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Milosevic vor Gericht

oder die Zukunft der Internationalen Gerichtsbarkeit

Von Norman Paech

Heute ist der Prozess vor dem Haager Tribunal gegen den ehemaligen Jugoslawischen Staatspräsidenten Milosevic eröffnet worden. Ohne Zweifel ein für das Gericht ebenso historisches Datum wie für den Beschuldigten selbst. Denn zum ersten Mal seit Nürnberg und Tokio wird sich die internationale Gerichtsbarkeit - die immer noch in den Geburtswehen ihrer Entstehung ist - mit der politischen Verantwortung für Kriegsverbrechen auseinander zu setzen haben. Vor ihr steht ein Mann, der zwar in den Medien bereits schuldig gesprochen ist und ähnlich wie Bin Laden keine Chance hat, dem Zirkel der Vorverurteilung zu entkommen. Aber ein Gerichtsverfahren ist kein Journalistenstammtisch und das Haager Tribunal ist (noch) kein Militärtribunal ŕ la Ashcroft, selbst wenn die US-Administration es lieber so sähe und die Präsentation maskierter Zeugen möglich sein soll. Der Ablauf des Verfahrens wird entscheidende Bedeutung für die Zukunft einer internationalen Gerichtsbarkeit haben, die noch mit etlichen Geburtsfehlern beschwert ist.

Milosevic hält seinen Vorwurf der Illegalität des Tribunals aufrecht, der inzwischen auch von den vom Gericht bestellten aber vom Beschuldigten abgelehnten Prozessvertretern, den sog. "amici curiae", übernommen worden ist. Der Einwand zielt auf die Einrichtung des Gerichts durch den Sicherheitsrat auf der Grundlage des VII. Kapitels der UNO-Charta. Dieses ermächtigt ihn nur zum Erlass von Sanktionen und Zwangsmaßnahmen zur Sicherung des Friedens, nicht aber zur Errichtung eines Strafgerichts. Ein Gericht als Sanktionsinstrument verfestigt allzu sehr den Geruch der Parteilichkeit eines NATO-Organs, in den es nicht nur der ehemalige Propagandist Jamie Shea gebracht hat. Es wird weitgehend von den NATO-Staaten finanziert, da nur 8,6 % seines Budgets von der UNO gedeckt werden. Welcher Bürger aber würde sich schon gerne vor einem Gericht verantworten, welches vom Gegner ausgehalten wird. Der korrekte Weg geht über die vertragliche Übereinkunft durch die Staaten mit einer neutralen Finanzierung, wie er beim Weltstrafgerichtshof und den beiden Tribunalen für Kambodscha und Sierra Leone beschritten worden ist. Die "amici curiae" haben deshalb vorgeschlagen, die Legitimität des Gerichts durch ein Gutachten des Internationalen Gerichtshofes klären zu lassen. Eine vernünftige Lösung, die allerdings die delikate und ungeklärte Frage aufwirft, ob der Internationale Gerichtshof in der Hierarchie der UNO über dem Sicherheitsrat steht und seine Entscheidungen überprüfen kann.

Die unerwünschten Prozessvertreter haben einen weiteren Einwand von Milosevic übernommen, der seine Überstellung durch die serbischen Behörden entgegen der Entscheidung des jugoslawischen Verfassungsgerichts und unter Bruch der jugoslawischen Verfassung als Verfahrenshindernis rügt. Sehen wir darüber hinweg, dass die USA genau das seinerzeit von Jugoslawien verlangten, was sie für sich kategorisch ausschließen: die Überstellung eines ihrer Bürger an ein internationales Gericht. Und stören wir uns nicht an der allgemein üblich gewordenen politischen Erpressung mittels Scheckbuchs, mit dem die Auslieferung erzwungen wurde. Vergessen wir allerdings nicht den allgemeinen Beifall, mit dem ein blanker Verfassungsbruch, die kaltschnäuzige Beseitigung einer Verfassungsinstitution durch Djindjic, den Zögling der Friedrich-Ebert-Stiftung, gerade von denen begrüßt wurde, die ihrem Protektorat Demokratie und Rechtsstaatlichkeit beibringen wollen. Dennoch, dieser rechtsstaatliche Fehlstart in eine demokratische Zukunft reicht nicht aus, daraus ähnlich wie bei der Entführung Öcalans aus Kenia in die Türkei überzeugend ein absolutes Verfahrenshindernis zu konstruieren.

