Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Nato-Erweiterung bereitet dem Westen Probleme

Kritisches zum Nato-Gipfel in Bukarest: Zwei Beiträge russischer Experten beleuchten die Interessen der EU-Staaten und Russlands

Es folgen zwei Beiträge, die von der Russischen Nachrichtenagentur RIA Novosti verbreitet wurden:


Nato-Erweiterung führt zu Sicherheitschaos

Von Alexander Chramtschichin *

Auf dem Nato-Gipfel Anfang April in Bukarest können drei Balkan-Länder (Kroatien, Mazedonien und Albanien) mit einem Beitrittsangebot rechnen.

Das wird die wichtigsten Trends in der Entwicklung des Militärbündnisses, die sich nach Beendigung des Kalten Krieges bildeten, erneut bestätigen. Die Osterweiterung verliert vollends den militärischen Sinn und wird zum Selbstzweck. Die NATO existiert um ihrer extensiven Erweiterung willen, wobei die militärische Effizienz überhaupt keine Bedeutung hat. Ausnahmslos alle osteuropäischen Länder, die 1999 und 2004 in die NATO aufgenommen wurden, sind ausgesprochene Nutznießer des Sicherheitssystems - unfähig, selbstständig den Schutz des eigenen Landes zu sichern. Dabei bauen sowohl die "neuen" als auch die "alten" Nato-Mitglieder ihre Streitkräfte weiter ab. Demnach muss der Block mit immer geringeren Kräften ein immer größeres Territorium beschützen. Falls die oben genannten Balkan-Länder aufgenommen werden, wird diese Sachlage nur noch deutlicher hervortreten, besonders in Anbetracht der äußerst schwachen Streitkräfte von Albanien und Mazedonien.

Es kann angenommen werden, dass die NATO-Erweiterung eine Demonstration der sich ausdehnenden Zone von "Freiheit und Demokratie" in Europa mit rein politischer Bedeutung ist. Zudem ging der ursprüngliche Sinn der NATO bereits 1991 verloren, aber wie jede bürokratische Organisation ging sie zum Selbsterhaltungsregime über - unabhängig davon, ob besagte Struktur nötig ist. Von diesem Standpunkt aus ist die Osterweiterung eine ideale Gelegenheit, den Bürokraten im Brüsseler Hauptquartier für längere Zeit eine "wichtige Beschäftigung" zu geben. Zum Stichwort "europäische Sicherheit" steht der Prozess selbstverständlich in keiner Beziehung, zumal es nicht ganz verständlich ist, wer und was diese Sicherheit bedroht. Die neuen NATO-Mitglieder sehen Fakt der Mitgliedschaft offenbar als eine rein psychologische Befriedigung (das Gefühl der Zugehörigkeit zur "zivilisierten Welt" und die Illusion der Sicherheit, die, wie ich wiederholen möchte, ohnehin von niemandem bedroht wird).

Wirklich gefährlich für die europäische Sicherheit ist heute und in absehbarer Zukunft wohl nur der Anstieg des Drogenhandels aus Afghanistan. Gerade hier zeigt sich besonders deutlich die militärische Handlungsunfähigkeit der NATO, deren Truppen sich in Afghanistan befinden, doch zur Bekämpfung der Drogengefahr praktisch nichts unternehmen.

In Russland werden alle genannten Entwicklungstrends der NATO leider nur wenig erkannt, hierzulande überwiegt die traditionelle, aus den Zeiten des Kalten Kriegs stammende paranoide Sicht auf den transatlantischen Militärblock. Teilweise wird diese Sicht übrigens durch den Fakt der NATO-Erweiterung aufrechterhalten (der Umstand, dass in diesem Prozess kein Sinn zu erkennen ist, erregt unwillkürlich den Verdacht, dass der Prozess aggressiv gegen Russland gerichtet ist). Dennoch wird die Aufnahme der drei Balkanländer in Moskau wohl kaum eine ernste Reaktion auslösen, so offensichtlich ist die militärische Schwäche dieser Länder und ihre Entfernung von den russischen Grenzen.

