Die Intervention zeigte Stärken und Schwächen des Westens
NATO-nahes Strategie-Institut IISS zieht vorläufige Lehren aus dem Libyen-Krieg. Ein wegweisendes Dokument. Vorgestellt und kommentiert von Peter Strutynski
Einer der wichtigsten militärstrategischen Think Tanks des Westens, das in London beheimatete International Institute for Strategic Studies (IISS) veröffentlichte im September 2011 eine Einschätzung des NATO-Einsatzes in Libyen [*]. Darin werden neben dem politischen Erfolg des Krieges auch die Stärken und Schwächen des größten Militärbündnisses der Welt, der NATO bilanziert und Perspektiven künftiger Interventionen aufgezeigt.
Das IISS räumt zu Beginn der Analyse ein, dass die Lehren, die aus dem sechs Monate dauernden Libyen-Krieg zu ziehen sind, vorläufiger Natur sind. Denn auch die Interventionen in Afghanistan und Irak hätten zwar relativ früh zur Etablierung neuer Regime geführt, doch folgten darauf erst lang andauernde Schwierigkeiten bei deren Stabilisierung. Im Fall Libyens konnte das Gaddafi-Regime ebenfalls besiegt werden, doch bleibe die Zukunft unklar. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt könne dennoch festgestellt werden, worin die Stärken und Schwächen der „westlichen Militärs“ lägen. Des Weiteren markiere der Libyen-Einsatz eine wichtige Veränderung innerhalb des transatlantischen Bündnisses und werfe Fragen hinsichtlich Art und Umfang „multilateraler Operation“ auf.
IISS folgt der offiziellen Darstellung, wonach der Rahmen für die Militäroperation in Libyen durch die Resolution 1973 (2011) des UN-Sicherheitsrats vom 17. März 2011 abgesteckt worden sei: Danach sollten „alle notwendigen Maßnahmen“ zum Schutz von Zivilpersonen ergriffen werden unter Ausschluss des Einsatzes von Bodentruppen. Daher beschränkte sich die ausländische Intervention auf Luft- und See-Operationen; lediglich eine kleine Zahl von Militärberatern und „Spezialkräften“ sei später eingeschleust und auch am Boden im Einsatz gewesen.
Für die libyschen Rebellen, die nur wenig militärische Ressourcen hatten, ging es in diesem Kampf um alles oder nichts. Lediglich über ihr Ziel konnte es keinen Zweifel geben. Dem gegenüber waren die Operationen der NATO-geführten Streitkräfte begrenzt und einem restriktiven UN-Mandat unterworfen gewesen. Hinzu kam, dass die Ziele der beteiligten Staaten unklar waren. Einige Länder hatten wohl mehr als das Mandat im Sinn: Sie wollten auch Gaddafis Sturz. Die meisten NATO-Mitglieder aber haben sich überhaupt nicht beteiligt, einige leisteten nur geringe Hilfe. Hervorgehoben wird die Abwesenheit von Deutschland und Polen. Die USA hatten zwar nur eine „unterstützende Funktion“, diese enthielt aber die Bereitstellung von Schlüsselfähigkeiten wie Geheimdienste, Überwachungs- und Erkennungs-Plattformen oder Tankflugzeuge. Das alles warf wichtige Fragen nach Zielen, Charakter und Zukunft der NATO auf.
IISS geht diesen Fragen in drei Schritten nach. Im ersten werden die Luftstreitkräfte, im zweiten die sonstigen Fähigkeiten der NATO und im dritten die künftigen Interventionen untersucht.
Die Luftstreitkräfte
Die Luftstreitkräfte der ausländischen Interventen, so die Einschätzung des IISS, habe den „asymmetrischen Vorteil“ der Rebellen ergänzt. Ohne diese Unterstützung wären die Rebellen höchstwahrscheinlich von Gaddafis Truppen bezwungen worden. Der Einsatz aus der Luft barg ein geringes Risiko für die Interventen; tatsächlich gab es auf deren Seite kein einziges Opfer. Alle Bemühungen des Gaddafi-Regimes, den internationalen Medien NATO-Opfer zu präsentieren, scheiterten. Grund dafür waren die genaue Zielauswahl und der Einsatz von Präzisionswaffen der NATO. Gerade für die Anführer der Operation, den französischen Präsidenten Sarkozy und den britischen Premierminister Cameron, sei das ein entscheidender Faktor für ihren „Erfolg“ gewesen. Im Ergebnis hätten die exakten Luftoperationen den Weg künftiger Interventionen aufgezeigt: Trotz allgemeiner Ermattung durch die Kriege in Afghanistan und Irak sind sie bei lokalen Konflikten anwendbar.
