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Aktives Engagement, moderne Verteidigung

Strategisches Konzept für die Verteidigung und Sicherheit der Mitglieder der Nordatlantikvertrags-Organisation, von den Staats- und Regierungschefs in Lissabon verabschiedet

Vorwort

Wir, die Staats- und Regierungschefs der NATO-Staaten, sind entschlossen, dafür Sorge zu tragen, dass die NATO weiterhin ihre einzigartige und wesentliche Rolle bei der Gewährleistung unserer gemeinsamen Verteidigung und Sicherheit spielt. Das vorliegende Strategische Konzept wird Leitfaden für die nächste Phase der Entwicklung der NATO sein, damit sie in einer sich wandelnden Welt gegen neue Bedrohungen, mit neuen Fähigkeiten und mit neuen Partnern weiterhin leistungsfähig ist:
  • Es bekräftigt die Verpflichtung unserer Staaten, einander gegen einen Angriff zu verteidigen, auch gegen neue Bedrohungen der Sicherheit unserer Bürger.
  • Es verpflichtet das Bündnis, Krisen zu verhindern, Konflikte zu bewältigen und die Lage nach einem Konflikt zu stabilisieren, auch indem es enger mit unseren internationalen Partnern zusammenarbeitet, in erster Linie mit den Vereinten Nationen und der Europäischen Union.
  • Es bietet unseren Partnern rund um den Globus stärkeres politisches Engagement mit dem Bündnis und eine substanzielle Rolle bei der Gestaltung der NATO-geführten Operationen an, zu denen sie beitragen.
  • Es verpflichtet die NATO auf das Ziel, die Bedingungen für eine Welt ohne Kernwaffen zu schaffen – bekräftigt aber, dass die NATO ein nukleares Bündnis bleiben wird, solange es Kernwaffen in der Welt gibt.
  • Es bekräftigt unsere feste Entschlossenheit, die Tür der NATO für alle europäischen demokratischen Staaten offen zu halten, die die Bedingungen einer Mitgliedschaft erfüllen, da die Erweiterung zu unserem Ziel eines ungeteilten, freien und friedlichen Europas beiträgt.
  • Es verpflichtet die NATO, sich kontinuierlich einer Reform zu unterziehen, damit das Bündnis leistungsfähiger, effizienter und flexibler wird und unsere Steuerzahler für das Geld, das sie in die Verteidigung investieren, ein Höchstmaß an Sicherheit erhalten.
Die Bürger unserer Länder verlassen sich auf die NATO, wenn es darum geht, die Bündnisstaaten zu verteidigen, robuste Streitkräfte zu dislozieren, wo und wann dies zu unserer Sicherheit erforderlich ist, und dabei zu helfen, gemeinsame Sicherheit mit unseren Partnern rund um den Globus zu schaffen. Zwar ändert sich die Welt, doch bleibt die wesentliche Mission der NATO dieselbe: zu gewährleisten, dass das Bündnis eine beispiellose Gemeinschaft der Freiheit, des Friedens, der Sicherheit und gemeinsamer Werte bleibt.

Kernaufgaben und Kernprinzipien

1. Das grundlegende und unveränderliche Ziel der NATO ist es, die Freiheit und Sicherheit all ihrer Mitglieder mit politischen und militärischen Mitteln zu schützen. Heute ist das Bündnis nach wie vor eine unentbehrliche Quelle der Stabilität in einer unberechenbaren Welt.

2. Die Mitgliedstaaten der NATO bilden eine einzigartige Wertegemeinschaft, die den Grundsätzen der Freiheit des Einzelnen, der Demokratie, der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit verpflichtet ist. Das Bündnis bekennt sich mit Nachdruck zu den Zielen und Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen und zum Washingtoner Vertrag, der die Hauptverantwortung des Sicherheitsrats für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit bekräftigt.

3. Die politischen und militärischen Bande zwischen Europa und Nordamerika wurden in der NATO seit Gründung des Bündnisses im Jahr 1949 weiter entwickelt; das transatlantische Band bleibt stark und für die Wahrung des Friedens und der Sicherheit im euro-atlantischen Raum so wichtig wie eh und je. Die Sicherheit der NATO-Mitglieder auf beiden Seiten des Atlantiks ist unteilbar. Wir werden sie auf der Grundlage der Solidarität, einer gemeinsamen Zielsetzung und einer gerechten Lastenteilung weiterhin verteidigen.

