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NATO in Dilemma:

Terroralltag in Afghanistan. Von Viktor Litowkin, Moskau

Von Viktor Litowkin, Moskau *

Der Kampf gegen Terror in Afghanistan ist nur dann erfolgreich, wenn parallell die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse verbessert werden.

Die Administration von US-Präsident George W. Bush will beim Kongress 10,6 Milliarden Dollar Hilfe für Afghanistan beantragen, berichten Nachrichtenagenturen. Mit diesem Geld soll die Verstärkung des Regierungstruppen in Afghanistan finanziert werden. Diese kämpfen immer noch gegen die Taliban-Bewegung, die vor fünf Jahren nach dem Einzug der USA entmachtet wurde. Die Hilfslieferungen an Afghanistan, die für den Wiederaufbau, eine Verbesserung der Lebensqualität und eine Senkung der Popularität der Taliban bestimmt sind, werden von der korrupten Polizei und den Stammesältesten geplündert, schreibt Sunday Telegraph.

Nun wollen der US-Kongress und der Senat nach den Plünderern fahnden und dabei verstehen lernen, inwieweit die Anstrengungen des Pentagons und seiner NATO-Alliierten in dem islamischen Staat wirksam sind.

Die Antwort auf die letztere Frage ist naheliegend: Die Anstrengungen der alliierten Truppen in Afghanistan sind äußert unwirksam, was auch beim NATO-Gipfel in der lettischen Hauptstadt Riga bestätigt wurde. Dennoch wurden die „Bemühungen um Frieden und Stabilität in Afghanistan“ in der Schlusserklärung des Gipfels zu einer der Prioritäten der NATO erklärt. Laut Dokument streben die Regierung unter Hamid Karzai und das afghanische Volk danach, „eine stabile, demokratische und prosperierende Gesellschaft aufzubauen, die frei von Terrorismus, Drogen und Angst ist, ihre Sicherheit selbständig gewährleisten kann und im Frieden mit den Nachbarn lebt“. Dass sich das afghanische Problem mit einem Militäreinsatz nicht lösen lässt, wird in der Erklärung mit keinem Wort erwähnt. Ebenso wie der Umstand, dass die NATO als eine ausschließlich militärische Organisation diesem Problem nicht gewachsen ist. Warum?

Um auf diese Frage zu antworten, muss man sich daran erinnern, wie und warum die USA und die NATO nach Afghanistan gekommen sind. Laut Erklärungen aus Washington und Brüssel kamen sie in dieses Land, um dem afghanischen Volk im Kampf gegen die radikale islamische Bewegung Taliban beizustehen, die dort damals an der Macht war, sowie gegen das von ihr unterstützte Terror-Netzwerk.

Das stimmt aber nicht ganz. Es stimmt, dass die Taliban und Al-Qaida terroristische Organisationen sind, die vor nichts Halt machen, um ihre Ziele zu erreichen, angefangen bei Menschenentführung und Mord über Zerstörung von Geschichts- und Kulturdenkmälern bis hin zu Einschüchterungsaktionen und Terroranschlägen.

Aber so etwas passiert nicht nur in Afghanistan. Das Gleiche geschieht nämlich auch in Irak, Pakistan und Indonesien, Palästina und Somalia, in Darfur und anderen Regionen der Welt. Doch das Pentagon und die NATO lassen dies aus irgendeinem Grund außer Acht. Weshalb?

Obwohl die Erklärung sehr einfach ist, ist sie in westlichen Medienberichten nicht zu finden. Washington und seine Alliierten fielen in Afghanistan nämlich mit dem einzigen Ziel ein, ein Aufmarschgebiet zu schaffen, um den Iran unter Druck setzen zu können. Wenn man an das Aufmarschgebiet im Irak und die Flugzeugträger-Gruppen im Arabischen Meer und im Persischen Golf denkt, wird klar, dass sich das Pentagon den strategischen Rahmen für einen Gewalteinsatz gegen den Iran vorbereitet. Washington will sich endlich für die Erniedrigung vom Jahr 1979 rächen: Damals hatten religiös gesinnte Studenten die amerikanische Botschaft 444 Tage lang belagert und die USA erzwungen, die gesperrten iranischen Konten bei amerikanischen Banken wieder freizugeben.

Diese „strategische Idee“ des Pentagons ist offenbar gescheitert. Die wachsenden Verluste der US-Armee im Irak (bereits über 3 000 Tote), der andauernde Bürgerkrieg in Mesopotamien, der nach der amerikanischen Invasion ausbrach, wie auch die Unfähigkeit, die Gewalt zu beenden - angesichts dessen musste die Aufgabe, „Teheran zu bestrafen“, bis auf unbestimmte Zeit verschoben werden.

