Antiquierte Drohkulisse
Friedensforscher: US-Atomwaffen in Deutschland und Europa sind kein Schutz, sondern Überbleibsel aus der Ära des Kalten Krieges. Bündnis fordert Abschaffung
Von Claudia Wangerin *
Für in Deutschland und Europa stationierte US-Atomwaffen gibt es keine überzeugenden Argumente. Das geht aus einer Studie hervor, die der Friedensforscher Otfried Nassauer im Auftrag der IPPNW (Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verantwortung e.V.) erstellt hat.
Die Untersuchung »Die NATO und der nukleare Schirm - Gibt es gute Gründe für Atomwaffen in Deutschland und Europa?« wurde am Mittwoch in Berlin vorgestellt. Aktueller Anlaß war die heute in Brüssel beginnende Konferenz der Außen- und Verteidigungsminister der 28 NATO-Länder. Der »nukleare Schirm« biete keinen Schutz und sei ein Überbleibsel aus der Ära des Kalten Krieges, so das Fazit des Bündnisses »Zukunft ohne Atomwaffen«, dem außer der IPPNW die Gewerkschaft ver.di und Friedensgruppen wie Pax Christi angehören.
Otfried Nassauer hat die Argumente der Abrüstungsgegner systematisch überprüft. Unzutreffend sei zum Beispiel die Behauptung, die Bundesregierung würde mit dem Ausstieg aus der nuklearen Teilhabe ihr Mitentscheidungsrecht innerhalb der NATO verlieren. Es gebe eine Reihe von Staaten, die ohne diese Teilhabe keine Nachteile innerhalb des Militärbündnisses hätten. Auch das berühmte Argument, als Teilhabe-Land könne man den Einsatz nuklearer Waffen durch ein Veto verhindern, sei ein Gerücht: »Ich gehöre zu den relativ wenigen Leuten, die die Konsultationsrichtlinien der NATO einmal durchlesen durften«, sagte Nassauer. »Da steht nichts drin, woraus sich ein solches Sonderrecht kreieren läßt.« Konsultiert würde im Ernstfall nur, »wenn Zeit und Umstände es erlauben«. Im Kalten Krieg, so Nassauer, hätten es Zeit und Umstände im Fall einer Eskalation womöglich nicht erlaubt.
Auch die Behauptung, die NATO benötige Atomwaffen auf deutschem und europäischem Boden zur nuklearen Abschreckung, sei unzutreffend. Das gilt der Studie zufolge selbst dann, wenn die Feindbilder des Nordatlantikpakts nicht in Frage gestellt werden: »Zahlenmäßig gibt es mehr Atomsprengköpfe auf britischen und amerikanischen U-Booten«, so der Friedensforscher. Bleibt es bei der Stationierung von US-Kernwaffen in Deutschland, müßten die deutschen »Tornado«-Trägerflugzeuge für teures Geld modernisiert werden. Denn der Eurofighter, der letztere am Luftwaffenstandort Büchel ersetzen soll, kann keine Atomwaffen tragen - abgesehen davon, daß ein solcher Einsatz in nahezu allen Konstellationen rechtswidrig wäre. Der Internationale Gerichtshof war sich nur in einem einzigen Fall nicht einig: Mit vier zu vier endete die Abstimmung der Richter, ob der Gebrauch auch rechtswidrig sei, nachdem das Land selbst von einem Nuklearangriff getroffen wurde.
Das Bündnis »Zukunft ohne Atomwaffen« verlangt von der Bundesregierung eine klare Entscheidung für die Abrüstung, sieht allerdings einen Konflikt zwischen Auswärtigem Amt und Verteidigungsministerium. Obwohl Außenminister Guido Westerwelle (FDP) bei den Koalitionsverhandlungen durchgesetzt hat, den Abzug der US-Atomwaffen als Ziel festzuschreiben, passiere zur Zeit nichts - und das, obgleich die Forderung von Politikern aller Fraktionen unterstützt wird. Im März sprach sich der Bundestag mit großer Mehrheit für die Entfernung der US-Atomwaffen aus Deutschland aus. In der NATO konnte sich Westerwelle mit der Forderung nach einem Abzug der noch verbleibenden taktischen Nuklearwaffen bislang offenbar nicht durchsetzen.