4. Das Sicherheitsumfeld unserer Zeit birgt vielfältige, sich weiter entwickelnde Herausforderungen für die Sicherheit des Gebiets und der Bevölkerungen der NATO-Staaten. Um diese Sicherheit zu gewährleisten, muss und wird das Bündnis drei wesentliche Kernaufgaben wirksam erfüllen, die alle zum Schutz der Bündnismitglieder beitragen, und dies stets im Einklang mit dem Völkerrecht:

a) kollektive Verteidigung. Die NATO-Mitglieder werden einander im Einklang mit Artikel 5 des Washingtoner Vertrags im Falle eines Angriffs stets Beistand leisten. Diese Verpflichtung bleibt fest und bindend. Die NATO ergreift gegen jede angedrohte Aggression und gegen neue Herausforderungen für die Sicherheit, sofern sie die grundlegende Sicherheit einzelner Bündnispartner oder des Bündnisses als Ganzes beeinträchtigen, Abschreckungs- und Verteidigungsmaßnahmen.

b) Krisenbewältigung. Die NATO verfügt über eine einzigartige und robuste Palette politischer und militärischer Fähigkeiten zur Auseinandersetzung mit dem gesamten Krisenspektrum – vor, während und nach Konflikten. Die NATO wird aktiv eine geeignete Mischung dieser politischen und militärischen Instrumente einsetzen, um dabei zu helfen, sich entwickelnde Krisen zu bewältigen, die die Bündnissicherheit betreffen könnten, bevor sie zu Konflikten eskalieren; um bestehende Konflikte zu beenden, wenn sie die Sicherheit des Bündnisses betreffen, und um dabei zu helfen, die Stabilität nach einem Konflikt zu konsolidieren, sofern dies zur euro-atlantischen Sicherheit beiträgt.

c) Kooperative Sicherheit. Das Bündnis wird von politischen und sicherheitspolitischen Entwicklungen jenseits seiner Grenzen beeinflusst, kann diese aber auch beeinflussen. Das Bündnis wird sich aktiv engagieren, um die internationale Sicherheit zu stärken: durch die Partnerschaft mit geeigneten Ländern und anderen internationalen Organisationen, indem es aktiv zu Rüstungskontrolle, Nichtverbreitung und Abrüstung beiträgt und indem es die Tür für eine Mitgliedschaft im Bündnis für alle europäischen demokratischen Staaten offen hält, die den Standards der NATO genügen.

5. Die NATO bleibt das einzigartige und essenzielle transatlantische Forum für Konsultationen in allen Fragen, die die territoriale Unversehrtheit, die politische Unabhängigkeit und die Sicherheit ihrer Mitglieder berühren, wie es in Artikel 4 des Washingtoner Vertrags niedergelegt ist. Jede Sicherheitsfrage, die für einen der Bündnispartner von Interesse ist, kann am Tisch der NATO mit dem Ziel erörtert werden, Informationen auszutauschen, einen Meinungsaustausch zu führen und gegebenenfalls einen gemeinsamen Ansatz zu entwickeln.

6. Um die gesamte Bandbreite der NATO-Missionen so effektiv und effizient wie möglich durchführen zu können, werden sich die Bündnispartner auf einen kontinuierlichen Reform-, Modernisierungs- und Transformationsprozess einlassen.

Das Sicherheitsumfeld

7. Heute herrscht im euro-atlantischen Raum Frieden, und die Bedrohung durch einen konventionellen Angriff auf das NATO-Gebiet ist gering. Dies ist ein historischer Erfolg der Politik der robusten Verteidigung, der euro-atlantischen Integration und der aktiven Partnerschaft, die für die NATO mehr als ein halbes Jahrhundert lang Leitfaden war.

8. Die konventionelle Bedrohung kann jedoch nicht ignoriert werden. In vielen Regionen und Ländern auf der ganzen Welt werden moderne substanzielle militärische Fähigkeiten beschafft, mit schwer vorhersehbaren Folgen für die internationale Stabilität und die euro-atlantische Sicherheit. Dies schließt die Verbreitung ballistischer Flugkörper ein, die für den euro-atlantischen Raum eine reale und zunehmende Bedrohung darstellt.

9. Die Verbreitung von Kernwaffen und anderen Massenvernichtungswaffen und ihrer Trägersysteme droht unberechenbare Folgen für Stabilität und Wohlstand weltweit zu haben. Im nächsten Jahrzehnt wird das Proliferationsproblem in einigen der instabilsten Regionen der Welt am größten sein.

10. Der Terrorismus stellt eine unmittelbare Bedrohung für die Sicherheit der Bürger der NATO-Staaten und im weiteren Sinne für Stabilität und Wohlstand weltweit dar. Extremistische Gruppen breiten sich auf Gebiete aus und setzen sich darin fest, die für das Bündnis von strategischer Bedeutung sind. Moderne Technologien erhöhen die Bedrohung und potenzielle Auswirkungen terroristischer Anschläge, vor allem wenn Terroristen nukleare, chemische, biologische oder radiologische Fähigkeiten erlangen sollten.

