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Therapiestunde oder ernstzunehmende Sinnsuche? Diskussion über das künftige strategische Konzept der NATO

Ein Beitrag aus der NDR-Reihe "Streitkräfte und Strategien"


Moderation: Andreas Flocken

Die NATO arbeitet an einem neuen strategischen Konzept. Es soll Klarheit schaffen über die Aufgaben und Funktionen der Allianz. Schließlich haben sich die sicherheitspolitischen Herausforderungen erheblich verändert. Ende des Jahres soll die neue Strategie verabschiedet werden. Doch es ist gar nicht so einfach, die unterschiedlichen Interessen der 28 Bündnismitglieder unter einen Hut zu bringen. Christoph Prößl berichtet:

Manuskript Christoph Prößl

Wie schwer die Suche nach dem neuen strategischen Konzept ist, hat die Rede des Staatsministers im Auswärtigen Amt, Werner Hoyer, Mitte Januar in Oslo deutlich gemacht. Er sprach auf dem 3. Strategieseminar der Militärallianz. Titel der Veranstaltung: Die Partnerschaften der NATO. Die Veranstaltung sollte Raum geben für den Gedankenaustausch unter Politikern, Experten und Militärs. Hoyer hat diesen Raum genutzt. Er spielte mit der Idee, dass Russland in der Zukunft einen Beitrittswunsch an die Allianz herantragen könnte und fragte, ob die NATO für ein solches Gesuch bereit wäre. In den osteuropäischen Mitgliedsstaaten stoßen solche Gedankenspiele auf Unverständnis. Mit den einstigen Unterdrückern in einem Bündnis, das ist für viele Regierungen undenkbar. Allein diese Frage, wie die Beziehungen zu Russland ausgestaltet werden sollen, wird in der Allianz kontrovers diskutiert. Markus Kaim von der Stiftung Wissenschaft und Politik definiert drei Gruppen von Ländern und ihre unterschiedlichen Interessen mit Blick auf Russland:

O-Ton Kaim
„Es gibt die eine Fraktion, die betrachten Russland als einen strategischen Partner. Dazu gehören zum Beispiel Deutschland, Frankreich, Italien und noch eine Gruppe von anderen. Diese Akteure verweisen darauf, dass kaum ein weltpolitisches Problem ohne die Teilhabe Russlands bewältigt werden kann. Stichworte wären hier Iran, Kosovo und andere mehr.“

Die zweite Gruppe, bestehend aus mittel- und osteuropäischen Staaten, stehe auf dem Standpunkt, dass Russland nie von seiner Stellung als Hegemonialmacht Abstand genommen habe. In diesen Staaten herrsche die Meinung vor, dass Russland dies auch mit militärischem Säbelrasseln immer wieder deutlich mache. Beispiel: Manöver an der Grenze zu den baltischen Staaten. Aus diesem Grund forderten diese Staaten Verteidigungs- und Notfallplanungen der NATO ein:

O-Ton Kaim
„Und schließlich gibt es eine dritte Gruppe, die USA, die Russland als Teil ihrer globalen Strategie betrachten und weniger auf die Rolle Russlands im euroatlantischen Raum verweisen, sondern der Frage nach gehen, welche Rolle Russland im globalen strategischen Kalkül der USA spielen und da sind natürlich dann solche Fragen wie Abrüstungs- und Rüstungskontrolle dominant.“

Dabei ist die Frage nach dem Verhältnis der NATO zu Russland nur eine von vielen, die derzeit im Rahmen der Diskussion um das strategische Konzept besprochen wird. Die Allianz hat die Debatte breit angelegt. Seminare für Politiker und Experten, Gespräche auf diplomatischer Ebene und sogar öffentliche Diskussionen im Internet gehören zu den Instrumenten. Eine Expertengruppe um die ehemalige US-Außenministerin Madeleine Albright soll alle Gedanken zusammentragen. Ein Abschlussbericht der Kommission geht dann dem NATO-Generalsekretär Rasmussen zu. Er will dann das Papier überarbeiten, wenn nötig weitere Gespräche führen und Anfang Mai das Ergebnis der Öffentlichkeit vorstellen. Am 19./20. November auf dem Gipfel in Lissabon will die Allianz dann das strategische Konzept beschließen.

Das gegenwärtige strategische Konzept stammt aus dem Jahr 1999. Das war noch vor den Angriffen auf das World-Trade-Center vom 11. September 2001 in New York. Zwar erwähnte das alte strategische Konzept bereits die möglichen Gefahren durch Terrorismus, aber die Bedrohung war noch abstrakt. Eine Überarbeitung war dringend erforderlich.

Dabei geht es aber nicht nur darum, was am Ende auf dem Papier steht. Das macht alleine der öffentliche Prozess deutlich, mit dem die Experten-Kommission derzeit die unterschiedlichen Ansichten und Wünsche zusammen trägt. Hans-Friedrich von Ploetz, ehemaliger NATO-Botschafter und Mitglied in der Albright-Kommission:

O-Ton Ploetz
„Ein Bündnis aus Staaten, von denen 12 noch nie an der Erarbeitung eines strategischen Konzepts mitgewirkt haben, also neuen Mitgliedern, tut gut daran, gerade dann wenn sich die Weltlage so stark verändert hat, gemeinsam festzustellen ob man noch strategischen Schulterschluss hat oder falls das nicht der Fall ist, wie man ihn wieder herstellt. Der Prozess der Strategiedefinition ist politisch mindestens so wichtig wie das Ergebnis.“