Mit der Entsendung von weiteren 21 500 Soldaten nach Bagdad wie auch mit seinem Appell an Brüssel, es solle seine Militärpräsenz in Afghanistan verstärken, versucht Washington sein Gesicht zu wahren, weil seiner aggressiven Politik im Nahen und Mittleren Osten eine totale Niederlage droht. Die 33.000 Mann starke Schutztruppe für Afghanistan (ISAF), zu der die NATO und 37 weitere Staaten gehören, ist nicht imstande, die Probleme dieses Landes mit militärischen Mitteln zu bewältigen. Auch das 100.000 Mann starke Kontingent der Sowjettruppen, das dort vor vielen Jahren stationiert war, konnte nichts gegen die afghanischen Mudschaheddin tun.

Die Probleme von Afghanistan wie auch die der anderen ärmsten Staaten der Welt, die zu einem Herd des Terrors und Drogenhandels geworden sind, können nur dann bewältigt werden, wenn man stattliche Summen in die Wirtschafts- und Sozialentwicklung dieser Staaten steckt, totale Armut, Erniedrigung und Analphabetentum beseitigt. Dort müssen Schulen und Krankenhäuser, technische und medizinische Schulen sowie Fabriken entstehen. In Afghanistan müssen Textilfabriken und Bergbauunternehmen, Bewässerungssysteme und Wasserkraftwerke errichtet werden, mehrere tausend Arbeitsplätze in Landwirtschaft und Industrie für qualifizierte Fachleute geschaffen werden. Dieser Prozess muss genau kontrolliert werden. Die einheimischen Bauern müssen vom Opiumanbau auf andere Agrarkulturen umorientiert werden, die ihnen im Vergleich zu Heroin zwar geringere Gewinne bringen, so dennoch eine gesicherte Existenz garantieren und Entwicklungschancen bieten...

Die 10,6 Milliarden Dollar, die Bush beim Kongress beantragen will, sollen die 14,2 Milliarden Dollar ergänzen, die Washington bereits für die Unterstützung der Regierung unter Hamid Karzai bereit gestellt hat. US-Außenministerin Condoleezza Rice teilte mit, dass 8,6 Milliarden Dollar davon in die Ausbildung und Ausrüstung der afghanischen Armee gehen sollen. Der Rest sei für die Wiederherstellung des Landes bestimmt. Diese Summe reiche jedoch nicht aus, um Stabilität in Afghanistan sicherzustellen. Auch andere Staaten müssten spenden. Und zwar nicht nur die NATO-Staaten, sondern auch die UNO, die EU, die Asiatische Entwicklungsbank, die Weltbank usw.

Der britische Premierminister Tony Blair stellte Afghanistan 500 Millionen Pfund in Aussicht. Das Geld soll in den kommenden drei Jahren bereitgestellt werden. Auch Frankreich, Deutschland, Japan, China, Indien, die Türkei, Iran und Russland sicherten Wirtschafts- und Finanzhilfe zu. Der Kreml versprach, die afghanische Verschuldung in Höhe von zehn Milliarden Dollar zu streichen, die sich unter anderem aus den russischen Waffenlieferungen an die Nordallianz ansammelten. Mit Hilfe dieser Waffen wurde die Hauptstadt Kabul und südliche Regionen des Landes von den Taliban befreit.

Der russische Außenminister Sergej Lawrow schlug zudem vor, Afghanistan mit Unterstützung der bestehenden regionalen Organisationen im Kampf gegen die Gefahren des Drogenhandels zu helfen. Dazu zählen zum Beispiel die Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) und die Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS). Doch die NATO-Leiter ließen diesen Appell außer Acht. Deshalb müssen Russland und seine zentralasiatischen Alliierten selbständig eine Zusammenarbeit mit Afghanistan aufbauen, und zwar über die OVKS.

Das uneinheitliche Vorgehen bei der Hilfeleistung für Afghanistan taugt kaum als Beitrag zum Kampf gegen Al-Qaida- und Taliban-Terroristen sowie gegen die Drogenproduktion - die wichtigste Einkommensquelle des religiösen Extremismus, die der Entwicklung der afghanischen Wirtschaft im Wege steht.

Schon allein das Beispiel der südafghanischen Stadt Musa Kala (diese Stadt wurde von Taliban-Kämpfern ohne einen einzigen Schuss eingenommen, nachdem sich britische Soldaten zurückgezogen hatten) beweist: Der Kampf gegen Terrorismus und Extremismus in Afghanistan wird Jahrzehnte dauern. Wichtig ist, dass parallel zu diesem Kampf wirtschaftliche, finanzielle und soziale Verhältnisse verbessert werden und dass daran neben den USA und der NATO alle interessierten Staaten und Organisationen teilnehmen. Darunter auch Russland, SOZ und OVKS.

* Quelle: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 12. Februar 2007; http://de.rian.ru


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