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NATO-Opfer klagen auf Schadenersatz

Zehn Zivilisten starben in Varvarin bei einem Luftangriff

Zehn Jahre blieb die serbische Kleinstadt Varvarin von den Balkankriegen verschont. Es gab auch nichts, was an dieser Stadt für irgendeine Kriegspartei von strategischem Interesse gewesen wäre. Varvarin liegt ca. 200 km südlich von Belgrad und ist etwa 200 km vom Kosovo entfernt. Die Stadt hat 4.000 Einwohner und lebt von der Landwirtschaft und dem regionalen Kleinhandwerk und -handel. In der Gegend gibt es weder nennenswerte Industriebetriebe noch irgendwelche militärischen Einrichtungen. Die Stadt wird auch von keinen Truppentransporten tangiert. Der kleine Fluss Morava und die Straßen durch Varvarin haben keine Bedeutung für den Fernverkehr.

Am Pfingstsonntag, den 30. Mai 1999 - es herrschte Marktbetrieb in der Stadt - flog die NATO ohne jede Vorwarnung am hellichten Tag einen Angriff auf die einzige Brücke, die die Morava überquert. Zum Zeitpunkt des Raketenbeschusses befanden sich drei Pkw sowie zahlreiche Fußgänger und Radfahrer auf der Brücke. Teils kamen sie vom Markt oder gingen hin, teils machten sie einfach einen Spaziergang bei dem sonnigen Wetter. Eine Rakete traf den Mittelpfeiler der 200 Meter langen Brücke, die mit den auf ihr befindlichen Menschen und Fahrzeugen in den Fluss stürzte. Unter den Menschen auf dem Markt, der nur wenige hundert Meter vom Geschehen entfernt liegt, brach Panik aus. Passanten begannen sofort nach dem Angriff, Menschen aus dem Wasser zu bergen und Verletzte zu versorgen.

Völlig unerwartet kehrte nach ca. drei bis fünf Minuten eine Kampfmaschine zurück und feuerte zwei weitere Raketen auf die schon zerstörte Brücke ab. Es gab abermals Tote und Verletzte. Insgesamt starben bei den Angriffen zehn Menschen, 16 Personen wurden schwer verletzt.

Ein Opfer des Angriffs schildert den Vorgang in seiner Zeugenaussage so:
Am Sonntag war ich zu der Zeit, als die Bombe explodierte, mitten in der Stadt. Wie andere Bürger bin auch ich zur Brücke gelaufen. Als ich näher kam (etwa 30 Meter), sah ich, wie Menschen um Hilfe schrien. Ich und noch ein paar von uns begannen einen der Menschen aus dem Wasser zu ziehen. Als ich ihn etwa zwei Meter herausgezogen hatte, knallte es zum zweiten Mal. Ich ließ den anderen, so gebeugt wie ich war, fallen und fiel selber. Im rechten Bein traf mich ein Granatsplitter. Als ich aufstand, merkte ich zunächst nicht, dass meine rechte Hand abgerissen war. Es vergingen etwa fünf Minuten, niemand hatte (nach dem zweiten Angriff) zunächst den Mut, sich uns zu nähern. Ich schaute um mich und sah viele Menschen liegen. Einige riefen um Hilfe, andere waren schon tot..."

Ulrich Dost, der schon beim inoffiziellen Tribunal über den NATO-Krieg im Juni 2000 in Berlin die Anklageschrift gegen die NATO verfasst hatte, bereitet nun eine Klage gegen die Bundesregierung und die anderen NATO-Staaten vor. Mit dem Luftangriff auf Varvarin habe sich die NATO eines Kriegsverbrechens schuldig gemacht. Die NATO verstieß gegen die Regeln des Kriegsrechts, die in der Haager Landkriegsordnung, der Genfer Konvention und in den Zusatzprotokollen zu dem Genfer Abkommen von 1949 enthalten sind.

Die Vorbereitung einer solchen Klage ist aufwendig und kostspielig. Damit es überhapt zu einem Prozess kommen kann, muss noch sehr viel recherchiert werden, müssen Zeugen vernommen und Beweismaterial sicher gestellt werden. Die Opfer und die Hinterbliebenen, in deren Interesse der Prozess angestrebt wird, sind auf die Solidarität vieler Menschen angewiesen. Dafür hat sich ein Projektrat gebildet, der Öffentlichkeitsarbeit organisiert und ein Spendenkonto eingerichtet hat.
Kontoinhaber: Vereinigung Demokratischer Juristen e.V.
Kt.Nr.: 33 52 20 14
Bank: Berliner Sparkasse
BLZ: 100 500 00
Stichwort: "Schadenersatz Nato-Kriegsopfer"


Nachfolgend ein Artikel zur Prozessvorbereitung aus der jungen welt vom 26. März 2001

Kriegsopfer fordern Schadensersatz

Berliner Anwalt will Opfer im serbischen Vavarin bei Zivilklage gegen Bundesregierung unterstützen

SPD und Bündnis 90/Die Grünen stellten vor zwei Jahren noch keine sechs Monate die neue Bundesregierung, da waren deutsche Soldaten das dritte Mal im 20. Jahrhundert an einem Angriffskrieg gegen Jugoslawien beteiligt. Am Abend des 24. März 1999 erklärte Bundeskanzler Gerhard Schröder im deutschen Fernsehen, »wir führen keinen Krieg gegen das serbische Volk«, da flogen Kampfjets der NATO gegen eben dieses wieder ihre ersten Angriffe. Während Verteidigungsminister Rudolf Scharping dieser Tage die Taschenbuchausgabe seines Kriegstagebuches »Wir dürfen nicht wegsehen« bewirbt, bereitet in Berlin eine Projektgruppe unter Federführung von Rechtsanwalt Ulrich Dost und Professor Bernhard Graefrath eine Zivilklage gegen die Bundesregierung vor. Die Juristen wollen nun jugoslawischen Bürgern, die persönlich oder mit Hab und Gut Opfer der völkerrechtswidrigen NATO-Luftangriffe geworden sind, bei Schadeneersatzklagen in Deutschland helfen.