* Aus: junge Welt, 14. Oktober 2010
Auszug aus der Nassauer-Studie
Quo vadis NATO ? - Eine Schlussbemerkung
Zurück zur Ausgangsfrage: In der Diskussion über ein neues
Strategisches Konzept werden unterschiedliche Argumente benutzt,
um zu begründen, warum die NATO die nukleare Teilhabe
und die Stationierung nuklearer Bomben der USA in Europa
aufrechterhalten sollte. Wie stichhaltig und schlüssig sind diese
Argumente? Darauf gibt es nicht eine, sondern gleich mehrere
Antworten:
-
Etliche Argumente sind schlicht unzutreffend. Dazu zählt
etwa die Behauptung, mit der Stationierung substrategischer
Nuklearwaffen in Europa werde die nukleare Abschreckung
aufgegeben oder die These, die Mitgliedschaft in den nuklearen
Gremien der NATO und das Recht zur Mitsprache
in Nuklearfragen sei abhängig von einer Beteiligung an der
technisch-nuklearen Teilhabe.
-
Andere Argumente sind davon gekennzeichnet, dass deutlich
mehr gegen als für sie spricht. So spricht wenig dafür,
dass die Präsenz substrategischer Nuklearwaffen die Ankopplung
der USA an die Risiken eines Nuklearwaffeneinsatzes
in Europa sicherstellt und sehr viel dafür, dass die
Existenz substrategischer Nuklearwaffen in Europa eher die
Voraussetzung dafür ist, dass eine Abkopplung der USA und
ein regional begrenzter Nuklearkrieg überhaupt möglich
werden könnten.
-
Überraschenderweise werden viele Argumente genutzt, die
unter völlig anderen Voraussetzungen entstanden sind. In
80 Damit wäre aber ein erhebliches Problem mit Griechenland
verbunden, da die NATO traditionell darauf achtet, Griechenland
und die Türkei in statusrelevanten Fragen gleich zu behandeln.
den 1950er und 1960er Jahren versuchten nicht-nukleare
Staaten wie die Bundesrepublik von den Nuklearmächten
endlich mehr Mitspracherechte über die Einsatzplanung für
Tausende bereits stationierter taktischer Atomwaffen zu bekommen.
Diese Waffen hatten meist eine so geringe Reichweite,
dass sie auf dem Territorium des Landes explodiert
wären, in dem sie stationiert waren. Vorgetragen werden
diese alten Argumente aber heute, als gehe es immer noch
um diese Problematik. Europäische Befürworter des nuklearen
Status quo fürchten den Verlust von Mitspracherechten
und befürworten den Erhalt dessen, wofür sie während des
Kalten Krieges Konsultationsrechte erkämpften. Washington
dagegen versucht, jeden Anschein zu vermeiden, als betreibe
es den Abzug der letzten substrategischen Nuklearwaffen.
Praktisch unbeachtet bleibt dabei, dass die aktuelle
Diskussion unter völlig veränderten, ja umgekehrten Vorzeichen
geführt werden müsste: Heute geht es darum zu diskutieren,
ob ein Verzicht auf substrategische Nuklearwaffen
sinnvoll ist und europäische Sicherheit besser garantiert als
die Beibehaltung dieser Systeme.
-
Manche dieser historischen Argumente führen heute sogar
zu grotesk anmutenden Gedankenkonstruktionen. Ein Beispiel
ist das Argument, die Stationierung substrategischer
Nuklearwaffen in Europa demonstriere die Bereitschaft
Washingtons, New York für Hamburg oder Rom zu riskieren
und sei ein unverzichtbarer Ausdruck transatlantischer
Solidarität.
