATO die Sicherheitslage in Europa „destabilisieren“ würde.

Saarburg, 28. Mai 2001

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