Ganz anders wird in Russland dagegen die Aufnahme Georgiens und erst recht der Ukraine in die NATO aufgefasst werden: nicht einfach als Eindringen in den traditionell russischen Einflussbereich (selbst wenn heute das Bestehen eines solchen in großem Maße eine Illusion ist), sondern auch als eine beinahe direkte Aggression, denn das Bündnis wird sich unmittelbar an Russlands Grenze annähern - und das an einem recht langen Abschnitt dieser Grenze. Dass sich in diesem Fall die NATO-Verantwortungszone ausgebaut wird, die Truppenkontingente der Pakt-Staaten aber zumindest nicht zunehmen, wird unberücksichtigt bleiben.

Es ist klar, dass im Falle des Beitritts der Ukraine und Georgiens zur NATO der Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa endgültig begraben wird, denn dann verliert er tatsächlich jeden Sinn. Dementsprechend wird Russland das Kontingent seiner Streitkräfte im europäischen Teil des Landes durch die Verlegung von Truppen aus der Transural-Region nach Europa aufstocken. Wahrscheinlich wird Russland auch aus dem INF-Vertrag (Intermediate Range Nuclear Forces) aussteigen.

Es unterliegt keinem Zweifel, dass Russland auf Abchasien und Südossetien mindestens die Formel "alles außer der Anerkennung" anwenden und im Extremfall ihre Unabhängigkeit anerkennen wird. In dieser Hinsicht haben die westlichen Länder Russland durch Anerkennung der Kosovo-Unabhängigkeit einen Bärendienst erwiesen. Die Erklärungen der führenden Politiker im Westen, das Kosovo sei einzigartig und könne keinen Präzedenzfall schaffen, beruhen auf augenfällig absurden Argumenten und sind eine unverkennbare Aussage der Doppelstandards. Vom Standpunkt des Völkerrechts wie auch des gesunden Menschenverstands haben die Völker Abchasiens und Südossetiens um kein Jota weniger Rechte auf die Selbstbestimmung als die Kosovo-Albaner. Demnach wird der NATO-Beitritt Georgiens dessen territoriale Integrität zu Grabe tragen und nicht etwa deren Wiederherstellung sichern, wie in Tiflis möglicherweise geglaubt wird.

Völlig unverständlich ist, was der Ukraine der NATO-Beitritt gibt außer dem erwähnten Gefühl der "Zugehörigkeit zur zivilisierten Welt". Im Westen ist man sich offensichtlich nicht bewusst, dass die Ukraine in ihrer heutigen Form ein völlig künstliches Gebilde, eine Nachfolgerin der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik ist, deren Grenzen die kommunistischen Behörden der UdSSR willkürlich gezogen hatten. In der Ukraine gibt es seit ihrer Unabhängigkeit eine mentale Spaltung, die praktisch nicht auflösbar und sowohl geographischer als auch politischer Natur ist. Jede Handlung, die im Westen und im Südosten der Ukraine auf eine absolut entgegengesetzte Weise aufgefasst wird, vertieft diese Spaltung nur noch mehr und setzt die eigentliche Existenz des Landes aufs Spiel (im Unterschied zu Georgien, geht es in der Ukraine nicht um den Verlust kleiner Autonomien, sondern um die Teilung des Landes). Der NATO-Beitritt gehört zu ebensolchen Handlungen.

Dementsprechend hat die fortdauernde NATO-Erweiterung nichts mit der Festigung der Sicherheit in Europa zu tun. Das Gegenteil ist der Fall. Offenbar ist man weder in Brüssel noch in Washington in der Lage, das zu verstehen.

* Alexander Chramtschichin ist Leiter der Analytischen Abteilung am Institut für politische und militärische Analyse (Moskau).

Die Meinung des Verfassers muss nicht mit der der RIA Novosti übereinstimmen.

Aus: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 2. April 2008; http://de.rian.ru



Europa vor großen Problemen nach Nato-Gipfel

Von Alexej Arbatow **

Die auf dem NATO-Gipfel in Bukarest bevorstehende Erweiterung des Militärbündnisses durch drei neue Länder - Albanien, Kroatien und Mazedonien verschafft den Europäern sehr schwere Probleme.