-
Zudem fällt auf, dass viele Argumente und deren Begründung
nur dann überhaupt Sinn machen könnten, wenn man
davon ausgeht, dass Russland eine konfrontative oder gar
aggressive Politik gegenüber der NATO betreibt und deshalb
als nuklear bewaffneter Gegner mit dem Gedanken eines
Nuklearkrieges gegen die NATO spielen könnte. Das steht
nicht nur in einem auffälligen Widerspruch zu allen Beteuerungen,
Russland sei ein potentieller Partner der NATO bei
der Eindämmung heute wichtigerer Risken wie des nuklearen
Terrorismus, der Bekämpfung der organisierten Kriminalität
und der Proliferation. Es steht aber in erkennbarer
Übereinstimmung mit einem anderen "Argument hinter den
Argumenten":
-
Etliche Argumente zielen ganz offensichtlich, andere indirekt
darauf, neue Hürden für weitere Schritte nuklearer
Abrüstung und vertraglich vereinbarter Rüstungskontrolle
aufzubauen und diese auf einen fernen Sankt Nimmerleinstag
zu vertagen. Dazu gehören Forderungen, die substrategischen
Waffen in den nächsten START-Vertrag einzubeziehen
ebenso wie Forderungen, deren weitere Reduzierung
an zusätzliche Bedingungen zu knüpfen - z.B. an den Aufbau
einer Raketenabwehr der NATO oder mehr Transparenz
und Abrüstungsbereitschaft Russlands bei substrategischen
Nuklearwaffen. Vollends deutlich wird diese Tendenz, wenn
solche Argumente von jenen vertreten werden, die die zugesagte
Anpassung des KSE-Regimes an die umfangreichen
Erweiterungen der NATO weiter ablehnen oder gar schlicht
deren Notwendigkeit leugnen.
Gemeinsam ist den Argumenten, dass kein einziges eine überprüfbare,
nachvollziehbare Begründung dafür darstellt, dass die
NATO auch künftig zwingend substrategische Nuklearwaffen
in Europa benötigt, um glaubwürdig abschrecken zu können.
Genau das aber sollte man erwarten, wenn die Allianz sich die
Aufgabe stellt, ein neues strategisches Konzept zu entwickeln,
in dem die Rolle der nuklearen Komponente für die Zukunft
beschrieben wird. Es müsste begründen, warum die technischnukleare
Teilhabe und die Stationierung substrategischer Nuklearwaffen
in Europa auch künftig die glaubwürdigste und
wirksamste mögliche Form nuklearer Abschreckung für Europa
und den transatlantischen Sicherheitsraum darstellen. Es müsste
eine überzeugende Begründung enthalten, warum eine Abschreckung
mit ausschließlich strategischen Nuklearwaffen von geringerer
Glaubwürdigkeit wäre und deshalb weniger Sicherheit
garantieren würde. Ein solches Bemühen ist in den Argumenten
der Befürworter des Status quo aber gar nicht zu erkennen. Sie
erklären auch nicht, warum und wie Vorteile, die Verzicht auf
die substrategischen Systeme in Europa mit sich bringen könnte,
durch eine Beibehaltung des Status quo mehr als aufgewogen
werden könnten. Denn mit einem Abzug wären ja durchaus gravierende
Vorteile verbunden: Die NATO würde ein eigenständiges
Signal aussenden, dass die Rolle nuklearer Waffen weiter verringert
wird und diese immer mehr zu einem letzten Mittel werden,
für das ein minimales Abschreckungspotential ausreicht. Sie
würde signalisieren, dass sie Abrüstung und Rüstungskontrolle
künftig wieder eine größere Bedeutung zumisst. Und sie würde
alle Zweifel beseitigen, ob sich die NATO-Länder vollständig an
die Verpflichtungen aus Artikel I und II des Nichtverbreitungsvertrages
halten, wenn die technisch-nukleare Teilhabe beendet
würde. Hinzu kämen auch noch erhebliche finanzielle Einsparungen.
Wie geht es nun weiter? Der Ende September vorgelegte Entwurf
für das neue Strategische Konzept ist Grundlage für eine Diskussion
der Außen- und Verteidigungsminister am 13./14. Oktober.
Aus dieser sollen die Vorgaben weiterer Arbeit hervorgehen, damit
der Entwurf rechtzeitig zum Lissabonner NATO-Gipfel am
19./20. November fertiggestellt werden kann.
Dass die NATO - angesichts der widersprüchlichen Vorstellungen -
problemlos zu einem tragfähigen Konsens über die nukleare
Komponente ihrer Strategie und die Zukunft der Abschreckung
findet, ist unwahrscheinlich. Formelkompromisse und minimalistische
Aussagen zur Rolle nuklearer Waffen und zum künftigen
Nukleardispositiv der Allianz sind das wahrscheinlichere Ergebnis.