11. Instabilität oder Konflikte außerhalb der NATO-Grenzen können die Sicherheit des Bündnisses unmittelbar bedrohen, vor allem, wenn sie Extremismus, Terrorismus und länderübergreifende illegale Aktivitäten wie Waffen-, Drogen- und Menschenhandel fördern.

12. Angriffe auf Computernetze geschehen immer häufiger, sind besser organisiert und kostspieliger, was den Schaden angeht, den sie staatlichen Verwaltungen, Unternehmen, Volkswirtschaften und potenziell auch Transport- und Versorgungsnetzen und anderer kritischer Infrastruktur zufügen; sie können eine Schwelle erreichen, die den Wohlstand, die Sicherheit und die Stabilität von Staaten und des euro-atlantischen Raums bedroht. Ausländische Streitkräfte und Nachrichtendienste, die organisierte Kriminalität, terroristische und/oder extremistische Gruppen können die Quelle solcher Anschläge sein.

13. Alle Länder sind zunehmend auf die lebenswichtigen Kommunikations-, Transport- und Transitwege angewiesen, auf die sich der Welthandel, die Energiesicherheit und der Wohlstand stützen. Sie erfordern verstärkte internationale Anstrengungen, um sie gegen einen Anschlag oder eine Störung zu wappnen. Einige NATO-Staaten werden, was ihren Energiebedarf angeht, immer stärker von ausländischen Energieversorgern und in einigen Fällen von ausländischen Energieversorgungs- und Verteilernetzen abhängig. Da ein immer größerer Teil des weltweiten Verbrauchs rund um den Globus transportiert wird, ist die Energieversorgung immer störungsanfälliger.

14. Eine Reihe wichtiger technologischer Trends – darunter die Entwicklung von Laserwaffen, elektronische Kriegführung und Technologien, die den Zugang zum Weltraum verhindern – scheinen bedeutende weltweite Auswirkungen zu haben, die sich auf die militärische Planung und die Operationen der NATO auswirken werden.

15. Erhebliche Beschränkungen in Bezug auf die Umwelt und Ressourcen, darunter Gesundheitsrisiken, Klimawandel, Wasserknappheit und steigender Energiebedarf, werden das künftige Sicherheitsumfeld in Bereichen, die der NATO Sorge bereiten, beeinflussen und könnten die Planung und die Operationen der NATO erheblich beeinträchtigen.

Verteidigung und Abschreckung

16. Die Hauptverantwortung des Bündnisses ist, unser Gebiet und unsere Bevölkerungen vor einem Angriff zu schützen und dagegen zu verteidigen, wie es in Artikel 5 des Washingtoner Vertrags niederlegt ist. Das Bündnis betrachtet kein Land als seinen Feind. Niemand sollte jedoch an der Entschlossenheit der NATO zweifeln, falls die Sicherheit eines ihrer Mitglieder bedroht werden sollte.

17. Die Abschreckung auf der Grundlage einer geeigneten Mischung aus nuklearen und konventionellen Fähigkeiten bleibt ein Kernelement unserer Gesamtstrategie. Umstände, unter denen der Einsatz von Kernwaffen in Betracht gezogen werden müsste, sind höchst unwahrscheinlich. Solange es Kernwaffen gibt, wird die NATO ein nukleares Bündnis bleiben.

18. Der oberste Garant für die Sicherheit der Bündnispartner sind die strategischen nuklearen Kräfte des Bündnisses, insbesondere die der Vereinigten Staaten; die unabhängigen strategischen nuklearen Kräfte des Vereinigten Königreichs und Frankreichs, die eine eigenständige Abschreckungsrolle wahrnehmen, tragen zur Gesamtabschreckung und Sicherheit der Bündnispartner bei.