Das gilt besonders für Albanien. Die NATO hatte bereits Probleme mit der Türkei, und jetzt ergänzt sie ihre Reihen durch Albanien, ein islamisches Land, das obendrein ziemlich instabil und nicht sehr vorhersagbar ist. Mit Kroatien wird vieles einfacher sein, mit Mazedonien erst recht.

Was jedoch Albanien angeht, so wird die NATO es niemals "verdauen" können. Albanien wird der NATO beitreten und sich etwas später für die Europäische Union anmelden. Also dasselbe Schema wie mit der Türkei. Diese ist heute sehr wohl ein Problem: Die Europäer wissen nicht, was zu tun ist, ob sie in die europäische Familie die 80 Millionen Moslems mit einer recht fundamentalistischen Einstellung und einer unverständlichen außenpolitischen Orientierung aufnehmen oder diese Menschen außen vor lassen sollen, was sie noch mehr zum Fundamentalismus drängen wird. Mit Albanien wird Europa eine zweite - kleine - Türkei bekommen, ein Land mit expansionistischen Illusionen und mit Ideen, die den Balkan betreffen und sich auf das Kosovo oder auf die albanische Diaspora beziehen. Eine Diaspora, die in anderen Ländern lebt - darunter in Griechenland und Mazedonien -, und die für diese Länder ein Problem schaffen kann.

Gewiss, Albanien wird niemanden überfallen, ob sie nun inner- oder außerhalb der NATO ist. Aber eine instabile Situation auf dem Balkan und in ganz Europa schaffen und vielleicht ein Transitgebiet für einen noch größeren Zustrom von Moslems nach Europa abgeben, das ohnehin viele ähnliche Probleme hat (Deutschland, Frankreich, Großbritannien, andere Länder) - das kann Albanien sehr wohl.

Mehr noch: Wenn die NATO es "bei sich aufnimmt", übernimmt sie zugleich bestimmte Verpflichtungen, zum Beispiel die, dass Albanien bei politischen Entscheidungen der NATO genauso mitsprechen darf wie auch die USA oder Großbritannien. Das bedeutet, dass Albanien jeden NATO-Beschluss aus eigenen Erwägungen heraus abblocken kann. Albanien wird allen militärischen Strukturen angehören. Wenn die NATO etwa bestimmte Operationen außerhalb ihrer Verantwortungszone plant, besonders solche, die sich auf islamische Länder beziehen, muss sie daran denken, dass innerhalb der Organisation jetzt eine mächtige "fünfte Kolonne" wirkt. Alles, was die NATO beschließt, wird jener Seite bekannt sein. Schon die Türkei schafft in dieser Hinsicht nicht wenig Probleme, und nun werden sie ein weiteres solches Land hinzubekommen.

Noch eine Schwierigkeit: Gegenwärtig bestehen die NATO- und die EU-Mitgliedschaft parallel zueinander, was an Albaniens Beispiel besonders klar zu sehen ist. Hier könnte die Türkei natürlich einwenden: Wir sind in der NATO von Anfang an, wir waren lange Zeit neben Deutschland einer der Hauptverbündeten der USA in der NATO. Wir sind ein Land, in dem bis heute noch amerikanische Atomwaffen gibt. Demnach: Entweder sind wir wie alle anderen auch und die Tür zur Europäischen Union muss für uns offen stehen oder es ist eine Diskriminierung.

Eine solche Diskriminierung wird jenen in der Türkei in die Hand spielen, die sagen, dass unsere Wege auseinandergehen: Die NATO bekämpft real den radikalen Islam, in der Türkei aber ist gerade der radikale Islam stark. Die Türkei kann ihm nur entgegentreten, wenn sie sich auf eine sehr ernste führende Stellung der militärischen Spitzen im Lande stützt, was jedoch nach allen NATO-Kanons nicht ganz demokratisch ist. All das zusammen bedeutet das Dilemma: Entweder verlangt ihr von der Türkei eine Demokratisierung, einen Verweis des Militärs auf ihren Platz, der ihm in den demokratischen - zivilen und weltlichen - Ländern zusteht. Aber dadurch kann das System ins Schwanken gebracht und die islamische Komponente darin verstärkt werden. Oder ihr werdet die Augen davor verschließen.