Schon eine Einigung darauf, der nuklearen Abrüstung und
Rüstungskontrolle im neuen Strategischen Konzept der NATO
eine deklaratorisch gestärkte Rolle zuzuweisen, dürfte schwierig
werden. Zum einen wehrt sich Frankreich grundsätzlich dagegen,
weil es fürchtet, auf diesem Wege könne sich die Allianz in
die französische Nuklearpolitik einmischen. Zum anderen führen
die Vorschläge Washingtons, während der nächsten Runde nuklearer
Abrüstungsgespräche mit Russland über substrategische
und nicht aktiv stationierte Nuklearwaffen zu verhandeln, zu erheblichen
zeitlichen Risiken für die Zukunft der nuklearen Abrüstung.
Auch in der NATO scheint sich die Erkenntnis durchzusetzen,
dass bis November keine grundlegende Einigung zu erzielen ist.
Deshalb dürfte der Gipfel weitere Arbeitsaufträge zur Diskussion
über die Nuklearpolitik und das nukleare Dispositiv der Allianz
erteilen. Deren Notwendigkeit ergibt sich aus zwei Bereichen der
bisherigen Diskussion: Zum einen muss die Allianz gründlich diskutieren,
welche Folgen die Auswirkungen des Nuclear Posture
Reviews und der veränderten nationalen Strategie der USA auf
die künftige Nuklearpolitik der NATO haben. Diese sind erheblich
und zudem - wie sich bei der Analyse einiger Argumente zeigte
- auch Folgen für die Bedeutung wichtiger Zusammenhänge in
der NATO-Strategie. Zum anderen steht die Allianz vor der Frage,
ob sie ihr substrategisches Nuklearpotential in Europa tatsächlich
modernisieren will. Diese Debatte stünde im Bündnis unter
veränderten Vorzeichen. In ihr müssten die NATO-Länder, die
schon heute einen Verzicht auf substrategische Nuklearwaffen in
Europa für möglich halten, überzeugt werden, einer Modernisierung
zuzustimmen, gegebenenfalls eigene Trägersysteme zu modernisieren
und kein Veto gegen eine Modernisierung einzulegen
oder zumindest einem erneuten Doppelbeschluss zuzustimmen.
Ob sie dazu bereit wären, darf aus heutiger Sicht als ungewiss
gelten.
Klar ist aber schon jetzt eines: Die NATO hat im Frühjahr 2010
die Gelegenheit verstreichen lassen, der Überprüfungskonferenz
des Atomwaffensperrvertrags zu signalisieren, dass die Rolle nuklearer
Waffen für die Strategie der Allianz weiter abgenommen
hat. Dieses Signal hätte aus der Ankündigung bestehen können,
künftig auf substrategische Nuklearwaffen in Europa zu verzichten
und die technisch nukleare Teilhabe zu beenden. Damit wären
zugleich alle Zweifel an einer vertragskonformen Implementierung
des NVV durch die NATO-Staaten ausgeräumt und ein
Stein des Anstoßes beseitigt worden. Das Signal erfolgte nicht.
Nun deutet sich an, dass die NATO-Staaten auch die zweite Gelegenheit,
ein solches Signal auszusenden, verstreichen lassen
werden. Das neue Strategische Konzept der NATO wird an beiden
Elementen weiter festhalten und deren künftige Notwendigkeit
allenfalls weiter untersuchen. Da die Debatte darüber, ob und in
welchem Umfang die Allianz ihr substrategisches Nuklear-potential
modernisieren sollte, die nächste Runde der Diskussionen in
der Allianz prägen wird und zugleich die Versuche, die nukleare
Abrüstung als politisches Aktionsfeld des Bündnisses zu stärken,
vom Scheitern bedroht sind, lautet das Signal, dass die NATO derzeit
aussendet: Obamas "Vision Null" bleibt auf absehbare Zeit
nicht mehr als eine Vision. Die NATO wird, solange es Nuklearwaffen
gibt, eine nukleare Allianz bleiben. Die NATO und ihre
nukleare Komponente - das bleibt eine unendliche Geschichte.
Aus: Die NATO und der nukleare "Schirm" - Gibt es gute Gründe für Atomwaffen in Deutschland und Europa? Ein Hintergrundpapier von Otfried Nassauer (IPPNW akzente, Oktober 2010), S. 20-21.
Zur ganzen Studie (21 Seiten):
IPPNW-akzente (pdf-Datei)
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