Die Suche nach dem strategischen Konzept als Gesprächstherapie für die Allianz. Um die Behandlung in einem geordneten Rahmen durchzuführen, definierte NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen in der vergangenen Woche auf der Münchner Sicherheitskonferenz erneut die aus seiner Sicht wichtigsten Punkte für das strategische Konzept:

O-Ton Rasmussen (overvoice)
„Erstens: In einem Zeitalter der globalen Bedrohungen beginnt unsere Verteidigung jenseits unserer Grenzen. Zweitens: Der Erfolg unserer Arbeit hängt maßgeblich davon ab, wie gut wir mit anderen kooperieren. Drittens: Die NATO sollte ein Gremium für Beratungen über weltweite Sicherheitsfragen werden.“

Artikel vier des Washingtoner Vertrages. Das ist das Recht eines Mitgliedslandes, die Partner in Krisensituationen zu Konsultationen zusammen zu rufen – was praktisch nie geschieht. Doch Rasmussen sieht genau hier ein Defizit des Bündnisses. Wichtig sei außerdem eine bessere Kooperation zwischen NATO und anderen Organisationen. Der Generalsekretär verweist dabei auf die Erfahrungen am Hindukusch. Stichwort vernetzte Sicherheit:

O-Ton Rasmussen (overvoice)
„Die NATO sorgt für die Sicherheit in Afghanistan. Wir bilden aus und unterstützen den zivilen Aufbau. Wir brauchen die Europäische Union, damit sie den zivilen Aufbau unterstützt. Wir brauchen den Internationalen Währungsfonds und die Weltbank für die Finanzierung von Straßen und Schulen. Und wir müssen Pakistan und alle anderen Nachbarn von Afghanistan einbinden.“

Aber gerade Afghanistan hat auch gezeigt, wie schwer und langwierig Entscheidungsprozesse im Bündnis sind. Bundesverteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg will hier ganz neue Wege gehen:

O-Ton zu Guttenberg
„Die Neuformulierung des strategischen Konzepts dient auch dazu, jene Mitgliedsstaaten einzubinden, die 1999 noch nicht beteiligt waren. So stärken wir den Konsens, ich spreche hier vom Konsens und nicht zwingend in jederlei Hinsicht über Einstimmigkeit. Ich spreche hier über Konsens und nicht zwingend in jederlei Hinsicht über Einstimmigkeit. Konsens heißt nicht, dass wir in allen der 300 Räte und Ausschüsse Einstimmigkeit haben müssen. Hier wie in anderen Fragen wünsche ich mir mutige, pragmatische Vorschläge.“

Doch im Zentrum der Debatte dürfte die Frage stehen, welche Bedrohungen in Zukunft auf die Allianz zukommen. Artikel fünf, der Bündnisfall, ist immer noch der Kern der Allianz, da sind sich die Nationen einig. Doch wie die Bedrohungslage aussieht, das zu definieren, ist schon schwieriger. Der NATO-Oberbefehlshaber James Stavridis sagte auf der Münchner Sicherheitskonferenz, die Bedrohung gehe nicht mehr von Bombenflugzeugen aus, sie komme heute über das Glasfaserkabel. Gemeint sind Angriffe von Hackern übers Internet. Stefanie Babst, stellvertretende Beigeordnete NATO-Generalsekretärin für politische Kommunikation:

O-Ton Babst
„Eins ist klar: die NATO kann nicht für alle Sicherheitsrisiken zuständig sein. Also es muss irgendwo eine Priorisierung geben in diesem Konzept.“

Ganz oben auf der Liste der Gefahren wird am Ende sicherlich nicht die Energiesicherheit stehen, auch wenn einige Staaten das wünschen. Polen zum Beispiel. Das Land hat seine Erfahrungen im Winter 2008/2009 gemacht, als russisches Gas nur noch spärlich und zeitweise gar nicht nach Osteuropa floss, weil Russland und die Ukraine um unbezahlte Rechnungen stritten. Doch militärischer Beistand der NATO ist in einem solchen Fall absurd. Spitzendiplomat von Ploetz sieht in einer solchen Situation viel eher die Europäische Union in der Pflicht.

Ein weiterer wichtiger Punkt für das strategische Konzept: Die Nicht-Verbreitung von Nuklearwaffen und die Abrüstung. Gerade in diesem Bereich könnte das Bündnis eine entscheidende Rolle spielen, sagt Stefanie Babst:

O-Ton Babst
„Will die NATO ihre Abschreckungsdoktrin behalten? Will sie sie anpassen und wozu soll denn abgeschreckt werden mit Nuklearwaffen? Eine große Gruppe von Staaten will selbstverständlich diese nukleare Doktrin behalten und versteht sie nach wie vor als elementaren Schutz. Andere, ich komme gerade aus Norwegen zurück, ich war dort auf einer Konferenz, auf der auch der norwegische Außenminister gesprochen hat. Der hat fast eine Stunde lang darüber geredet, diese Nukleardoktrin zu überdenken.“

Wie das Ergebnis genau aussieht, ist offen. Im Gespräch sind derzeit sehr viele Themen und die Standpunkte der Mitgliedsstaaten sind äußerst unterschiedlich. Wahrscheinlich ist, dass ein mehrseitiges Papier dabei heraus kommt. Das letzte strategische Konzept umfasste 65 Paragraphen. Rasmussen will offenbar ein viel kürzeres und klareres Dokument zusammenstellen als das Dokument von 1999. Damit soll es für die Öffentlichkeit verständlicher sein.

* Aus: NDR-Sendereihe Streitkräfte und Strategien, 13. Februar 2010; www.ndrinfo.de


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