Wie schon gesagt, die NATO hat viele Probleme. Die erneute Erweiterung um die Balkanländer hat noch ein paar hinzugefügt. Russland regt all das recht wenig auf. Die NATO-Ausdehnung in Südosteuropa gibt Russland, wenn noch dazu der gegenseitige Wunsch der Kandidaten und der Aufnehmenden vorliegt, keine Gründe zu Einwänden. An Stelle der NATO würde ich all das nicht tun, da sie aber diesen Weg eingeschlagen haben, sollen sie ruhig.

Was dagegen die Aufnahme der Ukraine und Georgiens anbelangt (was auf dem Gipfel in Bukarest nicht geschehen wird), so lässt sich die NATO hierbei nicht von ihren Problemen mit den neuen Mitgliedern leiten, vielmehr treten hier die Motive der Beziehungen zu Russland in den Vordergrund. Denn Russland hat eindeutig erklärt: Es wird das als einen feindseligen Akt betrachten, mit allen sich daraus ergebenden Folgen. Erst danach fühlte die NATO den Bedarf, sich darüber Gedanken zu machen.

Es stimmt, Russland hat wegen innerer Gründe viele Chancen versäumt, die NATO noch fester mit der russischen Politik zu verbinden. Aber es allen Ernstes mit Russland zu verderben wegen Georgiens und der Ukraine, von denen man eigentlich nicht recht weiß, was sie in der NATO zu suchen haben? 70 Prozent der Ukrainer wollen nicht in die NATO. Georgien will schon beitreten, aber einzig und allein zu dem Zweck, Abchasien und Südossetien zurückzuholen. Das aber bedeutet einen militärischen Konflikt. Deshalb sind mit Russland zusammenhängende Erwägungen in diesen NATO-Beschlüssen nicht einfach präsent, sie spielen darin sogar eine sehr wichtige Rolle.

Man stelle sich vor, dass der Russland-NATO-Rat nicht nur ein Ort für die Erörterung von siebzehn Themen wäre, sondern ein Forum für die gemeinsame Ausarbeitung einer Politik, etwa bei der Aufstellung gemeinsamer Eingreiftruppen.

Stellen wir uns weiter vor, dass Russland gemeinsam mit der NATO, möglicherweise auch mit der Organisation des Vertrags für kollektive Sicherheit bei der Gewährleistung der Stabilität in Afghanistan eine wichtige Rolle spielen würde, woran Russland nicht weniger als die NATO interessiert ist. Dann würde man es sich in der NATO noch gründlicher überlegen, ob man etwas wider Russlands Interessen unternimmt.

Die NATO kann entgegen den Interessen von Luxemburg, Island, Litauen und bald auch denen von Albanien nichts mehr unternehmen. Hier aber ist die Rede von einem Riesenland mit kolossalen Ressourcen, einer großen, wenn auch nicht sehr kampffähigen Armee, mit einem gewaltigen Atomwaffenarsenal, einem Land, das vor 20 Jahren den USA und den anderen NATO-Ländern eine Sicherheit gewährleistete, die Europa seit Jahrtausenden nicht mehr kannte.

Ja, Russland hat in dieser Richtung seiner Politik viele Chancen versäumt, und es liegt mir fern, unsere Schuld zu untertreiben. Doch die größte Verantwortung hat der Westen.

* Alexej Arbatow ist Mitglied des Wissenschaftlichen Rates des Moskauer Carnegie-Zentrums.

Die Meinung des Verfassers muss nicht mit der von RIA Novosti übereinstimmen.

Aus: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 1. April 2008; http://de.rian.ru



Zurück zur NATO-Seite

Zur EU-Europa-Seite

Zur Russland-Seite

Zurück zur Homepage