19. Wir werden gewährleisten, dass die NATO über das gesamte Spektrum an Fähigkeiten verfügt, die für die Abschreckung und Verteidigung gegen jede Bedrohung der Sicherheit unserer Bevölkerungen notwendig sind.
Wir werden daher
  • eine geeignete Mischung aus nuklearen und konventionellen Kräften beibehalten;
  • die Fähigkeit wahren, gleichzeitig große gemeinsame Operationen und mehrere kleinere Operationen für die kollektive Verteidigung und Krisenreaktion durchzuhalten, auch in strategischer Entfernung;
  • robuste, mobile und dislozierbare konventionelle Kräfte entwickeln und erhalten, die sowohl unsere Verantwortlichkeiten nach Artikel 5 erfüllen als auch die Expeditionsoperationen des Bündnisses durchführen sollen, auch mit den Reaktionskräften der NATO;
  • die Ausbildung, Übungen, Notfallplanung und den Informationsaustausch durchführen, die zur Gewährleistung unserer Verteidigung gegen die gesamte Palette der konventionellen und neuen Sicherheitsbedrohungen notwendig sind, und für alle Bündnispartner die geeignete sichtbare Garantie und Verstärkung zur Verfügung stellen;
  • die möglichst umfassende Beteiligung der Bündnispartner an der kollektiven Verteidigungsplanung mit Bezug auf deren nukleare Anteile, an der Stationierung von nuklearen Kräften in Friedenszeiten und an Führungs-, Kontroll- und Konsultationsverfahren gewährleisten;
  • die Fähigkeit entwickeln, unsere Bevölkerungen und Gebiete gegen einen Angriff mit ballistischen Flugkörpern als ein Kernelement unserer kollektiven Verteidigung zu verteidigen, was zur unteilbaren Sicherheit des Bündnisses beiträgt. Wir werden aktiv die Zusammenarbeit mit Russland und anderen euroatlantischen Partnern in der Raketenabwehr anstreben;
  • die Fähigkeit der NATO weiter entwickeln, sich gegen die Bedrohung durch chemische, biologische, radiologische und nukleare Massenvernichtungswaffen zu verteidigen;
  • unsere Fähigkeit weiter entwickeln, Angriffe auf Computernetze zu verhindern, zu entdecken, sich dagegen zu verteidigen und sich davon zu erholen, auch indem wir den NATO-Planungsprozess dazu nutzen, nationale Fähigkeiten zur Bekämpfung der Computerkriminalität zu stärken und zu koordinieren, indem wir für alle NATO-Gremien einen zentralen Schutz vor Computerkriminalität gewährleisten und die Überwachungs-, Warn- und Reaktionsaufgaben der NATO im Bereich der Computerkriminalität besser mit denen der Mitgliedstaaten zusammenführen;
  • die Fähigkeit ausbauen, den internationalen Terrorismus aufzuspüren und uns dagegen zu verteidigen, auch durch eine verbesserte Bedrohungsanalyse, intensivere Konsultationen mit unseren Partnern und die Entwicklung geeigneter militärischer Fähigkeiten; indem wir insbesondere lokalen Kräften bei der Ausbildung helfen, damit sie selbst den Terrorismus bekämpfen können;
  • die Fähigkeit entwickeln, zur Energiesicherheit beizutragen, auch durch den Schutz kritischer Energieinfrastruktur und von Transitgebieten und –routen, durch die Zusammenarbeit mit Partnern und durch Konsultationen unter den Bündnispartnern auf der Grundlage strategischer Einschätzungen und Notfallpläne;
  • gewährleisten, dass das Bündnis bei der Bewertung der Auswirkungen neuer Technologien auf die Sicherheit eine Vorreiterrolle spielt und dass potenzielle Bedrohungen bei der militärischen Planung berücksichtigt werden;
  • die Verteidigungsausgaben auf dem erforderlichen Niveau halten, damit unsere Streitkräfte ausreichend ausgestattet sind,
  • das gesamte Dispositiv der NATO zur Abschreckung und Verteidigung gegen die gesamte Bandbreite der Bedrohungen des Bündnisses weiterhin überprüfen, wobei Änderungen eines sich wandelnden internationalen Sicherheitsumfelds Berücksichtigung finden.

Sicherheit durch Krisenbewältigung

20. Krisen und Konflikte außerhalb der Grenzen der NATO können eine direkte Bedrohung der Sicherheit des Gebiets und der Bevölkerungen des Bündnisses darstellen. Die NATO wird sich daher, wo dies möglich und erforderlich ist, engagieren, um Krisen zu verhindern, Krisen zu bewältigen, die Lage nach einem Konflikt zu stabilisieren und den Wiederaufbau zu unterstützen.

21. Die aus NATO-Operationen gezogenen Lehren, insbesondere in Afghanistan und im westlichen Balkan, machen deutlich, dass ein umfassender politischer, ziviler und militärischer Ansatz für eine wirksame Krisenbewältigung erforderlich ist. Das Bündnis wird sich vor, während und nach Krisen aktiv mit anderen internationalen Akteuren engagieren, um die Zusammenarbeit bei der Analyse, Planung und Durchführung von Aktivitäten vor Ort mit dem Ziel zu fördern, der internationalen Gesamtanstrengung ein Höchstmaß an Kohärenz und Wirksamkeit zu verleihen.

