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Zuviel Ambitionen und zu wenig Realismus? NATO-Generalsekretär Rasmussen ist ein Jahr im Amt

Ein Beitrag von Christoph Prößl aus der NDR-Sendereihe "Streitkräfte und Strategien"


Ulrike Bosse (Moderation):
2014 soll die Verantwortung für die Sicherheit in Afghanistan von den internationalen Truppen an die Afghanen übergeben werden, so wurde es auf der Kabuler Konferenz vor knapp zwei Wochen beschlossen. In welchem Zustand sich Afghanistan dann befindet und mit wie viel „Anstand“ – wenn schon nicht „Erfolg“ – sich die westlichen Truppen zurückziehen können, wird auch wesentlichen Einfluss haben auf die Zukunft der NATO. Für die tägliche Arbeit im Bündnis und für die Entwicklung der künftigen Strategie ist seit einem Jahr Anders Fogh Rasmussen verantwortlich. Wie der neue NATO-Generalsekretär sein Amt bisher geführt hat, hat Christoph Prößl beobachtet:

Manuskript Prößl:

Wenn es alleine darum ginge, bei Facebook viele Freunde zu haben, dann wäre Anders Fogh Rasmussen wirklich erfolgreich. Über 50.000 Nutzer bekunden im Internet, dass ihnen der NATO-Generalsekretär gefällt. Und unter seinen Fans sind viele Menschen, die nicht den Eindruck erwecken, als gehörten sie der Gemeinschaft von sicherheitspolitisch Interessierten an. Der Däne hat es verstanden, neue Medien zu nutzen, um einer breiten Öffentlichkeit bekannt zu sein. Doch seine Öffentlichkeitsarbeit geht noch viel weiter: Olivier Jehin, Chefredakteur des Fachdienstes Europe Diplomacy and Defence:

O-Ton Jehin:
„Rasmussen nimmt zum Beispiel auch Teil an den Treffen der EU-Verteidigungsminister. Und danach gibt er eine Pressekonferenz. Die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton nimmt weder an den NATO-Treffen teil, noch gibt sie dann eine Pressekonferenz.“

Folglich sei Rasmussen viel präsenter als die oberste Außenpolitikerin der Europäischen Union.

Doch das mediale Lächeln des Generalsekretärs täuscht über die Stimmung hinweg, die auf den Fluren des Hauptquartiers in Brüssel herrscht. In mehreren Ländervertretungen heißt es, Rasmussen sei mehr General als Sekretär. Entscheidungen fälle er im kleinsten Kreise, es herrsche ein dominanter Ton und er sei beratungsresistent. Bei seinem Vorgänger Jaap de Hoop Scheffer hatte es diese Kritik nicht gegeben. Olivier Jehin:

O-Ton Jehin:
„Rasmussen und de Hoop Scheffer sind ja sehr unterschiedlich. Rasmussen war Regierungschef, de Hoop Scheffer war vor allem Diplomat. Er war Außenminister der Niederlande. Er war den Umgang mit den anderen Außenministern gewöhnt und mit den Diplomaten. Einige NATO-Botschafter haben kritisiert, wie Rasmussen im täglichen Geschäft mit ihnen umgeht.“

Zu forsch, zu ambitioniert sei Rasmussen, heißt es. Alleine seine Agenda für das erste Jahr zeigt, wie viel sich der Generalsekretär vorgenommen hat: Akzente in der Russland-Politik setzen, die NATO reformieren und Strukturen vereinfachen, Personal abbauen, ein strategisches Konzept ausarbeiten und nebenbei noch den wichtigsten Einsatz der Allianz managen, Afghanistan.

Doch Rasmussen erreicht nicht immer das, was er sich vorgenommen hat: Beispiel Reform der NATO-Strukturen. Rasmussen hat angekündigt, die Zahl der Hauptquartiere zu reduzieren und Personal abzubauen, bis zu 4000 Personen der 13.500 Beschäftigten. Außerdem soll die NATO handlungsfähiger werden, unter anderem durch bessere Strukturen. Der Generalsekretär ließ die Arbeit der zahlreichen Gremien überprüfen und löste kurzerhand einen Großteil der Komitees auf. Die NATO-Hauptquartiere seien ein Paradies für Menschen, die Komitees liebten, doch das sei bei ihm nicht der Fall, sagte Rasmussen.

O-Ton Rasmussen:
„Our headquarters is a paradise for people who love committees. I have to tell you that I am not one of those people.”

Er wolle das Fett wegschneiden, nicht die Muskeln. Knackige Worte des Generalsekretärs, die die Medien gerne aufgriffen. Markus Kaim, Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin.