Es sind eher die Begleitumstände der von forschen Tönen der Anklage begleiteten Prozessvorbereitung, die dem Verfahren sein "Geschmäckle" geben. Während Frau Del Ponte keine Zurückhaltung in der Bedienung der Medien kennt, ist es dem Beschuldigten verwehrt, Kontakt zu Medien aufzunehmen und Interviews zu geben. Die Fairnis eines Prozesses bemisst sich auch nach der "Waffengleichheit" der Kontrahenten. Die Inhaftierung und Isolation des Beschuldigten ist angesichts seiner Versicherung, nicht zu fliehen, und der Möglichkeit, Kaution zu stellen, kaum mehr begründbar. Sie dient weniger der Tataufklärung denn der Stigmatisierung des Beschuldigten. Dass es auch anders geht, beweist die Errichtung eines Tribunals in Kambodscha zur Sühne des Völkermords unter Pol Pot. Hier hat sich die UNO nicht nur bereit erklärt, das Tribunal in Kambodscha selbst mit einer Mehrheit von kambodschanischen Richtern tagen zu lassen. Sie hat auch die Amnestierung der vermutlich Hauptverantwortlichen der Verbrechen, Kieu Samphan und Ieng Sary, durch die kambodschanische Regierung akzeptiert.

Die Nagelprobe für das Gericht wird sich allerdings bei der Beweiskette zwischen Anklage und dem Nachweis direkter strafrechtlicher Verantwortlichkeit des ehemaligen Staatsoberhauptes ergeben. Es muss nunmehr eine lückenlose Beweisführung zwischen der Tat und ihrer Anordnung bzw. ihrer bewussten Billigung gefunden werden. Die Anklage umfasst jetzt den Vorwurf der Kriegsverbrechen unter Verstoß gegen die Genfer Konventionen von 1994 gemäß Art. 2 und 3 des Tribunalstatuts wie Mord, Folter, Deportation und Zerstörung oder Entleerung von Dörfern, ohne auf das Argument von Milosevic einzugehen, in legitimer Selbstverteidigung gegen einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg der NATO gehandelt zu haben. Hinzu kommt der Vorwurf des Verbrechens gegen die Menschheit nach Art. 5 wie Verfolgung aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen, Liquidierungen etc. Die Anklage ist jüngst um die Vertreibung der Kroaten und nichtserbischen Bevölkerung vom Territorium Kroatiens in der Zeit vom 1. August 1991 bis Juni 1992 erweitert worden - dabei hat bestimmt eine Rolle gespielt, dass sich Milosevic gegen diese Anklage nicht mit dem Argument der Selbstverteidigung wehren kann.

Die zweiundsechzig Seiten der Anklage stellen zwei große Herausforderungen an das Gericht, die Frau Del Ponte selbst nicht einlösen konnte: Zum einen den Nachweis, d.h. die Aufklärung über so manch zweifelhaftes "Verbrechen" wie u. a. das von Racak, welches umstandslos als serbischer Massenmord dargestellt wird. Zum anderen die zweifelsfreie Zurechnung nachgewiesener Verbrechen als eigene Taten des damaligen Staatspräsidenten Milosevic. Zu diesem Punkt fehlen bisher jegliche Beweisangaben, die Verantwortlichkeit wird in der Anklage schlicht unterstellt. Der Londoner Independent sprach deshalb kürzlich davon, dass der Milosevic-Prozess vor dem Zusammenbruch stehe.

Für das Gericht geht es in den folgenden Monaten darum, sich aus dem ihm übergestülpten Netz von Parteilichkeit, Vorverurteilung und politischem Druck zu befreien, um den seit Nürnberg entwickelten Prinzipien einer juristisch einwandfreien Rechtsfindung gerecht zu werden. Sollte ihm das gelingen, bleibt eine letzte Hürde auf dem Weg zu einer fairen internationalen Strafgerichtsbarkeit zu nehmen, die diesen Namen verdient: die Ermittlung und gerichtliche Untersuchung der Kriegführung der NATO in Jugoslawien. Doch dafür müsste es sich neu konstituieren ohne die alten Geburtsfehler.


