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Mehr Europa für Moskau, weniger Nato für Kiew und Tiflis

Von Andrej Fedjaschin *

In der EU und der Nato beginnt die Saison der Winter-Gipfel und -beratungen, die gewöhnlich den halbjährig rotierenden EU-Vorsitz und das "Nato-Jahr" abschließen.

Als erstes kommt ein sehr wichtiges Treffen der Nato-Außenminister am 2. und 3. Dezember in Brüssel und dann, am 11. und 12. Dezember, wird auch in Brüssel der französische Präsident Nicolas Sarkozy von seinem Vorsitz in der Europäischen Union Abschied nehmen und ihn an Tschechien übergeben.

Das ist die anstrengendste Zeit für diejenigen europäischen Beamten, die die Treffen und Dokumente vorbereiten, aber eine Art Frühling für die zahlreichen Braintrusts und Experten, die dem EU-Brüssel und dem Nato-Brüssel vorzusagen wagen, in welcher Richtung sie sich im nächsten Jahr am besten bewegen sollten.

Solche Blicke in die nächste Zukunft wären jedoch am besten zu vermeiden, denn das wurde bereits getan und hat zu nichts Gutem geführt.

Alle jüngsten außenpolitischen Empfehlungen, Einstellungen und Direktiven der EU - sie der Presse "anzuvertrauen" ist eine alte Tradition - sowie die Expertenräte vor den Treffen erinnern sehr an die Ergebnisse der etwas verspäteten "Kaukasus-Obduktion". Ihr "allgemeines pathalogisch-anatomisches Bild" (ein gewiss hässlicher Vergleich, aber was tun, wenn die Ähnlichkeit doch vorliegt) zeigt jetzt weit mehr Klarheit, als gleich nach dem Kaukasus-Krieg im August. Zwei Dinge sind offenbar fast endgültig klar geworden: Die EU sollte ihre engen Kontakte mit Russland intensivieren, während in Bezug auf den Nato-Beitritt von Tiflis und Kiew Vorsicht geboten ist.

Im Grunde musste das früher oder später so kommen. Sehr gut möglich ist, dass jene, die ihren Weg vom "Kaukasus-Konflikt" weg noch nicht gewählt haben, nach der jüngsten Clownerie - dem Tiflis-Besuch von Polens Präsident Lech Kaczynski und dem "Zwischenfall" mit dem Beschuss des Wagens von Kaczynski und Saakaschwili am südossetischen Grenzposten in Achalgori am 23. November - sich zu ernsten Schlüssen bewogen fühlen werden.

Das Odiöse der Freundschaft und der Handlungen beider Präsidenten hat jetzt den Höhepunkt der Hanswursterei erreicht. "Wie der Besuch, so das 'Attentat', denn um aus 30 Meter Entfernung einen Wagen nicht zu treffen, muss ein blinder Scharfschütze am Werk gewesen sein." So die Reaktion von Bronislaw Komorowski, Vorsitzender des polnischen Sejm, auf das "Attentat". Der Ex-Verteidigungsminister ist nicht der letzte Mann in der polnischen Machthierarchie. Menschen dieses Kalibers vermeiden es sonst, wenn sie das Staatsoberhaupt achten, einen Anschlag auf dessen Leben mit solchen Äußerungen zu kommentieren.

Dass die Nato jetzt für Saakaschwili und Juschtschenko in eine noch weitere Ferne gerückt ist, hat selbst Daniel Fried, Assistent der US-Außenministerin für Eurasien, zugegeben. Niemand anders als er ist im Außenamt für die ganze "postsowjetische Richtung" zuständig und war früher der wichtigste "Mauerbrecher" der Administration Bush bei ihren Versuchen, die Mitgliedschaft von Tiflis und Kiew trotz der Einwände von Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien durchzudrücken.

Fried erzählte Journalisten, mit welchem Gepäck die USA zum Außenministertreffen am 2. und 3. Dezember in Brüssel reisen würden, und sagte unter anderem, dass Saakaschwili und Juschtschenko von der Einladung in die Nato "Jahre trennen". Vor weniger als einem Monat noch versicherte derselbe Fried, der Beschluss über die Gewährung des MAP - der "Straßenkarte" für den Beitritt zum Block - an Kiew und Tiflis werde in Brüssel gefasst und bei dem im April 2009 bevorstehenden Jubiläumsgipfel der Nato (60. Gründungstag) im französischen Straßburg sowie im deutschen Kehl endgültig gebilligt sein.

