Fundamentale Differenz
Ist die NATO ein Verteidigungsbündnis oder ein "System gegenseitiger kollektiver Sicherheit"? Von Dieter Deiseroth *
Galt die NATO jahrzehntelang unbestritten
als Militärbündnis, so finden
sich in jüngerer Zeit sowohl in
der öffentlichen wie in der juristischen
Diskussion zunehmend Positionen,
die der NATO - ähnlich wie
den Vereinten Nationen - den Charakter
eines Systems gegenseitiger
kollektiver Sicherheit zuschreiben
wollen. Wie der folgende Beitrag
zeigt, handelt es sich dabei um eine
rechtshistorisch unhaltbare und politisch
bedenkliche Interpretation.
Die Sicht des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG)
Abweichend von seiner früheren Rechtsprechung [1] hat das BVerfG erstmals in
seiner so genannten Out-of-Area-Entscheidung
vom 12.7.1994 die Auffassung
vertreten, die NATO sei nicht nur
ein Verteidigungsbündnis, sondern auch
ein »System gegenseitiger kollektiver Sicherheit
« im Sinne von Art. 24 Abs. 2
Grundgesetz (GG).[2] Diese Verfassungsnorm
hat folgenden Wortlaut:
„Der
Bund kann sich zur Wahrung des Friedens
einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit
einordnen; er wird hierbei in die
Beschränkungen seiner Hoheitsrechte einwilligen,
die eine friedliche und dauerhafte
Ordnung in Europa und zwischen den
Völkern der Welt herbeiführen und sichern.“
Im Fachschrifttum ist diese
Rechtsprechung, die sich auch in zahlreichen
späteren Entscheidungen des
BVerfG – ohne weitere Begründung –
fortgesetzt hat, zwar auf Widerspruch gestoßen.
Im »mainstream« ist sie jedoch
sowohl politisch als auch im Fachschrifttum
überwiegend zustimmend rezipiert
worden, entsprach und entspricht sie
doch augenscheinlich der aktuellen vermeintlichen
»Staatsräson«. Erleichtert
wurde die von ihr erfahrene relativ hohe
Akzeptanz dadurch, dass sie zugleich ein
wichtiges »Trostpflaster« mit großer Befriedungsfunktion
(Jutta Limbach) bereit
hielt: den künftigen – im Text des GG so
gar nicht vorgesehenen – konstitutiven
Parlamentsvorbehalt für jeden militärischen
Einsatz der Bundeswehr.
Wegen der weittragenden Folgen dieser
nach dem Ende des Kalten Krieges
erfolgten revolutionären konzeptionellen
Umorientierung der verfassungsrechtlichen
Grundlagen deutscher Außen- und
Sicherheitspolitik sollen in diesem Beitrag
ihre Fundamente und tragenden
Pfeiler noch einmal näher in den Blick
genommen werden.
Begründungsstruktur
Was sind die zentralen Gründe, die das
BVerfG für die verfassungsrechtliche
Gleichsetzung eines Verteidigungsbündnisses
(»System kollektiver Verteidigung
«) wie der NATO mit den in Art.
24 Abs. 2 GG normierten »Systemen
kollektiver Sicherheit« heranzieht?
Nach Auffassung des BVerfG ist es
„unerheblich“, ob das von Art. 24 Abs. 2
GG gemeinte »System gegenseitiger kollektiver
Sicherheit«
„ausschließlich oder
vornehmlich unter den Mitgliedsstaaten
Frieden garantieren oder bei Angriffen von
außen zum kollektiven Beistand verpflichten
soll“. Entscheidend sei vielmehr, dass zum
Einen das System
„durch ein friedenssicherndes
Regelwerk und den Aufbau einer
eigenen Organisation für jedes Mitglied einen
Status völkerrechtlicher Gebundenheit“
begründet und dass zum anderen dieser
Status der völkerrechtlichen Gebundenheit
„wechselseitig zur Wahrung des Friedens
verpflichtet“ und
„Sicherheit gewährt“. Beides sei bei der NATO der Fall.
Meine These ist: Diese Argumentation
des BVerfG geht an Normstruktur
und Norminhalt des Art. 24 Abs. 2 GG
vorbei und legitimiert so eine von dieser
Verfassungsnorm abweichende sicherheitspolitische
Grundkonzeption.
