Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Auf Staatssouveränität bestehen

Eine friedliche Weltordnung beruht lediglich auf der Charta der Vereinten Nationen - und nicht auf einem strategischen Konzept der NATO

Von Luz María De Stéfano de Lenkait

Der nächste NATO-Gipfel steht bevor (19.und 20.11. in Lissabon). Die NATO-Staaten und ihre Politik haben bereits gezeigt, wohin die Reise gehen soll: Auf der UN- Konferenz zur Überprüfung der Abrüstung nach dem Vertrag über die Nichtweiterverbreitung von Atomwaffen im September in New York zeigte sich kein Vertreter dieser Staaten dezidiert bereit dazu, sich im Sinne der Befreiung dieses kostbaren Planeten von Atomwaffen zu engagieren. Nun soll in Lissabon die neue NATO-Strategie verabschiedet werden, die immer noch die alte atomare Abschreckung ist. Die ehemalige US-Außenministerin Madeleine Albright legte schon in Mai das Dokument NATO 2020 vor. Demzufolge geht es um folgendes:

Die NATO hält an Atomwaffen als absolute Notwendigkeit für die Abschreckungspolitik fest. Atomwaffen sollen in Europa weiterhin stationiert und modernisiert werden. Allen Plänen für einen Abzug der Atomwaffen aus Europa und der Aufgabe der nuklearen Teilhabe wird eine Absage erteilt.

Die US-Pläne für eine eigene Raketenabwehr sind zum zentralen NATO-Projekt erklärt worden. Ein Raketenschirm soll Europa schützen. Nur so könne - laut Albright - das Konzept der nationalen Abschreckung realisiert werden.

Der unverantwortliche Krieg in Afghanistan soll die aktuelle Herausforderung für die NATO sein. Verteidigungsanstrengungen der NATO-Staaten sind zu intensivieren und zu effektivieren. Die "Sicherheit der Welt" dürfe nicht durch mangelnde finanzielle Ressourcen gefährdet werden. Die NATO will sich als Interventionskraft verstehen, wenn die "Interessen ihrer Staaten gefährdet werden. Dazu zählt ausdrücklich auch die Sicherung ihrer natürlichen Ressourcen und der Handelswege". Schon dadurch demaskiert sich die NATO als Zusammenschluss für Piraterie, weitere Kriege und Gewaltanwendung. Schamlos!

EU-Europa wird als Partner und als zweites Bein der NATO anerkannt. Das ist eine deutliche Aufwertung der militaristischen Außenpolitik der EU, wie sie durch den Lissabon-Vertrag festgeschrieben ist.

Für jeden, der auf dem Boden der Prinzipien eines freiheitlich-demokratischen Rechtsstaates steht, kann das alles nur heißen, dass die Delegitimierung der NATO in die europäische Öffentlichkeit gehört. Freie Medien, Presse wie Funk- und Fernsehen sollten in der Lage sein, diese Aufklärung zu leisten. NATO und Frieden stehen sich antagonistisch gegenüber. Sie schließen sich gegenseitig aus. Jeder Politiker, jeder Staatsmann, der sich für eine friedliche und gerechte Welt einsetzt, wie sich der deutsche Außenminister Guido Westerwelle in vollem Einklang mit der Präambel des deutschen Grundgesetz erklärt und wie er die Friedenskultur der deutschen Bevölkerung einschätzt, muss die NATO überwinden wollen. Dieses Relikt des Kalten Krieges gehört, so wie die NATO ist und wie sie sein will, umgehend aufgelöst.

Die NATO-Doktrin der nuklearen Abschreckung ist ein wesentliches Hindernis beim Verwirklichen einer atomwaffenfreien Welt. Der Verzicht auf die Doktrin des atomaren Erstschlags ist untrennbar mit dem Verbot des Einsatzes von Atomwaffen verbunden. Der Aufbau und die Modernisierung der nuklearen Arsenale sind abzulehnen. Ebenso Raketenabwehrsysteme, die entwickelt werden, um die Vorbereitung für den Erstschlag zu unterstützen. Der Abzug von Atomwaffen aus ausländischen Land- und Seegebieten muss endgültig erfolgen. Die Entwicklung und die Ausweitung einer atomwaffenfreien Zone im Nahen Osten und in Europa sind eindeutig zu fördern. Die NATO steht dem im Weg.