Im Folgenden noch ein Interview, das die Zeitung "Neues Deutschland" mit dem Völkerrechtler Norman Paech führte.

Vorwürfe gegen die NATO sind fürs Haager Tribunal »nicht relevant«

ND: Wieso hat das Haager Tribunal keine Ermittlungen gegen NATO-Militärs oder -Politiker eingeleitet, obwohl es zahlreiche Hinweise gibt, dass diese gegen Völker- und Kriegsrecht verstoßen haben?

Norman Paech: Die Anklagebehörde in Den Haag hat sich durchaus mit den Vorwürfen gegen die NATO beschäftigt. Es hat dort im Jahr 2000 eine Kommission gegeben, die sich der Vorwürfe angenommen und ein 40-seitiges Papier ausgearbeitet hat. Sie kam aber zu dem Schluss, dass alle Vorwürfe gegen die NATO als nicht relevant und durchschlagend einzustufen seien. Das unterstützte die Weigerung von Chefanklägerin Carla del Ponte, Recherchen zur NATO-Kriegsführung anzustellen.

ND: Dabei gäbe es durchaus einiges zu untersuchen.

Wir müssen vielleicht folgende Punkte unterscheiden. Ein erster Punkt der juristischen Argumentation gegen den NATO-Krieg gegen Jugoslawien 1999 betrifft das so genannte jus ad bellum (Recht auf Krieg; d. Red.). Das heißt, dass es keine völkerrechtliche Legitimation für den Krieg gab. Dieses kann vor einem Strafgericht aber nicht zur Debatte stehen. Der zweite Punkt ist die Verletzung des jus in bello (Recht im Krieg), die gerichtlich durchaus zu verhandeln wäre. Hier gibt es eine Reihe von sicheren Hinweisen darauf, dass die NATO schwere Völkerrechtsverbrechen begangen hat.

ND: Können Sie das konkretisieren?

Fangen wir bei den so genannten Kollateralschäden an. Immer wieder haben NATO-Militärs und -Politiker gesagt, dass die Schädigung von Zivilisten ein unerwünschter, aber unabdingbarer Nebeneffekt der Bombardierung von Militäranlagen gewesen sei. Allerdings hat sich herausgestellt, dass es eine Reihe von Fällen gab - und zwar nicht zu wenige -, in denen bewusst zivile Ziele, zivile Objekte und Zivilpersonen, bombardiert wurden. Das ist nach dem Völkerrecht eindeutig verboten. Derzeit wird im Fall der Bombardierung der Kleinstadt Varvarin eine Klage vorbereitet. Dort wurde eine Brücke bombardiert, die kein militärisches Ziel darstellte. Im Umkreis von 100 Kilometer um diese Ortschaft im Norden Jugoslawiens gab es keine militärischen Ziele. Dieser Angriff, der sehr viele Opfer unter der Zivilbevölkerung kostete, war eine ganz eindeutige Verletzung des humanitären Völkerrechts. Die Verharmlosung als »Kollateralschaden« ist eine Maskierung von Verbrechen, die vom Haager Tribunal hätte aufgegriffen werden müssen.

ND: Gilt das auch für die Bombardierung der petrochemischen Anlagen in Pancevo? Dort wurden, weit von Kosovo entfernt, eine Raffinerie und eine PVC-Fabrik in Brand geschossen, was eine Umweltkatastrophe auslöste.

