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Die neue NATO-Strategie im Bundestag

Der Auswärtige Ausschuss befasste sich mit einem Papier, das noch niemandem vorlag – aber das machte nichts

Von Peter Strutynski

Parlamentarier gehören zu jener Spezies Mensch, die über alles reden können, selbst über etwas, was sie noch gar nicht kennen. Am 6. Oktober fand im Auswärtigen Ausschuss des Deutschen Bundestags eine öffentliche Anhörung mit geladenen Sachverständigen statt, in der es um das neue NATO-Konzept ging, das im November beim Gipfel in Lissabon verabschiedet werden soll. Nur lag niemandem dieses Konzept vor. Der Ausschussvorsitzende Ruprecht Polenz informierte im Laufe der Sitzung darüber, dass es wohl in absehbarer Zeit verfügbar sei und zumindest den Obleuten der Fraktionen ausgehändigt werde – die ihrerseits aber zur Verschwiegenheit über dessen Inhalt verpflichtet sind. Der Diskussion tat das aber keinen Abbruch. Denn einmal konnten die Abgeordneten auf ein Papier der von der NATO eingesetzten hochrangigen Expertengruppe unter der Leitung der früheren US-Außenministerin Madeleine Albright zurückgreifen: Group of Experts: GOE-Report, Mai 2010. In diesem Bericht dürften die wesentlichen Fragen und Positionen enthalten sein, die schließlich auch in den endgültigen Text der neuen NATO-Strategie Eingang finden werden. Zum anderen war eine Handvoll Sachverständiger aus renommierten Think Tanks und Friedensforschungsinstituten eingeladen, die den Abgeordneten kompetent Rede und Antwort standen. So gesehen war es kein verlorener Nachmittag, den sich die rund 20 Ausschussmitglieder und die zahlreichen Besucher/innen um die Ohren schlugen.

Der Ausschuss hatte den Sachverständigen einen umfangreichen Fragenkatalog vorgelegt, den diese in schriftlich eingereichten Papieren und ergänzenden mündlichen Statements beantworteten. Zur Sprache kamen dabei drei Themenkomplexe: 1. Die Bedrohungsanalyse und die sich daraus ergebenden Aufgaben und „Fähigkeitsanforderungen“. 2. Die Reform der NATO hinsichtlich Straffung und Effektivierung ihrer Organisation. 3. Das Verhältnis der NATO zu anderen internationalen Akteuren (z.B. UNO, EU, Russland) und die Frage der Legitimierung von Einsätzen durch die Vereinten Nationen.

Risiko ist nicht gleich Bedrohung

Was die Risiko- und Bedrohungsanalyse betrifft, waren sich die Sachverständigen weitgehend einig: Karl-Heinz Kamp, Leiter der Forschungsabteilung des NATO Defense College (NDC), Rom, Matthias Dembinski von der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK), Frankfurt a.M., Markus Kaim, Forschungsgruppe Sicherheitspolitik der regierungsnahen Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), Berlin, Hans J. Gießmann vom Berghof Forschungszentrum für konstruktive Konfliktbearbeitung, Berlin, und Michael Brzoska, Leiter des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik, Hamburg – sie alle bestätigten die Relevanz der auch von der NATO ins Feld geführten neuen Risiken, denen sich die Menschheit gegenüber sieht: knapper werdende Energiequellen, Klimawandel und Erderwärmung, internationaler Terrorismus, Hunger und Armut oder, wie es der Abgeordnete der LINKEN, Wolfgang Gehrcke formulierte, die „globale soziale Ungerechtigkeit“, Migration, zerfallende Staaten und zunehmende Gewalt. Auf das Problem der „Versicherheitlichung“ von allem und jedem, womit sich die NATO in den vergangenen 20 Jahren, nachdem ihr der eigentliche Gegner abhanden gekommen war, für tendenziell alle Probleme der Menschheit für zuständig erklärt hat, machte schon in seinem Eingangsstatement Hans J. Gießmann aufmerksam: Er legte Wert auf den Unterschied zwischen Risiko und Bedrohung. Nicht aus jedem Risiko muss eine reale Bedrohung werden; viele Risiken sind dazu da, präventiv gelöst zu werden, wozu sich das Militär überhaupt nicht eigne. Insofern dient eine breit angelegte Risikoanalyse der NATO eher zur Legitimierung ihrer eigenen Existenz denn zu Ableitung einer schlüssigen militärischen Strategie. Auch wenn sich diesen kritischen Schuh nicht alle Sachverständigen und schon lange nicht alle Ausschussmitglieder angezogen haben, so gab es doch eine seltene fraktionsübergreifende Übereinstimmung (ausgenommen die CDU/CSU-Vertreter), als die Probe aufs Exempel gemacht wurde. Im GOE-Report , dem sog. Albright-Papier, zählte die Gefahr von Cyber-Attacken zu den drei wichtigsten Bedrohungen, mit denen die NATO künftig konfrontiert sei. (Die zwei anderen „wahrscheinlichsten Bedrohungen“ sind danach Angriffe mit ballistischen Raketen und terroristische Angriffe.) Der Abgeordnete Rainer Stinner (FDP) bezweifelte die Zuständigkeit der NATO, wenn beispielsweise ein Hacker-Angriff auf die deutsche Automobilindustrie stattfände. Soll man da die Bundeswehr in Marsch setzen? Und wohin? Schließlich haben es solche Attacken aus dem Worldwide Web an sich, dass deren Absender nur schwer zu ermitteln ist und sie in der Regel auch keine Staats- oder Militärmacht repräsentieren. Das Computervirus „Stuxnet“, das vor kurzem allein im Iran 30.000 Rechner in Industrieanlagen infiziert hat, ist ein gutes Beispiel. „Es ist eine Kerneigenschaft von Computer-Netzwerkangriffen, dass die Identifikation des Urhebers eines kompetenten Angriffes fast unmöglich ist“, schreibt Frank Rieger in der FAZ-online (abgerufen am 7. 10.2010). Nun könnte die iranische Regierung auf die Idee kommen, der Virenangriff sei von den USA aus gestartet worden – einiges deutet laut Rieger tatsächlich darauf hin: Sollte sie deswegen mit militärischen Mitteln, und wenn ja, welchen, antworten?