Entstehungsgeschichte
Erhellend für die Problemidentifizierung
ist zunächst die Entstehungsgeschichte
der maßgeblichen GG-Norm. Carlo
Schmid, der geistige und politische Vater
des Art. 24 Abs. 2 GG, hat dazu 1948/
49 bei der Ausarbeitung des GG in den
Debatten des Parlamentarischen Rates
ausgeführt [3]:
„Der Begriff der ‚kollektiven
Sicherheit’ ist ein Terminus technicus, unter
welchem etwas ganz Bestimmtes verstanden
wird. … Unter ‚kollektiver
Sicherheit’ ist etwas ganz Präzises zu verstehen,
eine Institution aus dem großen Gebiet
des Kriegsverhütungsrechts, das in den
modernen Lehrbüchern als besonderer Abschnitt
des Systems des positiven Völkerrechts
behandelt zu werden pflegt. … ‚Kollektive
Sicherheit’ ist ein genau so klar umrissener
Terminus wie im bürgerlichen
Recht der Ausdruck ‚ungerechtfertigte
Bereicherung’.“[4] Trotz verschiedener Abänderungsanträge
blieb es auf der Basis
dieser Argumentation Carlo Schmids
(SPD), dem als Vorsitzendem des Hauptausschusses
gerade in völkerrechtlichen
Fragen vor allem aufgrund seiner herausragenden
einschlägigen Vorbildung und
Erfahrung eine große Sachautorität von
seinen Abgeordneten-Kollegen zugebilligt
wurde, bei dieser Textfassung des
Art. 24 Abs. 2 GG. Sie ist bis heute unverändert
im GG verankert.
Zu konstatieren ist allerdings, dass
weder Carlo Schmid noch andere Abgeordnete
des Parlamentarischen Rates eine
präzise Definition des von ihnen als
„festen
juristischen Begriff“ bzw. als
„Terminus
technicus“ bezeichneten »System(s) gegenseitiger
kollektiver Sicherheit« gegeben
hatten. Das sollte sich in der Folgezeit
als schwerer Fehler erweisen. Sicher
ist aber zugleich, dass in den Debatten
des Parlamentarischen Rates zu Art. 24
Abs. 2 GG kein eigenständiger verfassungsrechtlicher
Begriff der »kollektiven
Sicherheit« geprägt wurde, sondern dass
man die vorgefundene einschlägige Begrifflichkeit
aus dem Völkerrecht der
Verfassungsgebung zugrunde legte.
Kollektive Sicherheit im Völkerrecht
Das BVerfG hat in seiner bereits erwähnten
Entscheidung von 1994 behauptet,
auch im Völkerrecht sei der Begriff der
»kollektiven Sicherheit« – entgegen der
geäußerten Auffassung des Abg. Schmid
– keineswegs eindeutig.[5] Es hat sich zum
Beleg dafür auf den damaligen Bonner
und späteren Berliner Völkerrechtslehrer
Christian Tomuschat berufen.
Tomuschat hatte in seiner im Jahre
1985 im »Bonner Kommentar« publizierten
Erläuterung des Art. 24 Abs. 2 GG
ausgeführt, anders als Carlo Schmid und
andere Abgeordnete im Parlamentarischen
Rat behauptet hätten, hätten
„während
der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen
erhebliche Zweifel (bestanden), wie der Begriff
der kollektiven Sicherheit sachgerecht
zu definieren sei.“[6]
„Auch in späterer Zeit
nach dem Zweiten Weltkrieg“ habe
„sich das
Begriffsverständnis nicht zu konturenscharfer
Eindeutigkeit entwickelt.“[7]
„Angesichts
dieser Unsicherheiten bei der Grenzziehung“
– schlussfolgerte Tomuschat –
„muss es als
fraglich bezeichnet werden, ob der Verfassungsgeber
sich im Jahre 1949 bewusst zu
einem engen Verständnis der kollektiven Sicherheit
im idealistischen Sinne der gemeinsamen
Verteidigung vorrangig gegen Angriffe
aus den eigenen Reihen bekannt hat“. Es
treffe deshalb – so Tomuschat –
„nicht zu,
wenn (u.a. vonDäubler, Rojahn, Walz und
Knut Ipsen) behauptet“ werde, „aus der
Entstehungsgeschichte lasse sich eindeutig
entnehmen, dass jedes Paktsystem, welches
sich primär gegen einen Angreifer von außen
richte, aus dem Anwendungsbereich des Art.
24 Abs. 2 GG herausfalle“. Als gemeinsamer
Nenner ergebe sich – so Tomuschat –
„lediglich ein Minimalkonsens dahin, dass
Bündnisse mit aggressiver Zielsetzung und
auch solche, die von vornherein auf einen
klar definierten Gegner ausgerichtet sind,
nicht die Qualifikation als System der kollektiven
Sicherheit verdienen“.