Krieg, Aggression sowie die Androhung und Gewaltanwendung sind abzulehnen, anzuprangern und zu ahnden. So wie die Besetzung des Iraks und der Militäreinsatz in Afghanistan. Vor solchen tatsächlichen erwiesenen Gefahren, die von der NATO ausgehen, die Augen zu schließen, hilft keinem Außenminister, keinem Staatsmann.

Die europäischen Staaten müssen auf ihrer Staatssouveränität bestehen, das heißt auch zu fordern und zu arrangieren, dass alle ausländischen Truppen von ihrem Territorium abgezogen werden. Ausländische Militärbasen sind abzulehnen und zu beseitigen. Militärische Bündnisse wie die NATO, die potentielle Gegner voraussetzen, sind abzulehnen.

Eine neue friedliche Weltordnung beruht lediglich auf der Charta der Vereinten Nationen. Nicht länger darf eine Handvoll großer Mächte die Welt beherrschen. Wir stehen an der Schwelle einer neuen Welt, in der alle Länder das Völkerrecht beachten, ihre Funktionen gleichberechtigt ausüben und durch aktive Teilnahme der Gesellschaft unterstützt werden. Der deutsche Außenminister hat diesen Punkt - zwar diplomatisch verklausuliert - aber immerhin angesprochen. (Interview mit Financial Times, 17.11.10: www.ft.com/westerwelle).

Natürlich gibt es kein Einverständnis, solange die 28 NATO-Staatsmitglieder über die zahlreichen Themen nicht einer Meinung sind. Deshalb ist es eine unglaubliche Beleidigung für die europäischen Staatsrepräsentanten, dass ein vorgefertigtes Dokument schon auf dem Tisch zur Unterschrift liegt, bevor die Diskussion überhaupt angefangen hat. Ein Grund, den Saal zu verlassen, wenn die Urheber eines solchen Dokuments mittels fait accompli ein Ergebnis erzielen wollen, das gar nicht zur Diskussion zugelassen und zur Abstimmung vorgelegt wurde. Es ist dasselbe bekannte Muster eines amerikanischen überraschenden Überfalls, der die Diplomatie annullieren soll, wie es auch im Vorfeld des ersten Irak-Kriegs und anderer US-Aggressionen geschah. Ein ernster Grund für würdige Außenminister, das NATO-Treffen sofort zu unterbrechen und zu verlassen, denn eine solche Respektlosigkeit, ein solcher Überfall auf die Souveränität von demokratischen Staaten ist inakzeptabel und nicht zu dulden.

Der US-Präsident Obama hat sich seit seiner Prager Rede auf den Vertrag zur Nichtweiterverbreitung von Atomwaffen (NPT) berufen, um seine Vision einer atomwaffenfreien Welt anzukündigen. Ebenso der deutsche Außenminister Guido Westerwelle, der Obama auf dieser völkerrechtlichen Basis folgt, wie in dem erwäöhngten Westerwelle-Interview der Financial Times zu lesen ist.

Gerade die NATO mit ihrer alten oder "neuen" Strategie steht nicht nur im Widerspruch zur UN-Charta, die den Gewaltverzicht-Grundsatz vorschreibt, sondern auch im Widerspruch zum NPT-Vertrag. Der Nichtverbreitungsvertrag von Atomwaffen, auch Atomwaffensperrvertrag genannt, ist seit 1970 in Kraft. Er verpflichtet die Vertragspartner zu umfassender Abrüstung aller Atomwaffen und Einstellung ihrer Produktion, was bisher nicht geschehen ist. Im Gegenteil setzt man eine Modernisierung fort, die die US-Regierung trotz des von ihr unterzeichneten Vertrages weiter betreibt und weiter betreiben will nach dem fertigen Dokument NATO 2010 à la Albright. Verträge sind internationales Recht. Guido Westerwelle ist sich darüber im klaren. Da, wo sich eine Regierung über Recht und Gesetz erhebt, verhält sie sich wie im Faschismus als Überlegenheitsmacht ohne jede Rechtfertigung. Für die faschistische Weltanschauung galt das Recht des Stärkeren. Für diese barbarische Ideologie war jede Androhung von militärischer Gewalt ein ganz normaler Vorgang, denn für den Faschisten setzt Macht Recht. Allgemeingültige Rechtsnormen und rechtliche Vertragsbindungen existieren für ihn nur solange, wie es seiner Interessenlage paßt. Dieses Denkmuster entspricht der Mafia-Mentalität, wie der berühmte Film "Allein gegen die Mafia" ganz deutlich zeigt: Als Julia, die Enkelin von Nikola Antinari, sein ungesetzliches Handeln anspricht, antwortet der mächtige Alte vollbewußt und selbstsicher: "Eben, aber wir machen es trotzdem."