Frithjof Schmidt von den GRÜNEN schloss sich diesen Bedenken an und bezweifelte etwa auch, dass die Energiesicherheit ein Problem der NATO sei; jedenfalls müssten die Zuständigkeiten zwischen NATO und UNO abgeklärt werden, denn Energiesicherheit sei schließlich ein globales Problem. Dem widersprach – als einziger in der Runde – der Abgeordnete Karl A. Lamers (CDU/CSU). Er wies auf den möglichen Fall einer Cyber-Attacke hin, in deren Folge lebenswichtige Infrastruktur eines Staates, z.B. das Energienetz oder die Wasserversorgung außer Funktion gesetzt würde. Da müsse dann doch die NATO nach Artikel 5 des NATO-Vertrags tätig werden, den Bündnisfall ausrufen und dem betroffenen Staat zu Hilfe eilen. Passend dazu stellte Paul Schäfer (LINKE) die Frage, ob es sich bei der „neuen“ Bedrohungsanalyse der NATO nicht doch einfach nur um eine neue Legitimationsstrategie handelt.

Die NATO, das Völkerrecht und die Friedensforschung

Große Übereinstimmung zwischen Sachverständigen und Abgeordneten wurde auch hergestellt hinsichtlich der Anbindung der NATO an internationales Recht. Insbesondere die SPD-Abgeordneten Rolf Mützenich und Edelgard Bulmahn forderten eine eindeutige Erklärung der NATO, sich bei ihren Einsatzentscheidungen an die Regeln des Völkerrechts zu halten. Das heißt, es müsse – außerhalb des selbstverständlichen Rechts auf kollektive Verteidigung im Fall eines äußeren Angriffs - ein Mandat der Vereinten Nationen vorliegen. Situationen wie seiner Zeit beim Kosovo-Krieg (das ist die beschönigende Umschreibung des völkerrechtswidrigen Angriffs der NATO auf Jugoslawien 1999) müssten in Zukunft vermieden werden. Herauszuhören war aber auch, dass die über das geltende Völkerrecht hinaus weisende „Responsibility to Protect“, wonach „humanitäre“ Militärinterventionen unter bestimmten Umständen gerechtfertigt seien, ebenfalls eine ausreichende „Rechts“grundlage für NATO-Einsätze bilden könnte. Damit wäre auch die grundsätzliche regionale Beschränkung der NATO auf den atlantischen Raum nach Artikel 6 des NATO-Vertrags hinfällig, was der Friedensforscher Michael Brzoska auch ausdrücklich befürwortete; die NATO dürfe sich UN-Mandaten „out of area“ nicht entziehen.