Tomuschats Darstellung in der Zweitbearbeitung
des »Bonner Kommentars«
von 1985 – übrigens im Gegensatz zu
der Erstbearbeitung (des Art. 24 Abs. 2
GG) durch Eberhard Menzel aus dem
Jahre 1951 – verkürzt und simplifiziert
die Entwicklung des völkerrechtlichen
Begriffs der »kollektiven Sicherheit« und
ist deshalb im Ergebnis ebenso wie die
ihr folgende Auffassung des BVerfG
nicht überzeugend. Das liegt insbesondere
daran, dass sie nur unzureichend den
historischen Hintergrund und die fundamentale
Neuorientierung des Friedenssicherungsrechts
nach dem I. Weltkrieg in
die Analyse einbezieht.
Erstmals wurde die politische Konzeption
der »kollektiven Sicherheit« nach
der Katastrophe des I. Weltkrieges in der
14 Punkte-Erklärung des damaligen USPräsidenten
Woodrow Wilson entwickelt.
Sie setzte sich auf der Grundlage einer
Analyse der Vorgeschichte und Ursachen
dieser Weltkatastrophe, die ca. 15
Millionen Menschen das Leben gekostet
hatte, dezidiert von den bisherigen Militärallianzen
ab. Für sie war der I. Weltkrieg
das Ergebnis einer Machtpolitik rivalisierender
verbündeter Staaten, aufgrund
derer die Großmächte in Europa –
das Vereinigte Königreich, Frankreich,
Russland, Deutschland sowie Österreich-
Ungarn – jeden Machtzugewinn des anderen
als Bedrohung auffassten, der sie
ihrerseits mit weiteren eigenen Machtanstrengungen
und immer neuen Auf- und
Nachrüstungen begegneten, die wiederum
als Bedrohung aufgefasst wurden.
Diese Spirale wechselseitiger Bedrohung(
en) mündete schließlich im Krieg.
US-Präsident Woodrow Wilson, selbst
Politikwissenschaftler, zog daraus die
Schlussfolgerung, dass die Politik des
»Gleichgewichts der Mächte« im Ergebnis
ganz wesentlich für die Katastrophe
mitverantwortlich war. Sie musste in seinen
Augen durch den neuen Ansatz einer
spezifischen Friedenspolitik ersetzt werden.
Die Konzeption Wilsons setzte der
alten Machtpolitik der Staaten die Vorstellung
einer Gemeinschaft der Völker
entgegen, die zum einen den Krieg als
Mittel der Politik ächtet und zum zweiten
den Frieden durch ein System kollektiver
Sicherheit gewährleistet.
Wilsons Konzeption gründete sich
ideengeschichtlich [8] u.a. auf Rousseau,
Kant, Bentham und Mill. Politisch stützte
sie sich auf Vorarbeiten eines von der britischen
Regierung durch Lord Balfour
eingesetzten Sachverständigenausschusses
(»Phillimorebericht«)[9] sowie auf Vorschläge
verschiedener US-amerikanischer und
britischer Nichtregierungsorganisationen
(u.a. League to Enforce Peace; League of
Nations Society).[10] Kernidee war, dass das
Prinzip der auf die nationale Souveränität
gestützten Machtkonkurrenz der Staaten
durch das Prinzip der kollektiven Sicherheit
überlagert und möglichst ersetzt werden
sollte. Präsident Wilson wies dementsprechend
immer wieder in aller Deutlichkeit
auf den konzeptionellen Widerspruch
hin, der zwischen einem System
kollektiver Sicherheit einerseits und Militärbündnissen
andererseits besteht. Schon
unter Punkt 3 der Erklärung von Woodrow
Wilson vom 27.9.1918 hieß es insoweit
unmissverständlich: „Es kann in der
allseitigen und gemeinschaftlichen Familie
des Völkerbundes keine Bündnisse oder
Allianzen oder gesonderte Verpflichtungen
und Abmachungen geben.“[11]
Das Konzept der »kollektiven Sicherheit
« fand in der Völkerrechtspraxis zunächst
seinen Niederschlag in der Satzung
des Völkerbundes. Allerdings geschah dies
nur sehr rudimentär.Das lag vor allem an
den starken Widerständen, mit denen
Wilson zu kämpfen hatte und die u.a. im
US-Kongress dazu führten, dass er keine
Mehrheit für die Ratifizierung der ausgehandelten
Verträge fand. Das Wilson’sche
Konzept wurde dennoch fortentwickelt
und konkretisiert und zwar vor allem
durch Vorschläge des französischen Außenministers
Aristide Briand, die u.a. im
Briand-Kellogg-Pakt über die Kriegsächtung
von 1928 sowie in seinem dem Völkerbund
1930 vorgelegten großen Friedensplan
Ausdruck fanden.[12] Eine Zwischenbilanz
dieses neuen Politikansatzes
»kollektiver Sicherheit« wurde im Frühjahr
1933 auf einer internationalen Tagung
des dem Völkerbund unterstehenden
»Institut International de Coopération
Intellectuelle« gezogen, dem Vorläufer
der UNESCO. Dazu trugen maßgeblich
auch Expertisen zahlreicher wohlbekannter
Völkerrechtler der Zwischenkriegszeit
bei, insbesondere des englischen Gelehrten
McNair [13], des Genfer Völkerrechtlers
Maurice Bourquin [14] und des österr. Völkerrechtlers
Alfred Verdross [15], worauf sich
insbesondere Carlo Schmid im Parlamentarischen
Rat ausdrücklich bezog. Bourquin
stellte in seinem »Rapport Final« als
Generalberichterstatter der vorerwähnten
Völkerbundstagung zusammenfassend
fest, der Begriff der »kollektiven Sicherheit« impliziere eine Konzeption,
die sich grundlegend von der Sicherheit
unterscheide, die in militärischen Allianzen angestrebt werde. Verschieden
sei zunächst die Zielsetzung; denn es gehe
nicht um die Sicherheit einzelner Staaten,
sondern um die Sicherheit aller. Der Krieg
werde dementsprechend als gemeinsame
Gefahr für alle aufgefasst, der die Interessen
der gesamten Gemeinschaft berühre.