Das ist ein zweiter Punkt, der aber nicht so sehr das Problem »Kollateralschaden« betrifft. Alle Installationen, die der Kriegsproduktion dienen, also Munitionsfabriken etc., sind nach dem Völkerrecht »legitime Kriegsziele« - wenn denn der Krieg überhaupt legitim ist, was er aus meiner Sicht nicht war. 1977 wurde es verboten, Fabriken und Industrieanlagen zu bombardieren, deren Zerstörung gravierende Umweltschäden hervorruft. Das Werk in Pancevo diente ganz offensichtlich nicht einmal der Kriegsproduktion. Durch seine Bombardierung sind sehr viele Chemikalien und Abwässer in die Donau geflossen und haben verheerende Umweltschäden angerichtet. Eine solche Bombardierung ist verboten. Die Ratio des humanitären Völkerrechts ist es, bei Kriegen Schäden zu vermeiden, die gegenüber dem Kriegsziel unverhältnismäßig die Zivilbevölkerung in Mitleidenschaft ziehen. Dazu gehören Chemie- oder auch Elektrizitätswerke, wenn sie nicht der Kriegsführung dienen. Aber selbst falls sie der Kriegsführung dienen, dürfen solche Industrieanlagen nicht angegriffen werden, wenn die zu erwartenden Schäden unverhältnismäßig sind. Man stelle sich die Bombardierung von Atomkraftwerken oder Deichen vor! Die Zerstörung der Fabriken von Pancevo durch die NATO verstößt doppelt gegen das Völkerrecht. Erstens dienten sie nicht der Kriegsproduktion, zweitens lösten die Angriffe schwere Umweltschäden aus.

ND: Im Zusammenhang mit dem Afghanistan-Krieg wird derzeit auch wieder über die Verwendung bestimmter Munitionsarten und Waffensysteme diskutiert. Das Abwerfen von Streubomben, die noch in der Luft explodieren und eine große Anzahl kleinerer Sprengkörpen über eine große Fläche verteilen, wird von Kritikern als kriegsrechtswidrig betrachtet. Diese Bomben wurden auch über Kosovo abgeworfen. Wie schätzen Sie deren Verwendung durch die NATO-Luftwaffe ein?

Das ist eine dritte Kategorie von Verboten. Die Staaten sind von der ursprünglichen Intention, in den großen Konventionen einzelne Waffen zu verbieten, zum Verbot von Waffenwirkungen übergegangen. Der Grund dafür ist, dass das Völkerrecht, die Politik und die Diplomatie der rasanten Entwicklung der Waffensysteme nicht folgen konnten und mit dem Verbot ständig neuer Waffen hinterher hinkten. Daher werden Waffen heute nach ihrer Wirkung qualifiziert. Die in Afghanistan und Kosovo eingesetzten Streubomben haben den Effekt von Landminen. Viele der Sprengkörper explodieren nicht sofort, sondern bleiben liegen. Wenn sie von Zivilisten berührt werden, können sie explodieren und schwere Schäden hervorrufen. Derartige Wirkungen machen Streubomben nach den Kriterien des Genfer Kriegsrechts völkerrechtswidrig. Allerdings ist es auf der jüngsten Überprüfungskonferenz für konventionelle Waffen im Dezember 2001 in Genf, die sich auch mit diesen Clusterbomben beschäftigte, nicht gelungen, sie wie die Landminen ausdrücklich zu illegalisieren. Das Thema wurde verschoben.

ND: Mitte Dezember hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Strasbourg eine Klage von sechs Beschäftigten des Belgrader Fernsehsenders RTS zurückgewiesen. Das RTS-Gebäude wurde am 23. April 1999 von einer NATO-Rakete zerstört. Dabei starben 16 Mitarbeiter. Die RTS-Angestellten hatten gegen 17 NATO-Staaten geklagt, die die Europäische Menschenrechtskonvention ratifiziert haben. Die Konvention sei »nicht überall auf der Welt anwendbar«, sagten die Strasbourger Richter. Jugoslawien sei nicht Mitglied des Europarats und zähle nicht zu den Unterzeichnern der Konvention. Wie beurteilen Sie die Bombardierung von RTS völkerrechtlich?

Die NATO und ihre Politiker argumentieren immer, RTS sei ein Sender gewesen, der in der Infrastruktur der Kriegsführung eine Rolle gespielt habe. Das ist falsch. Alle Beweise, die derzeit vorliegen, belegen, dass dieser Sender keine Militärfunktion hatte. Er hatte eine Propagandafunktion und verbreitete wahrscheinlich nicht mehr und nicht weniger Falschmeldungen als die NATO-Propaganda. Es war offensichtlich das Ziel der Bombardierung, die Propagandafunktion und die Sendung von Nachrichten zu unterbinden. Das jedoch ist kein legitimes Mittel der Kriegsführung. RTS hatte das Recht, über den Krieg zu berichten. Es war nicht erlaubt, den Sender zu bombardieren.