Als einzige Demokratie sind es die USA, die das zerstörerische Atom-Potential einmal skrupellos benutzten und wiederholt kriminell damit weiter drohen. Immer noch. Eine Institution, die in Europa weiterhin besteht und sich anmaßt gegen alle rechtlichen Beschlüsse und autorisierte Mahnungen fortzufahren, mit dem Erstschlag zu drohen, hat keine Legitimation in Europa und ist aufzulösen. Reine demaskierte Barbarei ist die NATO-Strategie. Die extreme Brutalität des angefertigten Dokument NATO 2020, das die NATO als Interventionskraft bezeichnet, ist unvorstellbar für normale Menschen. Sollten die europäischen Außenminister es unterzeichnen, belegte das zweifelsfrei die andauernde Unzurechnungsfähigkeit von europäischen Staatsrepräsentanten.

Die Einschätzung von Professor John Kenneth Galbraith bleibt hoch aktuell. Er bezeichnete es angesichts der Wende in Europa als äußerst sinnvoll, die NATO zu einer internationalen Kontrollinstanz für die Abrüstung umzufunktionieren. (Wirtschaftswoche, 17.11.89). Gerade diesen Schritt haben alle Bundesregierungen 20 Jahre lang unterlassen, während der Warschauer Pakt sich rechtzeitig selbst auflöste. Es ist immer noch zu hoffen, dass der deutsche Außenminister Guido Westerwelle zusammen mit einer das Recht achtenden Opposition denselben Fehler nicht weiter fortführen wird, was fatale Konsequenzen für Europa hätte.

Ein Europa des Friedens, wie es sich der deutsche Außenminister wünscht, ist unvorstellbar unter Bruch internationaler Verträge, unter Missachtung des Völkerrechts, ohne auf die legitime autorisierte Interpretation des Völkerrechts durch den einstimmigen Beschluss des UN-Gerichtshofs in Den Haag von 8. Juli 1996 strikt zu achten. Demgemäß sind nukleare Waffen als völkerrechtswidrig zu betrachten, ihr Besitz und ihre Androhung damit als Verbrechen gegen die elementarsten humanitären Gesetze. Eine erhebliche Majorität der Völker in der UN-Vollversammlung begrüßte den Beschluss des UN-Gerichtshof von Den Haag (8.7.96) und stellte sich hinter die angestrebte totale nukleare Abrüstung (10.12.96), so dass seit April 1997 ein Atomwaffen-Abrüstungsabkommen fertig auf dem Tisch der Vollversammlung liegt. Die Medien müssen endlich aufwachen, die Ernsthaftigkeit und Dringlichkeit der Abrüstung begreifen und sich darum kümmern, sich dieser ernsten Angelegenheit anzunehmen.

Ebenso verabschiedete das Europäische Parlament eine Resolution (13.3.97), die den UN-Gerichtsbeschluss begrüßt und alle europäischen Mitgliedsstaaten dazu aufruft, Verhandlungen für ein Atomwaffen-Abrüstungsabkommen zu initiieren, um ihre legale Verpflichtung zur Abrüstung zu erfüllen. Der deutsche Außenminister und seine europäischen Kollegen sollten auf diesem Weg zur Abrüstung bleiben. Beim NATO-Treffen müssen sie sich klar dazu bekennen. Das ist das Mindeste, wenn sie es schon nicht wagen, Fristen für den Abzug dieser massenmörderischen schwerstkriminellen Waffen von europäischen Boden festzusetzen und zu fordern. Während fast die gesamte südliche Hemisphäre frei von Atomwaffen ist, bleibt das Problem auf der nördlichen Hemisphäre immer noch ungelöst.

Schon das tragische und blutige 20. Jahrhundert der Weltgeschichte erlebte mehrfach und im Extrem, was Missachtung von internationalen Verträgen und Völkerrecht bedeutet. Ist der deutsche Außenminister Guido Westerwellle glaubhaft, wenn er behauptet, diese Lektion hat Deutschland gewissenhaft gelernt?


Zurück zur Sonderseite "Strategisches Konzept der NATO"

Zur Atomwaffen-Seite

Zur EU-Europa-Seite

Zurück zur Homepage