Kollektiv sei auch die Methode. Kollektive
Sicherheit betreffe nicht mehr allein das
Verhältnis zwischen den Streitkräften eines
Staates (und dessen Verbündeten) und
denjenigen seines eventuellen Gegners.
Vielmehr gehe es um die Etablierung einer
internationalen Zusammenarbeit der
Staaten im weitesten Sinne des Wortes,
auch wenn in einem solchen System nicht
alle Staaten die gleiche Rolle spielten, sondern
sich je nach ihrer spezifischen Situation
mit verschiedenen Beiträgen bei der
Gewährleistung kollektiver Sicherheit engagierten.[16]
Carlo Schmid nahm dies nach dem
II. Weltkrieg auf und reformulierte dieses
Konzept 1948/49 in folgenden Worten:
„Diese Vorstellung (eines internationalen
Systems kollektiver Sicherheit) ist
zum ersten Male aufgekommen zu der
Zeit, als Briand französischer Außenminister
war; eine sehr einfache Sache –
nichts anderes als die Anwendung des Genossenschafts-
und Versicherungsgedankens
auf das politische Leben: Staaten schließen
sich zusammen zu einem System gegenseitiger
Verpflichtungen zu dem Zweck, dass,
wenn einer von ihnen angegriffen ist, alle
anderen diesen Angriff von ihm gemeinsam
abwehren, und ein System, das
gleichzeitig die Möglichkeit bietet, dass
die Differenzen, die unter ihnen selber
aufkommen könnten, auf friedlichem
Wege in vernünftiger und kalkulierbarer
Weise geschlichtet werden können. Damit
aber wird das, was man bislang nationale
Politik genannt hat, unter das kollektive
Interesse gebeugt.“ Auch viele andere
Völkerrechtler wie der Schweizer Rudolf
Bindschedler [17] sowie bedeutende Völkerrechtler
aus allen Rechtskreisen dieser
Welt, wie u.a. H. Kulski, Quincey
Wright, C. de Vischer, M.A. Navarro,
J.L.O. Kunz, L. Oppenheim und H.
Lauterpacht, C. Rousseau, Manfred
Lachs, Hans Kelsen, F. van Langenhove,
Skubiszewski, Knut Ipsen, Otto Kimminich,
Ulrich Beyerlin und Horst Fischer
haben auf diesem Fundament bis heute
– im Kern übereinstimmend – immer
wieder darauf hingewiesen:
„Kollektive
Sicherheit und Bündnisse widersprechen
sich grundsätzlich.“[18]
Fundamentale Differenz
Was sind nun diese fundamentalen Unterschiede
zwischen einem »System kollektiver
Verteidigung« (Verteidigungsbündnis)
und einem »System kollektiver
Sicherheit«, worin bestehen sie konkret?
(1) Keine Differenz zwischen ihnen
besteht darin, dass ihre Mitgliedsstaaten
dem völkerrechtlichen Gewaltverbot unterliegen.
Dies ergibt sich unmittelbar
aus Art. 2 Nr. 4 der
UN-Charta und ist heute im Grundsatz [19] unbestritten. Die
NATO hat dies für sich in Art. 1
NATO-Vertrag
ausdrücklich klargestellt.
(2) Der wichtigste Unterschied zwischen
einem »System kollektiver Verteidigung
« (Verteidigungsbündnis) und einem
»System kollektiver Sicherheit« ist,
dass sie auf zwei entgegen gesetzten
Grundkonzeptionen von Sicherheitspolitik
beruhen. Das Grundkonzept von
Verteidigungsbündnissen basiert auf Sicherheit
durch eigene Stärke und die
Stärke der eigenen Verbündeten. Es ist
»partikulär-egoistisch«. Die Grundkonzeption
kollektiver Sicherheit basiert
hingegen auf der Sicherheit aller potenziellen
Gegner durch die Reziprozität
innerhalb einer internationalen Rechtsordnung.