Befremdlich an der Anhörung war, dass die Sachverständigen aus den Friedensforschungsinstituten neben ihren bedenkenswerten Einwänden im Detail an der NATO insgesamt nichts zu kritisieren hatten. Dass das transatlantische Militärbündnis für Stabilität in der Welt und für ein gutes Verhältnis zwischen USA und Westeuropa gesorgt habe, dass es eine positive politische Rolle im Kalten Krieg gespielt habe und dass ihre Fortexistenz in der Zukunft über jeden Zweifel erhaben sei. Matthias Dembinski brachte es in seiner schriftlichen Stellungnahme auf eine glatte Formel, die so auch in jedem NATO-Grundsatzpapier stehen könnte: „Die NATO erfüllt drei wesentliche Kernaufgaben. Sie steht einer Re-Nationalisierung der Sicherheitspolitik entgegen, bildet eine transatlantische Klammer und stellt eine kostengünstige Versicherungspolice dar, ohne die ihre Mitglieder nervöser auf sicherheitspolitische Risikolagen reagieren würden. Die NATO erbringt diese Leistungen verlässlich und gilt deshalb als eines der im historischen Vergleich erfolgreichsten Verteidigungsbündnisse.“

Das musste man kopfschüttelnd und verwundert zur Kenntnis nehmen. Auch wenn das Wort vom Sicherheitsdilemma hin und wieder bemüht wurde: Es bezog sich nie darauf, dass die Existenz eines Militärpakts allein schon dadurch zur Entstehung des Sicherheitsdilemmas beiträgt, dass Staaten, die nicht Teil des Pakts sind, ausgeschlossen bleiben. Die militärische Organisation des eigenen Schutzes führt unweigerlich zum Bedrohungsempfinden der anderen Seite, die nun ihrerseits sich militärisch zu schützen versucht. So werden dann z.B. jegliche Rüstungsanstrengungen als Verteidigungs- oder „Nachrüstungs“-Maßnahmen dargestellt – und zwar auf beiden Seiten. Dies war gängige Praxis während der Blockkonfrontation und es ist blauäugig zu glauben, dieser Mechanismus sei außer Kraft gesetzt, wenn die NATO keinen wirklichen Gegner mehr hat. Die Tatsache, dass in den letzten drei Jahren die globalen Ausgaben für Rüstung und Militär neue welthistorische Rekordmarken erklommen haben, spricht eine deutliche Sprache. 65 Prozent der weltweiten Verteidigungsausgaben, 71 Prozent der weltweiten Rüstungsbeschaffungen und sogar 80 Prozent aller Ausgaben für militärische Forschung und Entwicklung entfielen im Jahr 2008 auf die NATO (Angaben nach Michael Brzoska). Und was das Fatale daran ist: Die Weichen stehen auch künftig eher auf weitere Aufrüstung statt auf Abrüstung.

Lessons to be learned

Die im November in Lissabon zu beschließende NATO-Strategie wird von zwei Lebenslügen ausgehen: Einmal wird davon ausgegangen, dass zu Beginn des zweiten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts die NATO eine Quelle der Stabilität in einer unsicheren und unvorhersehbaren Welt sei – das kennen wir nun schon von Dembinski. Zum anderen wird behauptet, seit 1999 habe sich die Welt entscheidend gewandelt („the world has changed significantly“, heißt es im Albright-Papier), was vor allem auf 9/11 zurückzuführen sei. Das Aufgabenspektrum der NATO beginne auch heute mit der zentralen Verpflichtung („core commitment“) zur „kollektiven Verteidigung“. Angesichts der geringen Wahrscheinlichkeit von äußeren konventionellen Angriffen auf das Bündnisgebiet ist diese Aussage wohl nur eine Reminiszenz an den NATO-Vertrag, der dem Bündnis genau diese (und keine andere) Aufgabe zuwies.

Wichtiger als diese Pflichtaufgabe sind die bereits erwähnten neuen, „unkonventionellen Bedrohungen“. Diese schließen terroristische Anschläge, die Weitergabe von atomaren und anderen Massenvernichtungswaffen bzw. deren Technologien, Cyber-Attacken, Zerstörung von Energieleitungen sowie die Behinderung maritimer Handelswege ein. Deren Abwehr müsse außerhalb der Grenzen des Bündnisgebiets („beyond the territory oft he Alliance“) beginnen. Um diesen Bedrohungen entgegen treten zu können, müsse die NATO „transformiert“ werden.