O-Ton Kaim:
„Man muss natürlich fragen, wie viel davon Symbolik ist und wie viel davon substantiell Verschlankung wirklich ist. Es ist ja nicht damit getan, die Zahl der Komitees zu halbieren, wenn man die Zahl der anfallenden Tagesordnungspunkte gleich lässt. Dann werden einfach die Sitzungen der übrig gebliebenen Komitees doppelt so lang. Das zeichnet sich innerhalb der NATO auch ab. Da sehe ich so einige Schnellschüsse, die so in der Öffentlichkeit sehr schnell und billigen Applaus bekommen werden, die aber das Geschäft der NATO nicht substanziell verändern werden.“

Entscheidend sei es, die NATO anders aufzustellen. Weite Teile der NATO-Streitkräfte seien immer noch auf Landesverteidigung ausgerichtet. Dabei habe bereits Rasmussens Vorgänger Jaap de Hoop Scheffer angestrebt, die Allianz in einen multidimensionalen Sicherheitsanbieter im globalen Maßstab zu verwandeln.

Was die NATO leisten soll, darüber ließ Rasmussen diskutieren. Um das neue strategische Konzept auszuarbeiten, setzte der Generalsekretär eine Kommission unter der Leitung der ehemaligen amerikanischen Außenministerin Albright ein. In Arbeitsgruppen mit relativ großer öffentlicher Beteiligung diskutierten hier Experten, Politiker und Militärs das Verhältnis des Bündnisses zu Russland, welche Aufgaben die Allianz übernehmen soll und vieles mehr. Diese öffentliche Debatte war breit angelegt, doch das Ergebnis fällt bescheiden aus. Olivier Jehin erkennt im Bericht der Albright-Kommission vier wichtige Punkte: Die Mitgliedsländer stehen ihren Partnern im Falle eines Angriffs bei, die NATO soll auch zum Forum für Beratungen im Falle von Krisen werden, das Bündnis soll die Beziehungen zu nicht-NATO-Mitgliedern verbessern und den Raketenschild aufbauen.

O-Ton Jehin:
“Il n’y a pas grande chose qu’on puisse considerer révolutionaire là-dedans.”

Der Abschlussbericht enthalte nichts Visionäres, sagt Jehin. Rasmussen möchte in den kommenden Wochen aus dem Bericht den Entwurf für ein strategisches Konzept erarbeiten. Dabei muss die Allianz wichtige Fragen beantworten: Wie viele Operationen soll sie in Zukunft führen können? Wie möchte das Bündnis dem Druck auf die Verteidigungshaushalte in den Mitgliedsländern begegnen? Doch mit dem Blick auf die Rechtfertigung ihrer selbst war die NATO bemüht, die Debatte um das strategische Konzept auch als Öffentlichkeitsarbeit für die eigene Sache zu nutzen. Ob der Inhalt zu kurz gekommen ist, wird Rasmussens Vorschlag für den Gipfel in Lissabon im Herbst zeigen.

Kritisch sehen Experten auch das Lieblingsprojekt des Generalsekretärs, den Raketenschild. 200 Millionen Euro soll die Vernetzung verschiedener nationaler Systeme kosten – ein Schnäppchen, wie Rasmussen gerne vorrechnet. Markus Kaim:

O-Ton Kaim:
„Losgelöst von der Frage, ob man es tatsächlich braucht, gegen welche Bedrohung es sich richtet, ist es ihm ein Anliegen, alle NATO-Länder vor allem jenseits wie diesseits des Atlantiks auf ein gemeinsames Projekt zu verpflichten. Und das ist bei ihm die Raketenabwehr.“

In erster Linie also konzipiert für den Zusammenhalt des Bündnisses. Auch das richtige Mittel zur Abwehr von Raketen aus dem Iran? Olivier Jehin:

O-Ton Jehin:
„Ohne Frage gibt es eine Bedrohung, zum Beispiel den Iran. Aber wir müssen uns fragen, ob dies das richtige Werkzeug ist, dieser Bedrohung zu begegnen. Wir brauchen keine weitere Maginot-Linie oder Siegfried-Linie.“

Diese Anlagen, die Bunker und Panzersperren miteinander verbanden, errichteten Deutschland und Frankreich im Vorfeld des zweiten Weltkrieges, um einen Einmarsch der gegnerischen Truppen zu verhindern, doch die aufwendigen Projekte halfen nicht.

Und was ist mit Afghanistan – dem größten Einsatz der NATO? Der Handlungsspielraum des Generalsekretärs ist hier beschränkt. Die Mitgliedsländer geben den Ton an. Die USA haben die Strategie vorgegeben, stellen den Großteil der Truppen. In vielen anderen Mitgliedsländern hält die Debatte über den Sinn des Krieges an, einige Staaten ziehen bereits ihre Truppen ab.

O-Ton Jehin:
„Da gibt es eine schwierige Situation, vor allem bei den europäischen Ländern. Der Generalsekretär weiß das, aber hat er die Kapazität, hier etwas zu ändern? Das glaube ich nicht.“

Dies dürfte die härteste Lehre bislang für den neuen Generalsekretär sein: Er ist angewiesen auf die Mitgliedsländer und die politischen Entscheidungen in den Hauptstädten. Deswegen sehen Beobachter Rasmussens Prüfung noch bevorstehen. Die Bündnispartner wollen den Dänen als Sekretär – nicht als General.

* Quelle: NDR-Forum STREITKRÄFTE UND STRATEGIEN, 31. Juli 2010; www.ndrinfo.de


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