Es verankert die eigene Sicherheit
also gerade nicht in der relativen
Schwäche und Unterlegenheit des
potenziellen Gegners, sondern in der
gemeinsamen Sicherheit. Dem liegt die
Vorstellung zugrunde, dass die eigene
Sicherheit zugleich auf der Sicherheit
des potenziellen Gegners beruht. Das
NATO-Bündnis (auf der Grundlage des
NATO-Vertrages) gründet demgegenüber
auf der Konzeption, dass die Abwehr
einer Aggression von außen gegen
ein Bündnismitglied – wie für ein Defensiv-
Bündnis typisch – durch Selbstschutz
(»Faustrecht«) des angegriffenen
Staates und seiner Verbündeten erfolgt.
(3) Ein Verteidigungsbündnis ist –
anders als ein »System kollektiver Sicherheit
« – nicht auf prinzipielle Universalität
im Sinne des Einschlusses
möglichst aller potenziellen Aggressoren
angelegt. Allerdings heißt dies keineswegs,
dass ein System kollektiver Sicherheit
nur auf globaler Ebene unter Einbeziehung
aller Staaten bestehen kann.
Es kann auch regionale Systeme kollektiver
Sicherheit geben, sofern sie nur innerhalb
der gesamten Region prinzipiell
für alle betroffenen Staaten und damit
für alle potenziellen Aggressoren der Region
offen sind. Im Parlamentarischen
Rat ist dies klar erkannt worden, in dem
– innerhalb des globalen UN-Rahmens
– ausdrücklich von einer künftigen Europäischen
Union als Beispiel für ein regionales
System kollektiver Sicherheit
die Rede war.
Dieser fundamentale Unterschied
zeigt sich sehr deutlich etwa bei der
NATO. Sie steht eben, anders als die
UNO, nicht jedem Beitrittswilligen offen,
der die im NATO-Vertrag verankerten
Ziele anerkennt. In der Zeit ihrer
Gründung und während des Kalten
Krieges war sie nach ihrem erklärten
und unbezweifelten Selbstverständnis
gegen eine potenzielle Aggression der
Sowjetunion und deren Verbündeten
gerichtet. Dementsprechend haben die
NATO und ihre Mitgliedsstaaten in den
Jahren 1954/55 auch das Begehren der
früheren Sowjetunion auf Mitgliedschaft
im NATO-Bündnis als unvereinbar
mit dessen Zielrichtung abgelehnt.
Nicht anders wurde auch mit dem Aufnahmegesuch
Russlands im Zusammenhang
mit den NATO-Osterweiterungen
der letzten Jahre umgegangen, die
durchweg darauf abzielten, die eigene
Sicherheit gegen Russland und nicht gemeinsam
mit Russland zu definieren
und zu gestalten.
(4) Viertens – und dies ist ein weiterer
gravierender Unterschied zu einem kollektiven
Sicherheitssystem – enthält ein Verteidigungsbündnis
für den Fall eines von
einem eigenen Mitgliedsstaat begangenen
Aggressionsaktes keine verbindlichen internen
Konfliktregelungsmechanismen.
Das ist auch beim NATO-Vertrag so. Eine
NATO-interne Verpflichtung der übrigen
NATO-Partner, einem NATO-Verbündeten,
der gegen das Gewaltverbot verstößt,
mit kollektiven NATO-Zwangsmaßnahmen
entgegen zu treten, sieht er gerade
nicht vor. Für die NATO-Staaten zeigte
sich dies z.B. während des Vietnam-Krieges,
bei den völkerrechtswidrigen US-Militäraktionen
gegen Guatemala, Grenada,
Panama und zahlreiche andere Staaten,
zuletzt im Jahre 2003 beim US-Krieg gegen
Irak. Dieses konzeptionelle und institutionelle
Defizit der NATO ist typisch
für ein »System kollektiver Verteidigung«
(Verteidigungsbündnis), das ja gerade zur
Verteidigung gegen einen potenziellen externen
Aggressor, nicht aber zur Wahrung
der Sicherheit gegen verbündete Mitglieder
geschlossen wird.
(5) Ein Verteidigungsbündnis etabliert
auch – ganz anders als ein »System
kollektiver Sicherheit« – keine den Mitgliedsstaaten
übergeordnete zwischenstaatliche
oder supranationale Gewalt einer
organisierten und rechtlich geordneten
Macht nach dem Modell der Vereinten
Nationen. Der Völkerrechtler Albrecht
Randelzhofer hat dieses Charakteristikum
einmal in die zutreffenden Worte
gefasst:
„Ein kollektives Sanktionssystem
setzt daher ein internationales System von
hoher Unparteilichkeit und Mobilität voraus.