Die NATO konnte ihre Lufthoheit sehr schnell sicherstellen, indem sie die Luftwaffe und die bodengestützte Luftabwehr des Regimes ausschaltete. So konnte bereits am ersten Tag der Intervention, am 19.März, der Vormarsch von Gaddafis Truppen auf die Rebellenhochburg Bengasi gestoppt werden. (Das IISS-Papier verschweigt hier, dass die NATO offiziell erst am 31. März in den Krieg eingestiegen ist; bis dahin waren vor allem Frankreich und Großbritannien mit US-Unterstützung beteiligt.) Die Luftangriffe zielten auf die militärischen Kapazitäten des Regimes, also vor allem Militärfahrzeuge, Artillerie, Kurzstrecken- und Boden-Luft-Raketen, Kommandozentralen, militärische Infrastruktur, Kommunikationseinrichtungen und Munitionsdepots.
IISS erinnert auch daran, dass der Luftkrieg anfänglich ausschließlich dem Schutz von Zivilpersonen dienen sollte – so sah es das UN-Mandat vor. Gaddafis Sturz war kein unmittelbares Ziel der Interventen gewesen. Dennoch war es der „implizite Wunsch“ der Hauptinterventionsmächte Frankreich, Großbritannien und USA gewesen. Dies wurde deutlich zum Ausdruck gebracht in einem Artikel, den Cameron, Sarkozy und Obama gemeinsam am 15. April in verschiedenen Zeitungen veröffentlichten. Im weiteren Verlauf der „Kampagne“ (IISS vermeidet, wo es geht, den Begriff „Krieg“) wurden die Angriffe auf die Machtbasis von Gaddafi immer direkter. Dass dies über fünf Monate dauerte, ohne Gaddafi zu stürzen, sei vielfach diskutiert worden. IISS vertritt die Auffassung, dass selbst ein Glückstreffer es nicht vermocht hätte, Gaddafi ihn zu entfernen. Außerdem hätten so die Rebellen die Gelegenheit erhalten, den Erfolg des Siegs über Gaddafi selbst einzuheimsen. Z.B. hätten die Luftangriffe und die maritimen Operationen gegen Militäreinrichtungen Gaddafis in Misrata entscheidend dazu beigetragen, dass die Rebellen ihre Position dort behaupten und konsolidieren konnten.
Festzuhalten sei aus Sicht des IISS, dass die NATO-Kampagne vom UN-Mandat eingeschränkt war und dass sie durch das Ausbleiben der vollen Unterstützung der NATO erschwert wurde. Angriffe wurden nur von sechs europäischen Ländern durchgeführt. Die Hauptprotagonisten des Krieges wollten eindeutig Gaddafis Sturz, konnten das aber nicht explizit sagen. Dies alles barg die Gefahr einer Ausweitung des Krieges, was wiederum zu Unstimmigkeiten innerhalb der Koalition geführt hätte. Hinzu kommt, dass mit zunehmender Kriegsdauer die Gefahr ziviler Opfer angewachsen wäre mit der Folge schwindender politischer Unterstützung in den Ländern der Kriegsallianz.
So formuliert das IISS eine Lektion aus dem Libyenkrieg: Politische Absicht – und nicht das formulierte politische Ziel – und militärische Mittel müssen von Beginn an aufeinander abgestimmt sein.
Fähigkeiten
Positiv wird vermerkt, dass die NATO über ein großes Arsenal an Präzisionswaffen (Bomben und Raketen) verfügt. Deren Einsatz helfe Zivilopfer zu vermeiden. Die Zielauswahl wurde von verbesserten Überwachungs- und Erkennungseinrichtungen sowie von Kommando- und Kontroll-Netzwerken unterstützt. Was war
negativ? Verglichen allerdings mit dem Kosovo-Krieg 1999 war die Operation unter-ausgestattet. Im NATO-Krieg gegen Jugoslawien wurden in der Hälfte der Zeit mehr Angriffe geflogen als in Libyen. Zustimmend wird auf eine Rede des scheidenden US-Verteidigungsministers Robert Gates vom Juni verwiesen, worin er den Abstieg der europäischen Streitkräfte anprangerte. Das NATO-Luftwaffenzentrum sei für eine „Leistung“ von 300 Einsätzen pro Tag ausgelegt, hatte aber Mühe 150 zu erreichen; das ist lediglich ein Drittel der Rate, die 1999 gegen Serbien erreicht worden war.
