Zehn Jahre blieb die serbische Kleinstadt Varvarin von den Balkankriegen verschont. Es gab auch nichts, was an dieser Stadt für irgendeine Kriegspartei von strategischem Interesse gewesen wäre. Varvarin liegt ca. 200 km südlich von Belgrad und ist etwa 200 km vom Kosovo entfernt. Die Stadt hat 4.000 Einwohner und lebt von der Landwirtschaft und dem regionalen Kleinhandwerk und -handel. In der Gegend gibt es weder nennenswerte Industriebetriebe noch irgendwelche militärischen Einrichtungen. Die Stadt wird auch von keinen Truppentransporten tangiert. Der kleine Fluss Morava und die Straßen durch Varvarin haben keine Bedeutung für den Fernverkehr.
SPD und Bündnis 90/Die Grünen stellten vor zwei Jahren noch keine sechs Monate die neue Bundesregierung, da waren deutsche Soldaten das dritte Mal im 20. Jahrhundert an einem Angriffskrieg gegen Jugoslawien beteiligt. Am Abend des 24. März 1999 erklärte Bundeskanzler Gerhard Schröder im deutschen Fernsehen, »wir führen keinen Krieg gegen das serbische Volk«, da flogen Kampfjets der NATO gegen eben dieses wieder ihre ersten Angriffe. Während Verteidigungsminister Rudolf Scharping dieser Tage die Taschenbuchausgabe seines Kriegstagebuches »Wir dürfen nicht wegsehen« bewirbt, bereitet in Berlin eine Projektgruppe unter Federführung von Rechtsanwalt Ulrich Dost und Professor Bernhard Graefrath eine Zivilklage gegen die Bundesregierung vor. Die Juristen wollen nun jugoslawischen Bürgern, die persönlich oder mit Hab und Gut Opfer der völkerrechtswidrigen NATO-Luftangriffe geworden sind, bei Schadeneersatzklagen in Deutschland helfen.
Dost meint, daß jede Möglichkeit des Völkerrechts genutzt werden sollte, nicht nur, um für die Opfer der NATO Wiedergutmachung zu erreichen, sondern auch um internationales Recht, das beim Angriff auf Jugoslawien mit Füßen getreten wurde, wieder breiter im Bewußtsein zu verankern. Dies sei auch ein Stück Prävention, bei künftigen Konflikten die Hemmschwelle anzuheben und dadurch Militäreinsätze eventuell sogar zu begrenzen, erklärte der Berliner Rechtsanwalt gegenüber junge Welt.
Neben vielen anderen war ein Ziel des 78tägigen Bombenkrieges gegen Jugoslawien auch Vavarin. Das serbische Städtchen mit etwa 4 000 Einwohnern liegt 200 Kilometer südlich von Belgrad und ebenso weit entfernt von der Grenze zum Kosovo. Am 30. Mai 1999, an dem Pfingstsonntag war Markttag in Vavarin, hatten Augenzeugenberichten zufolge drei Kampfflugzeuge der NATO kurz nach 13 Uhr die Brücke über den Fluß Morava ins Visier genommen. Zum Zeitpunkt des Angriffs befanden sich auf der etwa 200 Meter langen Verbindung, die den Zugang zur Stadt bildet, drei Pkw und viele Fußgänger und Radfahrer. Die meisten Einwohner von Vavarin arbeiten, wie die Menschen in den umliegenden Dörfern, in der Landwirtschaft. Weit und breit gibt es keine nennenswerten Industriebetriebe, geschweige denn militärische Einrichtungen. Auch gab es während des Krieges vor zwei Jahren keine militärischen Transporte durch die Stadt im Herzen Serbiens.
Die NATO-Jets ließen den Menschen auf der Morava- Brücke keine Chance. Nachdem eine Rakete den Mittelpfeiler getroffen hatte, stürzte die Brücke mit den Menschen und Fahrzeugen in den Fluß. Obwohl auf dem danebenliegenden Markt Panik ausbrach, kamen sofort einige, um die Opfer zu bergen.
Die Kampfflugzeuge hatten nach dem Raketenabschuß abgedreht, die Rettungsarbeiten gerade begonnen, da flog wenige Minuten nach dem ersten Angriff ein NATO-Bomber von der anderen Seite an und feuerte zwei weitere Raketen auf die bereits zerstörte Brücke. Zehn Menschen kamen bei diesen zwei Attacken ums Leben, 16 weitere wurden schwer verletzt.
»Mit dem Luftangriff auf Vavarin haben sich die NATO- Staaten eines Kriegsverbrechens schuldig gemacht.« Sie haben, führt Rechtsanwalt Dost gegenüber junge Welt weiter aus, gegen die Regeln des Kriegsrechts verstoßen, die in der Haager Landkriegsordnung, der Genfer Konvention und in den Zusatzprotokollen zu dem Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer internationaler Konflikte enthalten und völkerrechtlich bindend sind. »Für mich steht fest, daß die NATO-Staaten in Vavarin die Zivilbevölkerung zum Ziel ihres Angriffs gemacht haben, um Schrecken und Angst zu verbreiten.« Auch die Zerstörung der Brücke selbst stelle einen Rechtsbruch dar. Das Kriegsrecht gebietet, Angriffe streng auf militärische Ziele zu beschränken und definiert genau, welche Ziele als militärische gelten dürfen.
Immer mehr verdeutlicht sich: Die Mehrzahl der Luftangriffe der NATO war gezielt auf die Zerstörung der Infrastruktur Jugoslawiens sowie gegen die Zivilbevölkerung des Balkanlandes gerichtet. Der Verweis in Brüssel und bei der Hardthöhe auf unvermeidliche »Kollateralschäden« in einem ansonsten erfolgreichen Luftkrieg gegen die jugoslawische Armee war eine der großen Lügen im NATO- Krieg. »Die Brücke von Vavarin ist dafür ein unwiderliegbares Bespiel. Sie war kein militärisches Ziel«, so Dost gegenüber junge Welt. Der Berliner Rechtsanwalt will in Kooperation mit serbischen Kanzleien die Opfer von Vavarin bei ihren Schadenersatzklagen gegen die Bundesregierung in Berlin vertreten. Die jugoslawischen Behörden haben bereits Zeugen vernommen, Dost selbst war vor einigen Wochen zur Befragung in Vavarin. Im April will er noch einmal in das Städtchen fahren und mit den überlebenden Bombenopfern sowie den Angehörigen der Getöteten sprechen.
Grundlage zur Durchsetzung der Schadensersatzansprüche ist das IV. Haager Abkommen von 1907, besser bekannt als Haager Landkriegsordnung. Sie wurde im 1. Zusatzprotokoll des Genfer Abkommens vom 8.6.1977, vor allem in Artikel 91, ausdrücklich und völkerrechtlich verbindlich bekräftigt. Die BRD hat dies unterzeichnet und soll nun in die Pflicht genommen werden.
Rüdiger Göbel