Jeder Staat muss jederzeit bereit sein,
jeden Staat gegen jeden Angreifer zu verteidigen.
Das Bewusstsein der allgemeinen
Verbundenheit mit allen Staaten muss größer
sein als die Verbundenheit mit engeren
Gruppen von Staaten. Bündnisse sind unvereinbar
mit diesem Grundgedanken eines
kollektiven Sicherheitssystems, da sie notwendigerweise
bewirken, dass anstelle der
allgemeinen Verbundenheit das Denken
und Empfinden in Gruppierungen
herrscht. Man ist bereit, sich und verbündete
Staaten gegen bestimmte andere zu
verteidigen, nicht aber einen Staat, gegen
den sich das Bündnis richtet, gegen den
auch noch so offensichtlich unrechtmäßigen
Angriff durch den verbündeten Staat.“[20]
Keine Revision durch die Grundgesetz-Änderungen von 1956 und 1968
An dieser fundamentalen Unterscheidung
zwischen den in Art. 24 Abs. 2 GG
in Bezug genommenen völkerrechtlichen
»System(en) gegenseitiger kollektiver Sicherheit
« einerseits und einem Verteidigungsbündnis
nach Art. 51 UN-Charta
anderseits, die im Parlamentarischen Rat
von niemandem in Zweifel gezogen wurde,
wurde weder im Zusammenhang mit
der 1956 erfolgten Einfügung der
»Wehrverfassung« noch mit der Inkorporierung
der »Notstandsverfassung« im
Jahre 1968 etwas geändert.
Es wurden zwar im Vorfeld der Grundgesetzänderung
von 1956 – letztlich wohl
wegen des anfänglich starken Widerstandes
der Oppositionsparteien gegen die
deutsche Wiederbewaffnung und des Fehlens
einer für eine Grundgesetzänderung
notwendigen Zweidrittelmehrheit im Parlament
– vielfältige Versuche unternommen,
Art. 24 Abs. 2 GG so zu interpretieren,
dass eine Verfassungsänderung umgangen
werden konnte. Stellvertretend dafür
sei auf die vielfältigen Expertisen der
völkerrechtlichen Berater der von Adenauer
geführten Bundesregierung, vor allem
die Beiträge des Freiburger Völkerrechtlers
Wilhelm Grewe, hingewiesen.
Die von Grewe und anderen Anfang
der 1950er Jahre gesehene Notwendigkeit,
Art. 24 Abs. 2 GG heranzuziehen,
umdie deutsche Wiederbewaffnung im
Rahmen eines Militärbündnisses (EVG
oder NATO) ohne Verfassungsänderung
realisieren zu können, entfiel nach der
im Jahre 1956 erfolgten Einfügung des
Art. 87a GG a.F. in das GG. Dadurch
war nunmehr eine hinreichende Basis für
die Aufstellung der Bundeswehr und die
Eingliederung in das NATO-Verteidigungsbündnis
geschaffen. Art. 24 Abs. 2
GG war damit aus der Diskussion.
Revision ohne Verfassungsrevision?
Das änderte sich erst Mitte der 1980er
Jahre, als zunehmend die Forderung erhoben
wurde, Deutschland müsse sich
entsprechend seinen wirtschaftlichen
und politischen Potenzen »out of area«
stärker engagieren, vor allem auch militärisch.
Jetzt wurden die Stimmen immer
zahlreicher, die dafür plädierten,
die NATO als »System kollektiver Sicherheit« im Sinne des Art. 24 Abs. 2
GG zu qualifizieren, um an Stelle der
sehr engen Ermächtigungsgrundlage des
Art. 87a GG („zur Verteidigung“) eine
andere oder jedenfalls zusätzliche verfassungsrechtliche
Basis für Militäreinsätze
der Bundeswehr zu finden.
Nach dem Ende des Kalten Krieges, als
es darum ging, für die NATO ohne Änderung
des NATO-Vertrages und für die
Bundeswehr ohne Änderung des Grundgesetzes
ein »erweitertes Aufgabenspektrum
« zu schaffen und zu legitimieren,
brachen die Dämme. Nun mehrten sich
die Veröffentlichungen – mit und ohne
Gutachtenauftrag aus öffentlichen Kassen
–, die im Interesse der neuen »Staatsräson
« die Fesseln des Art. 87a GG zu
sprengen suchten. Das geschah dann dadurch,
dass Art. 24 Abs. 2 GG – unter
Missachtung der Entscheidung des Verfassungsgebers
und der systematisch-konzeptionellen
Unterschiedlichkeit eines Verteidigungsbündnisses
gegenüber einem »System
kollektiver Sicherheit« – uminterpretiert
wurde. Auch wenn das BVerfG diesem
Weg gefolgt ist, sind die Auseinandersetzungen
darüber nicht zu Ende.