22. Der beste Weg, Krisen zu bewältigen, ist zu verhindern, dass sie entstehen. Die NATO wird das internationale Umfeld fortlaufend beobachten und analysieren, um Krisen im Voraus zu erkennen und, wo dies angemessen ist, aktiv Schritte unternehmen, um zu verhindern, dass sie zu größeren Konflikten werden.

23. Sollte sich die Konfliktverhütung als erfolglos erweisen, wird die NATO bereit und in der Lage sein, laufende Feindseligkeiten zu bewältigen. Die NATO verfügt über einzigartige Fähigkeiten zur Konfliktbewältigung; dazu zählt die beispiellose Fähigkeit, robuste militärische Kräfte im Einsatzgebiet zu dislozieren und durchhaltefähig zu machen. Die NATO-geführten Operationen haben gezeigt, welchen unerlässlichen Beitrag das Bündnis zu internationalen Anstrengungen zur Krisenbewältigung leisten kann.

24. Selbst wenn ein Konflikt zu Ende geht, muss die Völkergemeinschaft oft weiter Unterstützung gewähren, um die Bedingungen für dauerhafte Stabilität zu schaffen. Die NATO wird bereit und in der Lage sein, in enger Zusammenarbeit und Beratung mit anderen geeigneten internationalen Akteuren, wann immer dies möglich ist, zu Stabilisierung und Wiederaufbau beizutragen.

25. Um im gesamten Krisenspektrum leistungsfähig zu sein, werden wir
  • unseren Austausch nachrichtendienstlicher Erkenntnisse innerhalb der NATO verstärken, um besser vorhersagen zu können, wann sich eine Krise entwickeln könnte, und wie sie am besten vermieden werden kann;
  • die Militärdoktrin und die militärischen Fähigkeiten für Expeditionseinsätze einschließlich von Operationen zur Bekämpfung von Aufständen sowie Stabilisierungs- und Wiederaufbaueinsätzen weiter entwickeln;
  • eine geeignete, aber bescheidene zivile Krisenbewältigungsfähigkeit einrichten, damit wir mit zivilen Partnern wirksamer agieren können, wobei wir auf den in NATO-geführten Operationen gemachten Erfahrungen aufbauen. Diese Fähigkeit kann auch dazu genutzt werden, zivile Aktivitäten zu planen, einzusetzen und zu koordinieren, bis die Bedingungen die Übergabe dieser Verantwortlichkeiten und Aufgaben an andere Akteure zulassen;
  • die integrierte zivil-militärische Planung im gesamten Krisenspektrum ausbauen;
  • die Fähigkeit entwickeln, lokale Kräfte in Krisenzonen auszubilden und aufzubauen, damit die lokalen Stellen so rasch wie möglich in der Lage sind, die Sicherheit ohne internationale Hilfe aufrechtzuerhalten;
  • zivile Spezialisten aus den Mitgliedstaaten ermitteln und ausbilden, die von den Bündnispartnern für ausgewählte Missionen rasch eingesetzt werden können und die in der Lage sind, an der Seite unseres militärischen Personals und ziviler Spezialisten aus Partnerstaaten und –institutionen zu arbeiten;
  • die politischen Konsultationen unter den Bündnispartnern und mit Partnern sowohl in regelmäßigen Abständen als auch in allen Phasen einer Krise – vor, während und nach der Krise - ausweiten und intensivieren.

