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"Mayday" am Horn von Afrika

NATO und EU schicken Flotten gegen Piraten aus, die Deutsche Marine ist Teilnehmer der Treibjagd

Von René Heilig *

»Mayday, Mayday... we are attacked by pirates!« Kaum ist der Spruch auf der Brücke der »Karlsruhe« angekommen, ruft der Kommandant seine Mannschaft auf Gefechtsstationen. Der Funkverkehr mit anderen NATO-Einheiten schwillt an, ein Computer legt den schnellsten Kurs zu dem Handelsschiff in Not fest, ein Hubschrauber startet zur Aufklärung. Die Operationszentrale macht die Waffen scharf, ein Bordtrupp der Marinespezialkräfte sammelt sich am Speedboat, der Bordarzt hofft, dass er nicht zum Einsatz kommt. Hundert Mal geübt, noch Fiktion.

Die Naval Maritime Group 2 der NATO ist auf dem Weg in den Golf von Aden. Sieben Kriegsschiffe. Mit dabei die deutsche Fregatte »Karlsruhe«. Im Seegebiet vor Somalia kreuzen schon zahlreiche Kriegsschiffe, die zur Anti-Terror-Oparation »Enduring Freedom« gehören, kommandiert von einem Dänen. Ab Januar sind die Deutschen wieder befehlgebend.

Doch anders als diese Truppe soll die Naval Maritime Group 2 nicht nach Terroristen Ausschau halten, sondern Piraten fangen. Zumindest aber verjagen. Die deutschen Seeleute werden vor Somalia nur als Drohung auftauchen. Vorerst, denn der Bundestag hat ihnen kein Mandat erteilt. Aber die schwarz-rote Koalition hält - unterstützt von der Reeder-Lobby - intensiv darauf zu. Die Marineführung in Glücksburg hat bereits Einsatzgrundlagen im Safe.

Piraten, die gibt's doch nur noch in Abenteuerfilmen oder zur Kinderbelustigung auf Ostseefähren. Dachte man noch vor Kurzem, doch Experten des International Maritime Bureau (IMB) haben schon in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts gewarnt. In den 80er Jahren blühte die Freibeuterei von den Küsten Westafrikas, auch vor südamerikanischen Küsten häuften sich Überfälle. Seit 1990 entwickelte sich der asiatisch-pazifische Raum zum Seeräuber-Schwerpunkt.

Seit 2007 hat man so viele Überfälle wie noch nie registriert. Das IMB vermeldete 263 Übergriffe weltweit. 292 Seeleute waren in der Gewalt von Bewaffneten. Die Dunkelziffer wird auf 50 Prozent geschätzt, viele Reedereien zahlen still und leise Erpressersummen für Crew und Ladung.

90 Prozent des weltweiten Handels werden über See abgewickelt. Die nackten Tonnagezahlen weisen jährliche Wachstumszahlen um die drei Prozent aus. Gerade Exportweltmeister Deutschland ist auf sichere Seewege angewiesen. Ende des Jahres werden 500 Schiffe unter deutscher Flagge fahren, 2010 sollen es 100 mehr sein. Die deutsche Handelsflotte ist die drittgrößte der Welt.

Also: Äußerste Kraft voraus für die Globalisierung! Doch der Westen muss seine Güter, vorbei am verarmenden Rest der Welt, durch zumeist enge Seefahrtsstraßen leiten. Auch durch die Straße von Malakka. Rund ein Viertel aller über See verkauften Waren passieren diesen engen Wasserweg in Südostasien. Es war ein Leichtes, nächtens Tanker zu entern und für deren Unversehrtheit zu kassieren. Die Armut der Menschen in dieser Region ließ kriminelle Organisationen wachsen. Bis die Anrainerstaaten Indonesien, Malaysia und Singapur dem Piratenunwesen energisch entgegen traten.

Nun lauern die Schrecken der Meere vor der Küste Somalias. Die Situation spitzt sich zu. Bis Anfang des Monats wurden von dort 24 Piratenüberfälle gemeldet. Ehemalige Fischer haben sich zu lose verknüpften Banden zusammengeschlossen. Die mächtigste Gruppierung nennt sich selbstüberschätzend »Somali Marines«. Derzeit befinden sich zumindest zwei Schiffe in der Gewalt von Piraten, die mit Handfeuerwaffen und Panzerbüchsen bewaffnet sind. Neben der ukrainischen »Faina« ist ein griechischer Chemietanker in der Hand von Hijackern. Besonders der ukrainische Frachter geriet in die Schlagzeilen. Der russische Kapitän des unter der Flagge von Belize fahrenden Schiffes konnte noch über Funk mitteilen, dass sich drei Boote mit Bewaffneten nähern -- dann brach die Verbindung ab.