Statt dessen werde die Nato, so Fried, bei der bevorstehenden Beratung "über eine Antwort nachdenken" auf die Vorschläge des russischen Präsidenten Dmitri Medwedew über den Aufbau einer neuen Architektur der gesamteuropäischen Sicherheit. Die Europäer sprechen bereits beinahe offen davon, dass die Aufnahme einer solchen Unausgewogenheit wie Saakaschwili in die Nato sehr gefährlich ist.

Die Europäische Union ihrerseits geht jetzt ebenfalls daran, ihre Mitglieder ohne Umschweife daran zu erinnern, dass die Beziehungen zu den ehemaligen Sowjetrepubliken zwar eine gute Sache seien und dass man sie festigen solle, aber ohne dadurch die Beziehungen zu Russland zu ersetzen.

Die gesamteuropäische Zeitung "EU Observer" bekam Zugang zum Entwurf einer EU-Direktive betreffs des schon erwähnten Brüsseler Gipfels der Union. Darin wird die Position Brüssels gegenüber Weißrussland, der Ukraine, Georgien, Moldawien, Armenien, Aserbaidschan und, für sich, gegenüber Russland auseinandergesetzt. Die Direktive ist eine offensichtliche Antwort auf das "Ungestüm" der Baltikum-Länder, die eine Wiederaufnahme der vollumfänglichen Verbindungen mit Moskau ablehnen.

Dieses Dokument handelt also von der Notwendigkeit, die "europäischen Bestrebungen" dieser Länder zu befriedigen, ja mit ihnen sogar ein "Abkommen über die Assoziation" im Rahmen des Programms "Osteuropäische Partnerschaft" zu schließen. Doch schon in der Präambel zur Direktive heißt es klipp und klar: "Die Osteuropäische Partnerschaft ist als Ergänzung zu den Beziehungen zwischen der EU und Russland zu betrachten, was einen Dialog über unsere gemeinsame Nachbarschaft einschließt."

Mehr noch, in dieser Anweisung für die europäischen Diplomaten wird betont, dass nach Meinung der EU-Kommission die Beziehungen EU - Russland den Beziehungen der EU zu den genannten Ländern des Programms "Osteuropäische Partnerschaft" das Primat haben. Weiter heißt es, dass einige "Partnerländer bei der Entwicklung ihrer demokratischen Institute große Schwierigkeiten haben". Konkret wird kein einziges Land erwähnt. Denkt man jedoch daran, dass Brüssel weit davon entfernt ist, Weißrussland, Armenien, Aserbaidschan und Moldawien als auch nur halbwegs demokratische Staaten zu betrachten, so lässt sich mühelos erraten, dass die Rede von Kiew und Tiflis ist.

Auch Jim O'Brien, ehemaliger stellvertretender Direktor der Abteilung Politische Planung in der Administration von Bill Clinton, hat zum EU-Gipfel einen offenen Brief an Brüssel vorbereitet. Jetzt ist er einer der außenpolitischen Berater von Präsident Barack Obama. O'Brien behauptet, dass sich heute weder die Nato noch die OSZE noch die GUS für den Aufbau einer neuen europäischen Sicherheitsarchitektur eignen. "Die beste Alternative wäre es, die politische und die Sicherheitsarchitektur gemäß den Beziehungen zwischen den USA, der EU und Russland unter Berücksichtigung der Interessen aller drei Akteure völlig neu zu gestalten und eine Sicherheitsgemeinschaft zu schaffen, in der Russland als gleicher Partner voll integriert wäre."

Denkt man daran, was Russlands Präsident Dmitri Medwedew auf dem Gipfel EU - Russland in Nizza, dem Gipfel der G20 in Washington und in einer Serie seiner jüngsten Interviews für französische Zeitungen sagte, so könnte leicht der Eindruck entstehen, all das wäre von seinen Thesen abgeschrieben. Dabei ist Jim O'Brien bisher nie ein Plagiat nachgesagt worden.

Die Meinung des Verfassers muss nicht mit der von RIA Novosti übereinstimmen.

* Aus: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 27. November 2008


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