Förderung der internationalen Sicherheit durch Zusammenarbeit

Rüstungskontrolle, Abrüstung und Nichtverbreitung

26. Die NATO ist bestrebt, ihre Sicherheit auf dem niedrigst möglichen Streitkräfteniveau zu gewährleisten. Rüstungskontrolle, Abrüstung und Nichtverbreitung tragen zu Frieden, Sicherheit und Stabilität bei und sollten unverminderte Sicherheit für alle Bündnismitglieder sicherstellen. Wir werden auch weiterhin unseren Teil zur Stärkung der Rüstungskontrolle und Förderung der Abrüstung sowohl konventioneller Waffen als auch von Massenvernichtungswaffen und zur Förderung der Nichtverbreitung beitragen:
    Wir sind entschlossen, eine sicherere Welt für alle anzustreben und die Bedingungen für eine Welt ohne Kernwaffen zu schaffen, und zwar in Übereinstimmung mit den Zielen des Vertrags über die Nichtverbreitung von Kernwaffen in einer Art und Weise, die die internationale Stabilität fördert, und unter Beachtung des Grundsatzes der unverminderten Sicherheit für alle.
  • Angesichts der Veränderungen des Sicherheitsumfelds seit dem Ende des Kalten Krieges haben wir die Zahl der in Europa stationierten Kernwaffen und unsere Abhängigkeit von Kernwaffen in der NATO-Strategie drastisch verringert. Wir werden bestrebt sein, die Bedingungen für weitere Reduzierungen in der Zukunft zu schaffen.
  • Bei jeder künftigen Reduzierung sollte es unser Ziel sein, die Zustimmung Russlands einzuholen, um die Transparenz hinsichtlich seiner Kernwaffen in Europa zu erhöhen und diese Waffen aus dem Gebiet der NATO-Mitglieder zu verlagern. Bei allen weiteren Schritten muss die Disparität angesichts der größeren russischen Arsenale an Kernwaffen mit kurzer Reichweite Berücksichtigung finden.
  • Wir sind der konventionellen Rüstungskontrolle verpflichtet, die für Berechenbarkeit und Transparenz sorgt und ein Mittel darstellt, die Rüstung auf dem für die Stabilität erforderlichen Mindestmaß zu halten. Wir werden darauf hinarbeiten, das konventionelle Rüstungskontrollregime in Europa auf der Grundlage der Gegenseitigkeit, Transparenz und Zustimmung des Gaststaates zu stärken.
  • Wir werden sondieren, wie unsere politischen Mittel und militärischen Kapazitäten zu den internationalen Anstrengungen zur Bekämpfung der Proliferation beitragen können.
  • Nationale Entscheidungen betreffend Rüstungskontrolle und Abrüstung können sich auf die Sicherheit aller Bündnismitglieder auswirken. Wir sind entschlossen, geeignete Konsultationen unter den Bündnispartnern in diesen Fragen beizubehalten und erforderlichenfalls zu intensivieren.
Offene Tür

27. Die Erweiterung der NATO hat erheblich zur Sicherheit der Bündnispartner beigetragen; die Aussicht auf eine weitere Erweiterung und der Geist der kooperativen Sicherheit haben die Stabilität in Europa im weiteren Sinne gefördert. Unserem Ziel eines ungeteilten und freien Europas, das durch gemeinsame Werte verbunden ist, wäre letztlich am besten gedient, wenn alle europäischen Staaten, die dies wünschen, in die euro-atlantischen Strukturen integriert würden.
  • Die Tür zur NATO-Mitgliedschaft bleibt für alle demokratischen europäischen Staaten ganz offen, die die Werte unseres Bündnisses teilen sowie willens und in der Lage sind, die Aufgaben und Verpflichtungen einer Mitgliedschaft zu übernehmen, und deren Einbeziehung zu gemeinsamer Sicherheit und Stabilität beitragen kann.
Partnerschaften

28. Die Förderung der euro-atlantischen Sicherheit wird am besten durch ein weites Netz von Partnerschaftsbeziehungen mit Staaten und Organisationen rund um den Globus gewährleistet. Diese Partnerschaften leisten einen konkreten und wertwollen Beitrag zum Erfolg der grundlegenden Aufgaben der NATO.

29. Der Dialog und die Zusammenarbeit mit Partnern können einen konkreten Beitrag zur Erhöhung der internationalen Sicherheit, zur Verteidigung der Werte, auf denen das Bündnis beruht, zu NATO-Operationen und zur Vorbereitung interessierter Staaten auf die NATO-Mitgliedschaft leisten. Diese Beziehungen werden auf Gegenseitigkeit, gegenseitigem Nutzen und gegenseitigem Respekt beruhen.