Besonders brisant ist die Ladung des Frachters: 33 T-72-Panzer und dazu weitere schwere Waffen. Angeblich für Kenia. Westliche Geheimdienste sind den Piraten dankbar, dass diese Waffenschmuggelroute aufgedeckt wurde.

Die Waffen, das Schiff und dessen Crew sollten der Reederei schon 20 Millionen Dollar wert sein, sagt der Anführer der Freibeuter, der sich als Sugule Ali vorstellte. Er ließ das für Montag erklärte Versenkungs-Ultimatum folgenlos verstreichen. Obwohl zahlreiche US-Kriegsschiffe bereits um den Frachter kreisen und obwohl ein russischer Zerstörer unterwegs zu dem gekidnappten Schiff ist, zeichnet sich keine Befreiungsvariante ab. Schließlich haben die Piraten gelernt aus eigenen Fehlern. Nachdem eine französische Reederei im Sommer zwei Millionen US-Dollar für die Freigabe der Jacht »Le Pontant« gezahlt hatte, zogen die Piraten sorglos ab. Doch ein Breguet-Atlantique-Seeaufklärer behielt sie im Blick. Als die Piraten an Land zwei Geländewagen bestiegen, schlug die französische Antiterroreinheit GIGN zu. Die Soldaten waren von Hubschraubern des Trägers »Jean D'Arc« abgesetzt worden. Sechs Piraten und ein Gutteil des Lösegeldes wurden auf den französischen Flugzeugträger gebracht. Nun wird in Paris die Aburteilung der Piraten vorbereitet.

Es steht die Frage nach Alternativen zu einer solchen - womöglich sogar UN-gedeckten - westlichen Weltherrschaftsmanie. Zunächst, so sagen Fachleute, könnte man die jeweiligen somalischen Machthaber selbst in den Kampf gegen die Piraten einbeziehen. Schließlich gibt es in diesem Jahr zumindest ein Beispiel dafür, dass somalische Milizen selbst einen gekidnappten, unter Panama-Flagge fahrenden Frachter und seine elfköpfige Besatzung befreit haben. Doch wer auf die Hilfe der Somalis hofft, muss zuvor ihnen helfen. Beispielsweise beim Vertreiben all jener Trawler aus Taiwan, China und der Ukraine, die schon seit Jahren illegal in der 200-Seemeilen-Wirtschaftszone von Somalia alles abfischen, was ihnen in die Netze gerät. Und damit die wirtschaftliche Existenz von tausenden somalischen Fischern zerstören. Über diese Art von Piraterie schweigt der Rest der Welt.

Zweitens wäre es angezeigt, dass die Reeder ihren Kapitänen freie Hand lassen beim Bestimmen eines küstenfernen Kurses. Nicht umsonst gibt das IMB täglich akteulle Warnberichte heraus.

Und es ist auch einiges technisch nachrüstbar. So wehrte sich das Kreuzfahrtschiff »Seaborn Spirit« bereits 2005 erfolgreich mit einem sogenannten Long Range Acoustic Device. Das Gerät richtet Schallwellen bis auf eine Distanz von 300 Metern so aus, dass jedem Angreifer schmerzhaft die Ohren »klingeln«. Andere Besatzungen nutzten erfolgreich Hochdruckwasserschläuche. 80 Pfund Druck auf den Quadratzentimeter hält kein Freibeuter aus. So wie auch 9000 Volt, die man mit sogenannten elektrischen Zäunen als Schutz vor Enteraktionen einsetzen kann.

Doch all das ist für die Planer in den NATO- und EU-Stäben obsolet. Statt dessen behaupten sie, dass man mit einer Handvoll Fregatten und einigen fliegenden Seeaufklärern 2,4 Millionen Quadratmeilen und über 7480 Meilen Küstenlinie so überwachen kann, dass Schiffe am Horn von Afrika sicher sind. Wieso gegen Piraten gelingen sollte, was schon bei der Anti-Terror-Operation nicht gelungen ist, bleibt das Geheimnis der Strategen. Doch vielleicht geht es ja gar nicht darum ...

»Piraten muss man da treffen, wo sie ihre Stützpunkte haben«, bestätigt ein Kommandeur der deutschen Marinespezialkräfte inoffiziell. In Somalia hätten NATO-Landungstrupps ob seit Jahrzehnten fehlender staatlicher Gewalt nur mit wenig Gegenwehr zu rechnen.

Am kommenden Freitag (17. Oktober) beginnt in der Kieler und der Mecklenburger Bucht ein Manöver mit 1500 Soldaten aus elf Ländern. Bei »Northern Coasts« wird besonderer Wert auf den Einsatz in küstennahen Gewässern gelegt. Ein Höhepunkt der Übung ist eine Landungsoperation. Dabei geht es gewiss nicht nur darum, wie man künftigen Tsunami-Opfern helfen kann.

* Aus: Neues Deutschland, 16. Oktober 2008


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