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Realsatire in Lissabon

NATO-Abzugsversprechen aus Afghanistan ist eine Mogelpackung. Neues strategisches Konzept beschreibt Möglichkeit weiterer Militärinterventionen

Von Rainer Rupp *

Mit Meldungen, wonach die NATO-Staaten nicht nur eine »neue Bündnisstrategie für das kommende Jahrzehnt« beschlossen, sondern sich auch »auf einen Afghanistan-Abzugsplan bis 2014« geeignet hätten, feierten die bürgerlichen Medien am Wochenende den Gipfel des hochgerüsteten Angriffspakts in der portugiesischen Hauptstadt Lissabon. Bei genauerem Hinsehen stellt man fest, daß auch diesmal die medialen Hilfstruppen der Regierenden lediglich die übliche Augenwischerei betreiben. Am deutlichsten wird diese gezielte Desinformation bei den Berichten über einen angeblich beschlossen Abzug der NATO aus Afghanistan. Auch nach 2014 »werden wir in einer unterstützenden Rolle« in Afghanistan bleiben, bekräftigte NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen auf der Pressekonferenz am Ende der Beratungen in der portugiesischen Metropole. Um in Zukunft von einer Verlängerung des UN-Mandats für den fast zehnjährigen Krieg unabhängig zu sein, hatte der NATO-Chef in Lissabon mit der US-Marionette Hamid Karsai in der Rolle des afghanischen Präsidenten einen langfristigen »Sicherheitsvertrag« unterzeichnet.

In ihrer Sonntagausgabe (21. Nov.) zitierte die New York Times namentlich nicht genannte NATO-Offizielle am Rande des Gipfels, wonach »wahrscheinlich Zehntausende« Soldaten auch nach 2014 in einer »unterstützenden Rolle« für die afghanische Armee am Hindukusch bleiben werden. Zugleich machten sie klar, daß 2014 kein in Stein gemeißelter Termin für das Ende der NATO-Kampfeinsätze in Afghanistan sei. Das hinge davon ab, wie viele »Fortschritte das Land bis dahin gemacht« habe, also ob es den USA und der NATO bis dahin gelungen ist, die Widerstandsbewegungen zu »befrieden« bzw. zu vernichten. Diese Linie wurde zum Gipfelabschluß im übrigen sowohl vom NATO-Chef wie vom US-Präsidenten vor der Presse bekräftigt: Während Rasmussen NATO-Kampfeinsätze über 2014 hinaus von der zukünftigen »Sicherheitssituation« abhängig macht, spricht Barack Obama lediglich von einer verringerten US-Militärpräsenz nach 2014.

»2014 ist ein Ziel und keine Garantie«, unterstrich auch Mark Sedwill, der zivile Abgesandte der NATO in Kabul. Und ein hochrangiger Vertreter der US-Regierung warnte in der New York Times: »Lissabon bedeutet nicht das Ende der Kampfhandlungen (in Afghanistan). Tatsächlich stehen noch viele harte Kämpfe bevor.« Warum aber verbreiten dann die Konzernmedien europaweit die Mär vom angeblich in Lissabon beschlossen Abzug? Auch darüber geben nicht genannte »europäische Diplomaten« am Rande des Gipfels Aufschluß: Durch die neuerliche Betonung des Wiederaufbaus der afghanischen Polizei und des Militärs statt der NATO-Kampfhandlungen hofften sie, so die New York Times, »gegenüber der eigenen (europäischen) Öffentlichkeit mehr Zeit zu gewinnen« – für die Fortführung des Krieges. Die Parallelen zur Mogelpackung des angeblichen US-Abzugs aus Irak sind offensichtlich. Von Amerika lernen, heißt, besser lügen lernen.

Auch das in Lissabon verabschiedete »Neue Strategische Konzept« der NATO ist eine Mogelpackung. So heißt es in der Präambel: »Während die Welt sich verändert, bleibt der grundlegende Auftrag der NATO unverändert: sicherzustellen, daß das Bündnis eine unvergleichliche Gemeinschaft der Freiheit, des Friedens, der Sicherheit und der gemeinsamen Werte bleibt«. Eine Realsatire, die nur noch durch die erklärte Strategie der NATO übertroffen wird, mit Atomwaffen für eine atomwaffenfreie Welt zu kämpfen.

Seltsamerweise geht die Satire in den Berichten der bürgerlichen Medien vollkommen verloren. Sie versuchen, die hahnebüchenen Passagen des neuen NATO-Konzepts der Bevölkerung als bare Münze zu verkaufen. Dabei wird auch zurechtgesponnen, was die Bevölkerung gern hören möchte, wie z. B. im Zusammenhang mit dem derzeit vielzitierten Punkt 21 des neuen strategischen Konzepts. Dort ist die Rede von den »Lektionen, welche die NATO aus ihren Operationen insbesondere in Afghanistan und auf dem westlichen Balkan« gelernt hat. Daraus haben die Medien die Meldung gemacht, daß die NATO in Zukunft für neue militärische Abenteuer fern der Heimat weniger bereit sei. Das Gegenteil steht jedoch im Strategiepapier. Für weitere Militärinterventionen zeigt sich die NATO wiederholt bereit, nur will man in Zukunft besser planen und größeren Wert legen auf die Integration ziviler Hilfsmaßnahmen zur Unterstützung der militärischen Ziele. So heißt es in Punkt 21: »Die Lektionen, welche die NATO aus ihren Operationen insbesondere in Afghanistan und auf dem westlichen Balkan gelernt hat, machen deutlich, daß eine umfassende politische, zivile und militärische Herangehensweise für ein effektives Krisenmanagement notwendig sind.« Daher werde die Allianz in Zukunft »aktiv mit anderen internationalen Organisationen« zusammenarbeiten, weshalb die NATO insbesondere mit der EU eine strategische Partnerschaft anstrebt. Sich selbst preist der Militärpakt in Punkt 23 als besonders kompetent an, falls die Konfliktprävention versagt hat. In diesem Fall ist »die NATO dazu bereit und fähig«, laufende Kampfhandlungen »mit robusten militärischen Kräften« zu managen. »Die NATO-geführten Operationen haben den unentbehrlichen Beitrag der Allianz zu den internationalen Bemühungen des Konfliktmanagements bewiesen.« Realsatire ohne Ende.

* Aus: junge Welt, 22. November 2010


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