30. Wir werden unsere Partnerschaften durch flexible Formate verstärken, die die NATO und Partner zusammenbringen – innerhalb bestehender Rahmenstrukturen und darüber hinaus:
  • Wir sind bereit, den politischen Dialog und die praktische Zusammenarbeit mit allen Staaten und geeigneten Organisationen auf dem ganzen Globus zu entwickeln, die unser Interesse an friedlichen internationalen Beziehungen teilen.
  • Wir werden für Konsultationen mit jedem Partnerland über Sicherheitsfragen von gemeinsamem Belang offen sein.
  • Wir werden unseren Partnern in Operationen eine strukturelle Rolle bei der Gestaltung der Strategie und der Entscheidungen betreffend die NATO-geführten Missionen anbieten, zu denen sie beitragen.
  • Wir werden unsere bestehenden Partnerschaften weiter entwickeln und zugleich ihre Besonderheiten erhalten.
31. Die Zusammenarbeit zwischen der NATO und den Vereinten Nationen leistet weiterhin einen substanziellen Beitrag zur Sicherheit in Operationen auf der ganzen Welt. Das Bündnis beabsichtigt, den politischen Dialog und die praktische Zusammenarbeit mit den VN zu vertiefen, wie es in der 2008 unterzeichneten VN-NATO-Erklärung dargelegt wird, auch durch
  • eine verstärkte Verbindungstätigkeit zwischen den Hauptquartieren der beiden Organisationen;
  • regelmäßigere politische Konsultationen;
  • eine verstärkte praktische Zusammenarbeit bei der Bewältigung von Krisen, sofern beide Organisationen beteiligt sind.
32. Eine aktive und leistungsfähige Europäische Union trägt zur allgemeinen Sicherheit des euro-atlantischen Raumes bei. Daher ist die EU für die NATO ein einzigartiger und essenzieller Partner. Den beiden Organisationen gehören zum großen Teil dieselben Mitglieder an, und alle Mitglieder der beiden Organisationen teilen gemeinsame Werte. Die NATO erkennt die Bedeutung einer stärkeren und leistungsfähigeren europäischen Verteidigung an. Wir begrüßen das Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon, der einen Rahmen für die Stärkung der Fähigkeiten der EU darstellt, mit denen sie sich gemeinsamen Herausforderungen im Sicherheitsbereich stellt. Die nicht der EU angehörenden Bündnispartner leisten einen bedeutenden Beitrag zu diesen Anstrengungen. Für die strategische Partnerschaft zwischen der NATO und der EU ist ihre möglichst volle Einbindung in diese Bemühungen von wesentlicher Bedeutung. Die NATO und die EU können und sollten bei der Förderung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit eine einander ergänzende und sich gegenseitig verstärkende Rolle spielen. Wir sind entschlossen, unseren Beitrag zu leisten, um günstigere Bedingungen zu schaffen, dank derer wir
  • die strategische Partnerschaft mit der EU im Geiste der vollen gegenseitigen Offenheit, Transparenz, Komplementarität und Achtung der Autonomie und institutionellen Integrität der beiden Organisationen umfassend verstärken;
  • unsere praktische Zusammenarbeit in Operationen im gesamten Krisenspektrum – von der koordinierten Planung bis zur gegenseitigen Unterstützung im Einsatzgebiet – intensivieren;
  • unsere politischen Konsultationen ausbauen, um alle Fragen von gemeinsamem Belang mit dem Ziel einzubeziehen, Bewertungen und Standpunkte auszutauschen;
  • umfassender an der Entwicklung von Fähigkeiten zusammenarbeiten, um Doppelarbeit auf einem Mindestmaß zu halten und ein Höchstmaß an Kosteneffizienz zu erzielen.
33. Die Zusammenarbeit zwischen der NATO und Russland ist von strategischer Bedeutung, da sie zur Schaffung eines gemeinsamen Raumes des Friedens, der Stabilität und der Sicherheit beiträgt. Die NATO stellt für Russland keine Bedrohung dar. Im Gegenteil: Wir wünschen uns eine echte strategische Partnerschaft zwischen der NATO und Russland, und wir werden entsprechend handeln, wobei wir von Russland Gegenseitigkeit erwarten.