ND: Mit Blick auf den Einsatz der Bundeswehr im Jugoslawienkrieg argumentieren verschiedene Juristen, dass dieser gegen die Verfassung verstieß. Wie schätzen Sie diesen Komplex ein?

Nach dem Grundgesetz kann die Bundeswehr nur zur Territorialverteidigung eingesetzt werden. 1954/55 wurde das erweitert auf eine territoriale Verteidigung des NATO-Bündnisgebietes. Später wurde das über Artikel 24 auf den Einsatz im Rahmen der UNO ausgeweitet. Das würde sich allerdings nur auf mandatierte UN-Einsätze nach Artikel 39/42 der UN-Charta beziehen. Ein solcher war der Jugoslawienkrieg aber nicht. Auch eine »kollektive Selbstverteidigung« nach Artikel 51 der UN-Charta kommt nicht in Betracht, weil Jugoslawien nicht angegriffen hatte. Insofern fehlt eine internationale Legitimation, die einen Einsatz der Bundeswehr grundgesetzlich gerechtfertigt hätte. Deshalb hat man so krampfhaft nach der Begründung einer »humanitären Intervention« gefischt. Eine derartige »humanitäre Intervention« kommt im klassischen Völkerrecht heutiger Zeit gar nicht vor. Es handelt sich vielmehr um einen Rückgriff auf Fälle des 19. Jahrhunderts. Sie sind jedoch aus dem Arsenal des Völkerrechts gestrichen worden, weil man sich bewusst war, dass immer, wenn man zur »humanitären Intervention« griff, dies nur eine Maskierung eigener Interessen und Kriegsführung darstellte. Das heißt: Es gab letztendlich keine völkerrechtliche Legitimation für den Jugoslawienkrieg, und ohne eine solche erlaubt das Grundgesetz keinen Einsatz der Bundeswehr. Interessanterweise hat das Bundesverfassungsgericht kürzlich in dem Urteil über die Organklage der PDS zur NATO-Strategie darauf hingewiesen, dass bei einem nächsten Beschluss zu einem Einsatz der Bundeswehr klar sein muss: Es gilt das absolute Gewaltverbot des Artikels 2 Ziffer 4 der UN-Charta mit nur drei Ausnahmen: durch ein Mandat der UN, durch Artikel 51 - also Selbstverteidigung - oder auf Wunsch eines Staates, was auf so genannte Peacekeeping-Einsätze der UNO abzielt. Das kann man durchaus als eine nachträgliche Ohrfeige für den Angriff auf Jugoslawien ansehen, da hier keiner dieser drei Fälle vorlag. Nimmt man dieses Urteil des Bundesverfassungsgerichts genau, so gab es keine Legitimation für den Einsatz im Frühjahr 1999.

ND: Zurück zum Haager Tribunal. Wenn man sich die Reihe der NATO-Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht anschaut, stellt sich die Frage, warum sich das Tribunal weigert, wenigstens Ermittlungen aufzunehmen. Hier kann man eigentlich nur noch politische und nicht juristische Motive vermuten.

Das Tribunal in Den Haag ist in seiner Konstruktion und in seiner Führung zu einem politischen Instrument mutiert. Das Tribunal ist vom UN-Sicherheitsrat als ein Sanktionsmittel auf der Basis des Artikels 42 der UN-Charta geschaffen worden. So wird es benutzt. Der Charakter eines fairen, alle Seiten gleich behandelnden Gerichtes ist ihm dabei völlig abhanden gekommen. Eine offizielle Untersuchung der NATO-Kriegsführung würde zu ihrer Delegitimierung führen müssen. Man ist sich ja durchaus bewusst, dass nicht alles so abgelaufen ist, wie es das humanitäre Völkerrecht verlangt - das man nun als Maßstab angelegt, um den Charakter des Milosevic-Regimes zu bewerten. Den Haag hat eine klare politische Mission. Das Tribunal kann nicht nachträglich ein Gerüst demontieren, an dessen Konstruktion man so mühsam gearbeitet hat.

Interview: Boris Kanzleiter

Aus: Neues Deutschland, 12. Februar 2002



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