Dost meint, daß jede Möglichkeit des Völkerrechts genutzt werden sollte, nicht nur, um für die Opfer der NATO Wiedergutmachung zu erreichen, sondern auch um internationales Recht, das beim Angriff auf Jugoslawien mit Füßen getreten wurde, wieder breiter im Bewußtsein zu verankern. Dies sei auch ein Stück Prävention, bei künftigen Konflikten die Hemmschwelle anzuheben und dadurch Militäreinsätze eventuell sogar zu begrenzen, erklärte der Berliner Rechtsanwalt gegenüber junge Welt.

Neben vielen anderen war ein Ziel des 78tägigen Bombenkrieges gegen Jugoslawien auch Vavarin. Das serbische Städtchen mit etwa 4 000 Einwohnern liegt 200 Kilometer südlich von Belgrad und ebenso weit entfernt von der Grenze zum Kosovo. Am 30. Mai 1999, an dem Pfingstsonntag war Markttag in Vavarin, hatten Augenzeugenberichten zufolge drei Kampfflugzeuge der NATO kurz nach 13 Uhr die Brücke über den Fluß Morava ins Visier genommen. Zum Zeitpunkt des Angriffs befanden sich auf der etwa 200 Meter langen Verbindung, die den Zugang zur Stadt bildet, drei Pkw und viele Fußgänger und Radfahrer. Die meisten Einwohner von Vavarin arbeiten, wie die Menschen in den umliegenden Dörfern, in der Landwirtschaft. Weit und breit gibt es keine nennenswerten Industriebetriebe, geschweige denn militärische Einrichtungen. Auch gab es während des Krieges vor zwei Jahren keine militärischen Transporte durch die Stadt im Herzen Serbiens.

Die NATO-Jets ließen den Menschen auf der Morava- Brücke keine Chance. Nachdem eine Rakete den Mittelpfeiler getroffen hatte, stürzte die Brücke mit den Menschen und Fahrzeugen in den Fluß. Obwohl auf dem danebenliegenden Markt Panik ausbrach, kamen sofort einige, um die Opfer zu bergen.

Die Kampfflugzeuge hatten nach dem Raketenabschuß abgedreht, die Rettungsarbeiten gerade begonnen, da flog wenige Minuten nach dem ersten Angriff ein NATO-Bomber von der anderen Seite an und feuerte zwei weitere Raketen auf die bereits zerstörte Brücke. Zehn Menschen kamen bei diesen zwei Attacken ums Leben, 16 weitere wurden schwer verletzt.

»Mit dem Luftangriff auf Vavarin haben sich die NATO- Staaten eines Kriegsverbrechens schuldig gemacht.« Sie haben, führt Rechtsanwalt Dost gegenüber junge Welt weiter aus, gegen die Regeln des Kriegsrechts verstoßen, die in der Haager Landkriegsordnung, der Genfer Konvention und in den Zusatzprotokollen zu dem Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer internationaler Konflikte enthalten und völkerrechtlich bindend sind. »Für mich steht fest, daß die NATO-Staaten in Vavarin die Zivilbevölkerung zum Ziel ihres Angriffs gemacht haben, um Schrecken und Angst zu verbreiten.« Auch die Zerstörung der Brücke selbst stelle einen Rechtsbruch dar. Das Kriegsrecht gebietet, Angriffe streng auf militärische Ziele zu beschränken und definiert genau, welche Ziele als militärische gelten dürfen.

Immer mehr verdeutlicht sich: Die Mehrzahl der Luftangriffe der NATO war gezielt auf die Zerstörung der Infrastruktur Jugoslawiens sowie gegen die Zivilbevölkerung des Balkanlandes gerichtet. Der Verweis in Brüssel und bei der Hardthöhe auf unvermeidliche »Kollateralschäden« in einem ansonsten erfolgreichen Luftkrieg gegen die jugoslawische Armee war eine der großen Lügen im NATO- Krieg. »Die Brücke von Vavarin ist dafür ein unwiderliegbares Bespiel. Sie war kein militärisches Ziel«, so Dost gegenüber junge Welt. Der Berliner Rechtsanwalt will in Kooperation mit serbischen Kanzleien die Opfer von Vavarin bei ihren Schadenersatzklagen gegen die Bundesregierung in Berlin vertreten. Die jugoslawischen Behörden haben bereits Zeugen vernommen, Dost selbst war vor einigen Wochen zur Befragung in Vavarin. Im April will er noch einmal in das Städtchen fahren und mit den überlebenden Bombenopfern sowie den Angehörigen der Getöteten sprechen.

Grundlage zur Durchsetzung der Schadensersatzansprüche ist das IV. Haager Abkommen von 1907, besser bekannt als Haager Landkriegsordnung. Sie wurde im 1. Zusatzprotokoll des Genfer Abkommens vom 8.6.1977, vor allem in Artikel 91, ausdrücklich und völkerrechtlich verbindlich bekräftigt. Die BRD hat dies unterzeichnet und soll nun in die Pflicht genommen werden.

Rüdiger Göbel


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