Luftangriffe wurden nur von wenigen Ländern geflogen: Belgien, Kanada, Dänemark, Frankreich, Italien, Norwegen, Vereinigte Arabische Emirate, Großbritannien und USA (obwohl die USA zu reinen Unterstützungsleistungen überging, nachdem Libyens Luftabwehr zerstört war). Jordanien, die Niederlande, Katar, Spanien, Schweden und die Türkei flogen Einsätze, um die Flugverbotszone durchzusetzen, aber ohne Ziele am Boden anzugreifen.
IISS unterscheidet zwischen Luftangriffen zum Schutz der Rebellen –Enklaven in Misrata und den Jebel Nafusa Bergen - auf der einen und den Angriffen auf die Infrastruktur des Regimes auf der anderen Seite. Negativ wird vermerkt, dass die NATO lediglich einen relativ kleinen Teil der libyschen Panzer, Artillerie und Raketen, die Misrata und die Jebel Nefusa-Region angriffen, ausschalten konnte. Beide Enklaven standen kurz vor dem Verlust. Dies hätte ernsthafte Folgen für die Moral und Glaubwürdigkeit der Rebellen gehabt.
Kritisch sieht IISS auch den Rückgang der Präzisions-Kampfflugzeuge, nach dem die USA die ihren fünf Tage nach Beginn der Intervention nicht mehr zur Verfügung stellte. Die Operationen blieben sehr stark von US-Unterstützung abhängig (so z.B. von JSTARS-joint surveillenace target attack radar system und von AWACS-Maschinen). Außerdem hatten die USA 30 bis 40 Tankflugzeuge in der Luft, wovon die alliierten Flugzeuge abhingen. Einer Schätzung des Pentagon vom August zufolge leisteten die USA den Europäern Hilfe in Höhe von 222 Millionen US-Dollar; die Gesamtkosten der US-Operationen beliefen sich bis dahin auf 896 US-Dollar.
Ob solche Beschränkungen den Sturz Gaddafis verzögerten, lässt sich nach Einschätzung von IISS schwer bestimmen, zumal der Fortschritt der Kampfhandlungen noch von einem anderen Faktor abhing: der Koordination der ausländischen Luftwaffen mit den Aktionen der Rebellenarmee am Boden. Unterstützung aus der Luft kann ihre Wirkung erst maximieren, wenn sie voll integriert ist in die Landstreitkräfte. Und in diesem Fall waren die Chancen dafür doch begrenzt. Erst mit zunehmender Dauer des Krieges verbesserten die Rebellen ihre militärischen Fähigkeiten – auch infolge des „Rats und der Lieferungen“ von außen. Später, beim Fall von Tripolis, konnte die NATO von Informationen sog. „verbündeter Kräfte in Libyen“ profitieren; das waren kleine Teams von Spezialkräften, die unter nationaler Flagge operierten, ihre Aktivitäten aber mit der NATO koordinierten. Nach Medienberichten sollen Frankreich, Großbritannien, Katar und die VAE hierbei eine Rolle gespielt haben. Das mag erklären, warum die Taktik der Rebellen und die NATO-Angriffe zunehmend koordinierter erschienen. Schließlich war die Einnahme von Tripolis am 20. August Ergebnis einer gut synchronisierten Operation. Sie bestand aus Präzisionsschlägen der NATO, dem Vorrücken der Rebellen einschließlich ihrer Landung vom Wasser her, der Aktivierung von „Schläfer-Zellen“, Aufrufen regierungsfeindlicher Imame und der externen Störung des libyschen Rundfunks. Dennoch, so resümiert IISS, bestehen Bedenken hinsichtlich der europäischen militärischen Fähigkeiten.
Künftige Interventionen
Unter verschiedenen Aspekten war der Libyenkrieg einzigartig. Erstens ging die Initiative von Großbritannien und Frankreich aus. Der britische Premierminister sprach als erster von einer Flugverbotszone, und der französische Präsident sprach von der Notwendigkeit zur Aktion zu schreiten. Washington wollte im Hintergrund bleiben. Zweitens: Obwohl es Zustimmung gab, dass die NATO das Kommando übernehmen sollte (unter einem kanadischen General), leistete weniger als die Hälfte der NATO-Mitglieder einen militärischen Beitrag. Nur sechs von 26 europäischen NATO-Staaten unternahmen Angriffsaktionen. Frühere NATO-Operationen wiesen eine größere Teilnahme auf. Drittens: Die VAE und Katar beteiligten sich an einer vom Westen angeführten Koalition und demonstrierten damit ihre Bereitschaft ihre militärischen Kapazitäten einzusetzen.
