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Zurück zum "Kerngeschäft"?

NATO übt in Osteuropa "Bündnisverteidigung". Feindbild ist Rußland

Von Reinhard Lauterbach, Nekielka *

Rund 6000 Soldaten aus allen NATO-Staaten sowie Finnland, Schweden und der Ukraine führen in dieser Woche in Osteuropa die Übung »Steadfast Jazz« durch. Etwa die Hälfte der beteiligten Soldaten kommt aus Polen, und auf dem dortigen Truppenübungsplatz bei Drawsko Pomorskie finden auch die simulierten Land- und Luftkämpfe statt. Manövergebiet ist auch die südöstliche Ostsee und ein Truppenübungsplatz in Lettland, wo die Leitung der NATO-Übung einquartiert ist. Die Bundeswehr ist mit einem Minenjagdboot, zwei Hubschraubern und einem Transportflugzeug beteiligt.

Offiziell dient das einwöchige Manöver, das am Samstag begonnen hat, dem Einüben der Koordination international zusammengesetzter Eingreiftruppen. Obwohl die Übung offiziell gegen kein konkretes Land gerichtet ist, ist das Szenario eindeutig. Es geht aus von einer Situation, in der »ein Staat außerhalb der NATO« erst Gebietsansprüche gegen Estland erhebt und dann einen Teil von dessen Territorium annektiert. Da Estlands südlicher Nachbarstaat Lettland ebenfalls NATO-Mitglied und einer der Gastgeber ist und Finnland sich auch an der Übung beteiligt, bleibt als für den Nordatlantikpakt wenig hypothetischer Gegner Rußland. Manöveraufgabe ist in dieser Situation, rasch ausreichende Truppenverbände nach Osten zu verlegen. Trainiert wird sowohl der Lufttransport als auch der über See in den Hafen von Gdynia.

Das letzte Kriegsspiel mit ähnlichem Szenario hatte 2009 stattgefunden. Vor allem die osteuropäischen NATO-Staaten haben seit langem gefordert, mehr solcher Übungen rund um die Verteidigung des eigenen Territoriums zu veranstalten. Internationaler Terrorismus hin, Weltordnung her – von Polen bis Estland fühlen sich die Regierungen und auch wesentliche Teile der Bevölkerung in erster Linie von Rußland bedroht. Das russisch-belarussische Herbstmanöver »Sapad 2013« im September wurde als Training eines Überfalls auf Polen betrachtet, und die laufende Modernisierung der russischen Armee wird in Warschau sehr ernst genommen. Zum Auftakt von »Steadfast Jazz« brachte die konservative Zeitung Rzeczpospolita eine lange Aufstellung der Waffensysteme, die in den nächsten Jahren eingeführt werden sollen – von neuen Luftabwehrraketen bis hin zu modernisierten Panzern. Das Blatt knüpfte daran die Aufforderung, die polnische Armee stärker aufzurüsten. Die Regierung in Warschau hat nicht auf diesen Hinweis gewartet. Polen steht kurz vor dem Abschluß eines Lizenzvertrages mit der deutschen Panzermotorenfabrik MTU über die Fertigung neuartiger Motoren aller Art für die Fahrzeuge der polnischen Armee. In Poznan soll dafür ein zentraler Produktionsbetrieb entstehen. Geplant ist außerdem der Kauf zusätzlicher »Leopard«-Panzer, und ein Rüstungsbetrieb in Südostpolen entwickelt eine neue Generation von Schützenpanzern.

Vor kurzem wurde überdies bekannt, daß die polnische Marine um moderne, mit Marschflugkörpern bestückbare U-Boote verstärkt werden soll. Um den Auftrag konkurrieren Hersteller aus Frankreich und Deutschland. Polen leistet sich nach den Interventionsmächten USA, Großbritannien und Frankreich mit 1,9 Prozent des Sozialprodukts (BRD: 1,5 Prozent) einen der gemessen an der eigenen Wirtschaftsleistung größten Militär­etats der NATO und kommt damit deren Forderung nach einem Anteil von zwei Prozent des Bruttosozialprodukts immerhin nahe. Grund für diesen Aufwand: In Polen, das sich seit dem zweiten Irak-Krieg an allen NATO-Interventionen im Nahen und Mittleren Osten beteiligt hat, herrscht in der politischen und militärischen Führung eine gewisse Enttäuschung darüber, daß sich diese Bündnistreue für das Land bisher kaum ausgezahlt hat. Der angeblich antiiranische Raketenschutzschirm der NATO entsteht in Rumänien, größere Geschäfte für polnische Unternehmen im amerikanisch besetzten Irak sind ausgeblieben. Und nicht einmal bei der Frage der Visafreiheit für polnische Reisende haben sich die USA bewegt. Mit deutlicher Frustration hat Warschau zudem zur Kenntnis genommen, daß Washington die Ergebnisse der russischen Intervention in Georgien 2008 de facto hingenommen hat. Vor diesem Hintergrund heißt die Parole »Vertrauen auf die eigene militärische Schlagkraft«. Ein polnischer General kritisierte in einem Radiointerview das gegenwärtige Manöver gar als viel zu klein. Nicht 6000, sondern 60000 Soldaten sollte das Bündnis gefälligst aufmarschieren lassen, um bei den Russen Eindruck zu machen. Wie auch immer: Mit »Steadfast Jazz« besinnt sich die NATO auf ihr militärisches »Kerngeschäft«, die »Verteidigung des Bündnisgebietes«. Anders ausgedrückt ist das die Option eines Krieges auch in Mitteleuropa.

* Aus: junge welt, Freitag, 8. November 2013


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