Auch zukünftig muss deshalb bei jedem
militärischen Außeneinsatz der
Bundeswehr, der nicht nach Art. 87a GG
„zur Verteidigung“[21] Deutschlands oder
eines seiner Bündnispartner erfolgt, die
Frage gestellt und beantwortet werden,
ob die deutschen Streitkräfte dabei tatsächlich
im Rahmen eines »Systems gegenseitiger
kollektiver Sicherheit« im
Sinne des Art. 24 Abs. 2 GG tätig werden.
Das ist bei Einsätzen im Rahmen eines
formellen Mandats der UNO in aller
Regel der Fall, sofern die Regeln der
UN-Charta eingehalten werden.[22] Problematisch
wird es jedoch immer dann,
wenn ein Einsatz der Bundeswehr ohne
formelles UN-Mandat erfolgen soll –
etwa im Rahmen einer »Selbstmandatierung
« durch die NATO wie im»Kosovo-
Krieg« 1999 oder bei der Mitwirkung an
und Unterstützung von völkerrechtswidrigen
Kriegshandlungen durch NATOBündnispartner
wie im Irak-Krieg 2003.
Das in Art. 24 Abs. 2 GG verankerte
Konzept einer »kollektiven Sicherheit« hat
darüber hinaus noch eine wichtige Leitfunktion.
Dies ist ein wertvoller »ungehobener
Schatz«. Die so genannte Palme-
Kommission, an der 19 bedeutende Politiker
aus Ost und West, Nord und Süd,
darunter Egon Bahr, mitgewirkt haben,
hat dies noch in der Hochphase des Kalten
Krieges in die weisen Worte gefasst:
„In der heutigen Zeit kann Sicherheit nicht
einseitig erlangt werden. Wir leben in einer
Welt, deren ökonomische, politische, kulturelle
und vor allem militärische Strukturen
in zunehmendem Maße voneinander abhängig
sind. Die Sicherheit der eigenen Nation
lässt sich nicht auf Kosten anderer Nationen
erkaufen.“[23]
Im nuklearen Zeitalter der gegenseitig
gesicherten Zerstörung ist Sicherheit
nicht mehr vor dem Gegner, sondern nur
noch mit ihm zu erreichen.
Anmerkungen
-
Im sog. Pershing-Urteil vom 18.12.1984
hatte das BVerfG diese
Frage ausdrücklich unbeantwortet gelassen.
- BVerfGE 90, 286 <347ff, 349ff>.
- Er wandte sich damit gegen einen Antrag des
SPD-Abg. Menzel, mit dem die Ersetzung des
im Entwurf der Vorschrift (»Herrenchiemsee-
Entwurf«) vorgesehenen Begriffs »gegenseitige
kollektive Sicherheit« durch »gemeinsame Sicherheit
« wegen der „politischen Belastung, die
dieses Wort (»kollektive Sicherheit«) – ob zu
Recht oder zu Unrecht, mag dahingestellt bleiben
– in den letzten Jahren in der europäischen Politik
bekommen hat“, verlangt wurde.
- vgl. 6. Sitzung des Hauptausschusses vom
19.11.1948, Sten. Prot. S. 71; JöR n.F. 1
(1951), S. 227.
- BVerfGE 90, 286 <347>.
- Tomuschat in: Bonner Kommentar (BK),
Zweitbearbeitung 1985, Art. 24 Rn. 126.
- ebd., Rn. 132.
- Dem lag die Vorstellung zugrunde, dass es
nicht die Völker sind, die Kriege verursachen,
sondern lediglich Staaten, die sich über den
Friedenswillen der Völker hinwegsetzen. Deshalb
betrachtete diese Wilson’sche Konzeption
neben der Gründung des Völkerbundes vor allem
die Demokratisierung der Staaten als zentrale
Friedensbedingung.
- Vgl. dazu u.a. F.S. Northhedge (1986): The
League of Nations, S. 25 ff; Zangl/Zürn
(2003): Frieden und Krieg, S.29 ff.
- Vgl. Woodrow Wilson (1923): Memoiren und
Dokumente über den Vertrag zu Versailles
anno MCMXIX, Hrsg. von R. St. Baker (autorisierte
deutsche Übersetzung von Curt Thesing),
Bd. I, Leipzig, S.85 ff, 177 ff.
- vgl. Deiseroth, Art. 24 GG, in: Umbach/Clemens
(2001): GG, Art. 24 Rn. 191 ff.