34. Die Beziehungen zwischen der NATO und Russland beruhen auf den Zielen, Grundsätzen und Verpflichtungen der NATO-Russland-Grundakte und der Erklärung von Rom, insbesondere was die Achtung der demokratischen Grundsätze sowie der Souveränität, Unabhängigkeit und territorialen Unversehrtheit aller Staaten im euro-atlantischen Raum angeht. Ungeachtet der Meinungsverschiedenheiten in bestimmten Fragen sind wir nach wie vor überzeugt, dass die Sicherheit der NATO und die Sicherheit Russlands untrennbar miteinander verbunden sind und dass eine starke und konstruktive Partnerschaft, die auf gegenseitigem Vertrauen, Transparenz und Berechenbarkeit beruht, unserer Sicherheit am besten dienen kann. Wir sind entschlossen,
  • die politischen Konsultationen und die praktische Zusammenarbeit mit Russland in Bereichen von gemeinsamem Interesse auszubauen, einschließlich der Raketenabwehr, Terrorismusbekämpfung, Drogenbekämpfung, Pirateriebekämpfung und der Förderung der internationalen Sicherheit im größeren Maßstab;
  • das volle Potenzial des NATO-Russland-Rats für den Dialog und gemeinsames Handeln mit Russland zu nutzen.
35. Der Euro-Atlantische Partnerschaftsrat und die Partnerschaft für den Frieden sind für unsere Vision von einem ungeteilten, freien und friedlichen Europa von zentraler Bedeutung. Wir bekennen uns nachdrücklich zur Entwicklung freundschaftlicher und kooperativer Beziehungen mit allen Mittelmeerländern, und wir beabsichtigen, den Mittelmeerdialog in den nächsten Jahren weiter auszubauen. Wir messen Frieden und Stabilität in der Golfregion große Bedeutung bei, und wir beabsichtigen, unsere Zusammenarbeit im Rahmen der Istanbuler Kooperationsinitiative zu verstärken. Wir werden bestrebt sein,
  • die Konsultationen und die praktische militärische Zusammenarbeit mit unseren Partnern im Euro-Atlantischen Partnerschaftsrat auszubauen;
  • die Partnerschaft mit der Ukraine innerhalb der NATO-Ukraine-Kommission und die Partnerschaft mit Georgien innerhalb der NATO-Georgien-Kommission auf der Grundlage des Beschlusses fortzuführen und auszubauen, den die NATO auf dem Bukarester Gipfeltreffen 2008 getroffen hat, und unter Berücksichtigung der euro-atlantischen Ausrichtung oder Erwartung jedes der Länder;
  • die euro-atlantische Integration des westlichen Balkans mit dem Ziel zu erleichtern, Frieden und Stabilität auf dauerhafter Grundlage, gestützt auf demokratische Werte, regionale Zusammenarbeit und gute nachbarschaftliche Beziehungen zu gewährleisten;
  • die Zusammenarbeit mit den derzeitigen Mitgliedern des Mittelmeerdialogs zu vertiefen und für die Einbeziehung anderer Staaten der Region offen zu sein;
  • eine tiefere Sicherheitspartnerschaft mit unseren Partnern der Golfregion zu entwickeln und unverändert bereit zu sein, neue Partner in der Istanbuler Kooperationsinitiative zu begrüßen.
Reform und Transformation

36. Die NATO ist einzigartig in der Geschichte und ein Sicherheitsbündnis, das militärische Kräfte disloziert, die in der Lage sind, in jedem Umfeld zusammen zu operieren, die Operationen durch ihre integrierte militärische Kommandostruktur überall führen kann und die über Kernfähigkeiten verfügt, die sich nur wenige Bündnispartner einzeln leisten könnten.

37. Die NATO muss über ausreichende finanzielle, militärische und menschliche Ressourcen verfügen, um ihre Missionen durchführen zu können, die für die Sicherheit der Bevölkerungen und des Gebiets des Bündnisses von wesentlicher Bedeutung sind. Diese Ressourcen müssen jedoch so effizient und effektiv wie möglich genutzt werden. Wir werden
  • die Dislozierbarkeit unserer Kräfte und ihrer Fähigkeit, Operationen im Einsatzgebiet durchzuhalten, maximieren, auch, indem wir gezielte Anstrengungen unternehmen, die Ziele der NATO in Bezug auf die Einsetzbarkeit zu erfüllen;
  • eine größtmögliche Kohärenz in der Verteidigungsplanung gewährleisten, unnötige Duplizierungen verringern und die Fähigkeitenentwicklung auf die Anforderungen unserer Zeit konzentrieren;
  • die Fähigkeiten aus Gründen der Kosteneffizienz und als Ausdruck der Solidarität gemeinsam entwickeln und nutzen;
  • die gemeinsamen Fähigkeiten, Standards, Strukturen und die gemeinsame Finanzierung, durch die wir verbunden sind, erhalten und stärken;
  • uns auf einen Prozess der kontinuierlichen Reform einlassen, um die Strukturen zu straffen, die Arbeitsmethoden zu verbessern und ein Höchstmaß an Effizienz zu erreichen.
Ein Bündnis für das 21. Jahrhundert

38. Wir, die führenden Politiker der NATO, sind entschlossen, die Erneuerung unseres Bündnisses fortzusetzen, damit es gerüstet ist, die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts auf dem Gebiet der Sicherheit anzugehen. Wir sind fest entschlossen, seine Leistungsfähigkeit als das weltweit erfolgreichste politisch-militärische Bündnis zu erhalten. Unser Bündnis gedeiht als Quelle der Hoffnung, da es auf den gemeinsamen Werten der Freiheit des Einzelnen, der Demokratie, der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit beruht und da es unser gemeinsames wesentliches und unveränderliches Ziel ist, die Freiheit und Sicherheit seiner Bürger zu schützen. Diese Werte und Ziele sind ewig und universell, und wir sind entschlossen, sie im Geiste der Einheit, Solidarität, Stärke und Entschlossenheit zu verteidigen.

Quelle: Website der diplomatischen Vertretung Deutschlands in der NATO; www.nato.diplo.de
Das Strategische Konzept wurde am 19. November 2010 in Lissabon verabschiedet.
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