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Von der Neutralität zur NATO

Nordeuropäische Staaten werden zur Kontrolle Rußlands und der rohstoffreichen Arktis genutzt und gebraucht

Von Agneta Norberg *

In der Öffentlichkeit kaum vorhanden, übersehen selbst europäische NATO-Gegner in ihren NATO-kritischen Diskussionen oft den Norden des Kontinents. Tatsache ist aber, daß die nordeuropäischen Länder aufgrund ihrer geographischen Nähe zu Rußland seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs für die USA von großer Bedeutung waren. So sollten die Gebiete Dänemarks, Norwegens, Islands, Grönlands und sogar Schwedens dazu verwendet werden, die damalige Sowjetunion, das jetzige Rußland, in Schach zu halten, zu beobachten und zu kontrollieren.

In Norwegen beispielsweise, das seit 1949 Mitglied der NATO ist, befanden sich während des Kalten Krieges zahlreiche Flugfelder, sogenannte »collocated operating bases«, Radarsysteme (stationär und mobil), Abhör­einrichtungen und große Höhlen in den Lofoten, wo sich US-Unterseeboote aufhielten. Das norwegische Friedensforschungsinstitut PRIO nannte Norwegen einen unsinkbaren Flugzeugträger der NATO.

Im Jahr 2000 installierten die Amerikaner eine große Radarstation in Vardo, das in unmittelbarer Nähe der russischen Grenze im Norden des Landes liegt. Zuvor war das Radarsystem auf dem US-Luftwaffenstützpunkt Vandenberg in Kalifornien verwendet worden. Das norwegische Außenministerium behauptete, der Radarstützpunkt würde verwendet, um Weltraummüll zu orten. Im Juni 2000 gab der norwegische Geheimdienst schließlich zu, daß die USA den Radarstützpunkt in Vardo als Basis einer Raketenabwehrtechnik zu nutzen gedachten. Dänemark, das ebenfalls seit 1949 NATO-Mitglied ist, hat sowohl auf eigenem Boden Radarsysteme installiert als auch in Grönland. In Thule liegt einer der wichtigsten US-Stützpunkte, der essentiell ist für das amerikanische Raketenabwehrsystem.

Finnland und Schweden waren bis viele Jahre neutrale Länder. Als diese jedoch 1994 dem NATO-Programm »Partnership for Peace« beitraten, geriet die Tradition der politischen Neutralität und Blockfreiheit nach und nach in Vergessenheit. Offiziell sind beide Länder nach wie vor blockfrei. Die Realität sieht jedoch anders aus: Beide Länder haben unter dem ISAF-Mandat Truppen in Nordafghanistan stationiert, die wiederum dem NATO-Oberkommando unterstehen.

Hinzu kommt, daß in den vergangenen Jahren in Finnland und Schweden zahlreiche Kriegsübungen stattfanden, die dem »Partnership for Peace«-Programm zugeordnet werden können. Letzteres änderte sich jedoch im Jahr 2009, als die NATO ohne jeden Deckmantel Militärübungen in der Ostsee und im Norden Norwegens, Schwedens und Finnlands durchzuführen begann. Im März vergangenen Jahres beteiligten sich die beiden Länder am NATO-Manöver »Cold Response«, das in Norwegen stattfand und mehr als 7000 Soldaten aus 14 Staaten einband. Schwerpunkt war die Sicherung von Öl-Transportwegen. Die Teilnehmer wurden darauf trainiert, sogenannte schnelle Einsatztruppen in Krisengebieten zu stellen. Im Juni nahm Schweden an der jährlichen Marineübung BALTOPS teil. Zum ersten Mal startete das Manöver vom schwedischen Hafen Karlskrona aus.

Zeitgleich zu BALTOP fand die bis dato größte Luftwaffenübung über Nordschweden statt, die ein Gebiet von der Größe Deutschlands umfaßte. Das Manöver mit dem Codname »Loyal Arrow« – von Friedensaktivisten umbenannt in »Royal Error« – umfaßte 50 Flugzeuge aus Schweden, Finnland und zehn NATO-Mitgliedsländern sowie 3000 Soldaten, die auf dem britischen Flugzeugträger »Illustrious« stationiert waren, der im Hafen von Lulea ankerte. Das Übungsszenario konzentrierte sich auf einen Öl- und Erdgaskonflikt mit »Bothnia«, einem fiktiven NATO-Nachbarstaat. Die Kriegsübungen fanden in der (fiktiven) »Bothniaschen Bucht« in der Nordsee statt und waren die historisch größte Demonstration von Luftmacht in dieser Region.

Der Schauplatz dieser Militärübung war nicht zufällig gewählt worden. Im Gegenteil reflektiert diese Wahl die wachsende strategische Bedeutung der Arktis, in der etwa ein Viertel der globalen Öl- und Erdgasvorkommen vermutet werden.

Die kriegerische Präsenz der USA im skandinavischen Raum nahm in diesem Sommer weiter zu: Die US-Luftwaffe trainierte mehrere Wochen lang Bombenabwürfe über Lomben und Kalix in Norrbotten. Das Interesse der Amerikaner an diesem großen Trainingsgebiet war schon im Jahr zuvor erkennbar.

Der Protestgruppe »Mischief« gelang es, sich Zutritt zum Trainingsgebiet zu verschaffen und so für mehrere Tage die Bombenabwurfübungen zu behindern. »Mischief« ist noch immer aktiv und plant bereits Aktionen für das kommende Jahr. In ihrer Einladung zum Friedenscamp in Lulea vom 22. bis 29. Juli 2011 heißt es: »Der Krieg beginnt hier – laßt ihn uns von hier stoppen. Nordschweden dient als Trainingsgebiet für Krieg. Es ist eine Lüge, daß Krieg nötig und unvermeidbar ist, und ebenso eine Lüge, daß Krieg weit weg von westlicher Zivilisation stattfindet. Kriege werden in Afghanistan und Irak geführt und genau hier vorbereitet und geprobt. Der heutige Technologiefortschritt wird verwendet, um die Kriegsschäden zu maximieren, während die Risiken für die Angreifer minimiert werden.«

* Agneta Norberg ist Vizepräsidentin des schwedischen Friedensrats und Mitglied des Internationalen Koordinierungskomitees »No to War – No to NATO« (ICC).

Aus: junge Welt, 28. Oktober 2010



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