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Der Drang nach Osten

Die Ausdehnung der NATO hat die sicherheitspolitische Landkarte zur Sorge Russlands verändert

Von Olaf Standke *

Heute vor zehn Jahren beschloss die NATO in Prag die größte Osterweiterung ihrer Geschichte. Sie trübt weiter die Beziehungen zu Russland.

In der NATO wird in diesen Tagen die Stationierung von Patriot-Raketen in der Türkei vorbereitet, im Namen der Bündnissolidarität mit einem angeblich bedrohten Mitgliedsland. Auch wenn Artikel 5 des NATO-Vertrages jetzt nicht aufgerufen werden sollte, die dort verankerte kollektive militärische Beistandspflicht war es vor allem, die die ehemaligen Staaten des Warschauer Vertrages und einstige Sowjetrepubliken nach dem Ende der sozialistischen Staatengemeinschaft unter den Schirm des nun mächtigsten Militärbündnisses streben ließ. Nachdem schon im Februar 1999 Polen, Tschechien und Ungarn aufgenommen worden waren, folgten nun Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänen, die Slowakei und Slowenien. 2009 kamen Albanien und Kroatien hinzu, so dass die NATO heute 28 Mitgliedstaaten zählt.

Die heute vor zehn Jahren in Prag beschlossene größte Osterweiterung des Nordatlantik-Paktes hat die Allianz nachhaltig verändert, und diese im Pakt-Jargon »Transformation« genannte Ausdehnung prägt auch die sicherheitspolitische Landkarte nach dem Ende des Ost-West-Konflikts. Für Russland, einen der nach wie vor wichtigsten globalen Akteure, war und ist diese Entwicklung fatal und hat die Beziehungen der NATO zu Moskau immer wieder beeinträchtigt. Als die USA in diesen Tagen auf dem polnischen Luftwaffenstützpunkt Lask erstmals fest Soldaten stationierten, folgte die russische Kritik auf dem Fuß. Man könne nicht neutral auf eine solche Maßnahme reagieren, meint Igor Korotschenko, Direktor des Zentrums für Analyse des internationalen Waffenhandels, weil sie ein weiterer Schritt zur Installierung des NATO-Raketenschilds sei. Da die auf dem Lissabonner Gipfel beschlossene Einbeziehung Moskaus auf Eis liegt, könnten die Systeme der Allianz das Kräftegleichgewicht kippen und laut Korotschenko bereits ab 2017 die Verteidigungskapazitäten Russlands bedrohen.

Im Dezember will Außenminister Sergej Lawrow mit seinen NATO-Amtskollegen wieder über diese Streitfrage beraten. Der Kreml fordert von der Allianz vor allem eine rechtlich belastbare Garantie, dass sich der Raketenschirm nicht gegen Russland richte, und hofft nach der Wiederwahl von USA-Präsident Barack Obama auf mehr Flexibilität in Washington. Alles andere hieße Beibehaltung der Trennlinien und Klischees aus den Zeiten des Kalten Krieges und des Blockdenkens, betonte Russlands neuer NATOBotschafter Alexander Gruschko.

In Moskau ist das Misstrauen groß. Schließlich hätten auch schon bei den Verhandlungen über die deutsche Wiedervereinigung die USA wie Bundeskanzler Helmut Kohl für das Placet des sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow versprochen, der Nordatlantik- Pakt werde sich »keinen Zentimeter« Richtung Osten bewegen. Und die Ausdehnung der Allianz geht weiter. Zwar wurde gerade die für Ende November geplante Sitzung des NATO-Militärkomitees in Tbilissi auf unbestimmte Zeit verschoben, doch der Beitritt Georgiens bleibt wie jener der Ukraine auf der längerfristigen Agenda; auch wenn die derzeitige Regierung in Kiew kein aktuelles Interesse zeigt. Eine Aufnahme Mazedoniens wird allein vom Streit über den Staatsnamen mit NATO-Mitglied Griechenland verhindert. Auch der neue georgische Regierungschef Bidsina Iwanischwili setzt auf die »transatlantische « Karte. Trotz aller Beunruhigung in Brüssel über die Politik von Präsident Michail Saakaschwili ist Georgien ein geopolitisches Schlüsselland für die NATO, ob mit Blick auf den Energietransit aus dem Kaspischen Becken nach Europa, auf die nahe Krisenregion Mittlerer Osten – oder eben auf Russland.

Angesichts der schwelenden Konflikte um Abchasien und Südossetien ist man dort in der Beitrittsfrage besonders sensibilisiert. Schon nach der Intervention russischer Truppen in Südossetien im August 2008 kam die Zusammenarbeit im NATO-Russland-Rat vollständig zum Erliegen. Eine Erweiterung der Allianz durch Länder des »postsowjetischen Raums« und speziell Georgien jedenfalls werde nach Ansicht von Nikolai Bordjuscha, Generalsekretär der Organisation für kollektive Sicherheit (OVKS), die Stabilität in der Region auf keinen Fall festigen.

Nachdem die NATO-Neulinge vor zehn Jahren als erstes am Hindukusch in einen andauernden, politisch verheerenden und kostenspieligen Krieg schlitterten, sehen sie sich heute immer wieder mit der Forderung nach mehr Militärausgaben konfrontiert. So wie dieser Tage, als die Parlamentarische Versammlung des Paktes aus Anlass des Jubiläums in Prag tagte. Auch in wirtschaftlichen Krisenzeiten dürften die Etats nicht schrumpfen, lautete die Botschaft von NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen. Die Rolle des Weltpolizisten zwischen Hindukusch und syrisch-türkischer Grenze hat ihren Preis.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 21. November 2012


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