Zugleich habe die Allianz ihre Lektion in Afghanistan zu lernen, um ähnliche Konflikte in der Zukunft besser zu bestehen. Die „lessons to be learned“ sind folgende: Erforderlich seien der Zusammenhalt der NATO, ein einheitliches Kommando, effektive Planung und eine bessere Kommunikation in die Öffentlichkeit („public diplomacy“), ein geschickter umfassender zivil-militärischer Ansatz und die Fähigkeit, Truppen über einen längeren Zeitraum in „strategischer Distanz“ zu dislozieren.

Die Transformation der NATO berührt auch die Reichweite und die Entscheidungsprozesse des Bündnisses. Die Debatte um die „Globalisierung“ der NATO soll nun offenbar so gelöst werden, dass die NATO zwar global agiere – und sich hierfür wechselnder Partner bedient -, aber auf keinen Fall sich in eine globale Organisation verwandelt. („NATO is a regional, not a global organisation.“) Vor allem europäische NATO-Mitglieder hatten in der Albright-Kommission erfolgreich vor einer globalen Überdehnung der NATO gewarnt. Bevorzugte globale Partner – dies deutete sich schon in der Abschlusserklärung des Bukarester Gipfels 2008 an – sind Australien, Neuseeland, Südkorea und Japan. (In Bukarest war statt Südkorea Singapur genannt worden.) Diese vier Staaten zeichnet aus, dass sie besonders wertvolle Beiträge zum Afghanistan-Einsatz leisten. Karl-Heinz Kamp meinte in der Anhörung darin jedoch eher einen Beleg dafür zu sehen, dass die NATO auch eine Wertegemeinschaft sei: Die genannten Staaten fügten sich am besten in das westliche Wertesystem ein.

Neue NATO - alter Vertrag

Eine Vereinfachung der Entscheidungsprozesse bis hin zur Aufgabe des Konsensprinzips war bereits in diversen Beiträgen zum 60. Geburtstag der NATO diskutiert worden. Zbigniew Brzezinski verlangte z.B. in einem viel beachteten Artikel in “Foreign Affairs” (An Agenda for NATO. Towards a Global Security Web. Foreign Affairs, September/October 2009), dass die NATO mit ihrer neuen Strategie sich vom Einstimmigkeitsprinzip verabschieden solle. Es könne nicht sein, dass kleine Länder wie Luxemburg Entscheidungen der übrigen 27 Staaten blockieren können. Auch müsse darüber nachgedacht werden, die Bündnisverpflichtung nach Art. 5 – sie beinhaltet bekanntlich die Freiheit der Mitgliedstaaten, über ihren Beistandsbeitrag selbst zu entscheiden – verbindlicher zu fassen. Das Albright-Papier nähert sich diesem Standpunkt vorsichtig an, indem künftig ein abgestuftes Konsensprinzip gelten soll. Zur „Streamlining“ des Entscheidungsprozesses wird vorgeschlagen, dass 1. Eine Abkehr vom Konsensprinzip nur vom NATO-Rat beschlossen werden könne (von einer Änderung des Washingtoner Vertrags ist keine Rede!), dass 2. An der Konsensregel festzuhalten sei in Fragen der Art.-5-Einsätze, des Budgets, neuer Einsätze („missions“) und der Aufnahme neuer Mitglieder, dass 3. Themen von weniger vitalem Interesse für die Mitglieder identifiziert werden, bei denen kein Konsensprinzip angewandt werden muss, und dass 4. Ein Prinzip eingeführt wird, wonach die Umsetzung von Konsensentscheidungen im Nachhinein nicht dadurch verzögert wird, dass sie auf niedrigerer Ebene (sind da auch Einzelstaaten gemeint?) erneut besprochen werden.

Auf solche Art wird also die vor geraumer Zeit eingeleitete „Transformation“ der NATO mit Nachdruck fortgesetzt, ohne den NATO-Vertrag ändern zu müssen. Da sich an der Aufgabenstellung des Bündnisses nichts Wesentliches ändern soll, da die Einsatzmöglichkeiten „out of area“ und ohne UN-Mandat grundsätzlich möglich sein sollen (unter Bruch des NATO-Vertrags), wird die neue NATO-Strategie keine Überraschung bieten. Darin waren sich wieder alle Experten und Abgeordneten in der Anhörung des Auswärtigen Ausschusses einig. Den meisten von ihnen bereitet die neue/alte Ausrichtung der NATO auch kein Kopfzerbrechen – mit dem Weltfrieden wird sie aber nicht verträglich sein.


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