- vgl. P. Barandon (1948): Die Vereinten Nationen
und der Völkerbund in ihrem rechtsgeschichtlichen
Zusammenhang, S. 124, 185 ff.
- „On the one hand, war in breach of the Covenant
is made illegal; on the other, force which is
collectivized and placed at the service of the international
community is made legal“, vgl. McNair
(1936): Collective Security, in: The British
Yearbook of International Law 17, S. 150 <155, 158, 161>.
- M. Bourquin (1934): Le Problème de la Sécurité
internationale. In: Recueil des Cours de
l´Académie de Droit Internationale 49 (1934
III)
- Verdross (1937): Völkerrecht, 1. Aufl., S. 24,
157, 345.
- M. Bourquin (1936): La Sécurité Collective,
S . 458.
- vgl. zu den Einzelnachweisen u.a. Deiseroth,
GG, Art. 24 Abs. 2,Rn. 194 ff; ders., Die Friedenswarte,
2000, Heft 1, S. 101ff.
- Rudolf Bindschedler in: W.Schätzel/H.-
J.Schlochauer (Hrsg.), Festschrift für Wehberg,
1956, S. 67 f. m.w.N.
- zu den Schwächen des Gewaltverbots vgl. u.a.
Deiseroth, Vom Recht des Stärkeren zur Stärke
des Rechts, in: Colneric u.a. (Hrsg.) (1994):
Gewalt in Deutschland, Gewalt aus Deutschland,
S. 127 <136ff> m.w.N.
- vgl. Randelzhofer in: Heilbronner/Ress/Stein
(Hrsg.) (1989): Staat und Völkerrechtsordnung.
Festschrift für K. Doehring, S. 745
<762>.
- Was nach dem Grundgesetz unter einem Fall
der »Verteidigung« zu verstehen ist, lässt sich
zum einen der Regelung über den »Verteidigungsfall
« in Art. 115a GG, insbesondere aus
ihrem Wortlaut („Bundesgebiet mit
Waffengewalt angegriffen“ oder „ein solcher Angriff
unmittelbar“) und zum anderen
ihrer Entstehungsgeschichte entnehmen. Da
der Normtext des Art. 87a Abs. 1 und 2 GG
von »Verteidigung« und damit – anders als
eine im Gesetzgebungsverfahren zunächst vorgeschlagene
Fassung – nicht von »Landesverteidigung
« spricht und da zudem der verfassungsändernde
Gesetzgeber bei Verabschiedung der
Regelung im Jahr 1968 auch einen Einsatz im
Rahmen eines NATO-Bündnisfalles unbestritten
als verfassungsrechtlich zulässig ansah, ist
davon auszugehen, dass »Verteidigung« alles
das (abschließend) umfasst, was nach dem geltenden
Völkerrecht zum individuellen und
kollektiven Selbstverteidigungsrecht nach Art.
51 der UN-Charta zu rechnen ist, der die Bundesrepublik
Deutschland 1973 wirksam beigetreten
ist. Art. 51 UN-Charta gewährt nach
seinem Wortlaut allein „im Falle eines bewaffneten
Angriffs“ („if an armed attack occurs“)
dem Angegriffenen das naturgegebene Recht
(„inherent right“) zur individuellen und zur
kollektiven Selbstverteidigung; dies allerdings
nur zeitlich begrenzt, nämlich bis der UN-Sicherheitsrat
die zur Wahrung des Weltfriedens
und der internationalen Sicherheit erforderlichen
Maßnahmen getroffen hat.
- Auf das Sonderproblem eines Bundeswehreinsatzes
im Rahmen der EU kann hier nicht näher
eingegangen werden; dessen verfassungsrechtliche
Zulässigkeit hängt vor allem von der
Einhaltung der Voraussetzungen des sog. Europa-
Artikels 23 GG in Verbindung mit den Regelungen
des EU-Vertrages ab.
- Der Palme-Bericht. Bericht der Unabhängigen
Kommission für Abrüstung und Sicherheit.
Dt. Ausgabe 1982. Mit Vorwort von Egon
Bahr. Berlin 1982; vgl. ferner Egon Bahr in:
Festschrift für C.F. von Weizsäcker zum 70.
Geburtstag, München/Wien 1982, S. 195 ff.
* Dr. Dieter Deiseroth ist seit 2001 Richter
am Bundesverwaltungsgericht; er hat zahlreiche
Veröffentlichungen zum Verfassungs-,
Verwaltungs- und Völkerrecht
sowie zur Rechtsgeschichte verfasst.
Dieser Beitrag erschien in: Wissenschaft & Frieden 1/2009, S. 12-16
Die Zeitschrift Wissenschaft & Frieden erscheint vier Mal im Jahr und ist zu beziehen bei:
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