Jeder dieser Aspekte könnte – in Abhängigkeit vom Ort künftiger Krisen - in die Zukunft weisen, betont das IISS abschließend. Die fortdauernde Nützlichkeit gut eingeführter Kommandostrukturen der NATO wurde unter Beweis gestellt, auch wenn nur eine Minderheit der NATO-Mitglieder sich beteiligte. Das werfe die Frage auf, ob es richtig ist, wenn die NATO als eine Art militärischer Instrumentenkasten für faktische Ad-hoc-Koalitionen agiert, und ob das nicht ihrer Rolle als breite politische Allianz mindert.
Auch wenn Washington die europäische Bereitschaft begrüßte, in Libyen initiativ zu werden, so muss doch das anscheinende Schrumpfen der europäischen Fähigkeiten die Aufmerksamkeit amerikanischer Politiker erregen. Gates stellte fest, dass viele Länder sich nicht beteiligten, weil sie nicht konnten; dass Ländern, die mitmachten, die Munition ausging; und dass die NATO zu einer Zwei-Klassen-Allianz wurde, in der einige Mitglieder über Kampffähigkeiten verfügten, während die anderen den Nutzen aus der NATO-Mitgliedschaft zögen, aber nicht für die Kosten aufkommen wollen. Dies würde den US-Kongress auf eine harte Probe stellen. Gates befürchtet außerdem, dass es sehr unwahrscheinlich sei, dass sich die europäischen Verteidigungsausgaben ändern ließen, sprich: erhöht würden.
Nun fand der Libyen-Krieg zu einem Zeitpunkt statt, während alle NATO-Mitglieder Truppen für den Afghanistan-Konflikt bereitstellen. Das erwartete Auslaufen dieser „Kampagne“ werde Potentiale für andere mögliche Interventionen freisetzen. Aber die europäische Fähigkeit, mehrere Missionen gleichzeitig durchzuführen, muss nach den Erfahrungen der – begrenzten - Libyen-Operation in Frage gestellt werden.
Kommentar
Die Überlegungen des IISS gehen zunächst kaum über das hinaus, was schon während des Libyen-Krieges in den Mainstream-Medien offen diskutiert wurde. Die Zwei-Klassen-NATO und die begrenzten militärischen Fähigkeiten des größten Militärpakts der Welt (z.B. der mangelnde Nachschub an Munition) waren Gegenstand besorgter, mitunter auch hämischer Kommentare. In Deutschland kamen die medialen Hinrichtungen der Bundesregierung resp. des Bundesaußenministers hinzu, weil sie die Frechheit besessen hatten, sich von Anfang an einer aktiven Kriegsteilnahme zu enthalten. Doch Deutschland war, wie wir gesehen haben, nur ein NATO-Mitglied unter vielen, die sich nicht am Krieg beteiligten. Der Vorwurf des „deutschen Sonderwegs“ ist also absurd. Historisch lässt er sich ohnehin nicht halten, weil in der Geschichte des 20. Jahrhunderts der deutsche Sonderweg gerade darin bestanden hatte, Kriege zu führen, und zwar mehr und zerstörerischere Kriege, als jede andere Nation zu verantworten hatte. Man fragt sich zuweilen, was in die Medien hier zu Lande gefahren sein muss, wenn sie die deutsche Entscheidung für eine Kriegsenthaltung als „gefährlichen Sonderweg“ brandmarken.
In zwei Punkten aber ist die Einschätzung des IISS von einiger Brisanz. Erstens werden die europäischen NATO-Mitglieder unzweideutig aufgefordert, ihre militärischen Fähigkeiten doch gefälligst zu erhöhen. Andernfalls – so die dahinter stehende Drohung - könne der US-Kongress seine Geduld mit Europa und vielleicht die Lust an militärischen Operationen für Europa verlieren. Mehrere Einsätze à la Libyen gleichzeitig, das ist das von der NATO geforderte Maß. Unüberhörbar ist zweitens die Kritik an den Vereinten Nationen, die mit ihren Mandaten (hier konkret mit Sicherheitsratsresolution 1973) den militärischen Operationen zu viele Restriktionen auferlegt. So habe sich der Krieg gegen Libyen nicht von Anfang an so entfalten können, wie es unter Effizienzgesichtspunkten erforderlich gewesen wäre. Die Lektion, die daraus zu lernen ist? Entweder es gelingt, eine UN-Resolution unzweideutig im Sinne der Interventionskräfte zu formulieren, oder man verzichtet lieber auf ein UN-Mandat und nimmt den Krieg von Anfang an in die eigenen NATO-Hände. Dass dabei das Völkerrecht vollends auf der Strecke bleibt, schert den NATO-nahen Think-Tank wenig. In dem ganzen Text taucht nicht einmal das Wort auf.
[*] IISS-The International Institute For Strategic Studies: Earla military lessons from Libya, IISS Strategic Comments, vol 17, Comment 34, September 2011; www.
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