"Vornehmste Aufgabe von Politik ist es, Krieg zu verhüten"
Friedensforscher Dieter S. Lutz über die Taktik der UCK vor dem Krieg
Im Januar 2001 veröffentlichte die Schweizerische Wochenzeitung WoZ einen Artikel des Hamburger Friedensforschers Dieter S. Lutz, in dem dieser noch einmal auf die Vorgeschichte des Kosovo-Kriegs eingeht und dabei insbesondere die Taktik der UCK betont, mit gezielten Aktionen die NATO zum militärischen Eingreifen zu bewegen. Der Beitrag ist auch deshalb von großem Interesse, weil sich das UCK-Vorgehen heute in Makedonien scheinbar wiederholt. Wir dokumentieren den Beitrag mit einigen Kürzungen.
Späte Einsicht
Eine strategische Meisterleistung der UCK
Dieter S. Lutz*
Unbemerkt von den Medien hat die Parlamentarische Versammlung der
Nato Ende November einen Bericht verabschiedet, der eine breite
gesellschaftliche Diskussion, wenn nicht sogar einen öffentlichen Aufschrei
verdient hätte. In diesem Bericht mit dem Titel «Die Folgen des
Kosovo-Konfliktes und seine Auswirkungen auf Konfliktprävention und
Krisenmanagement» (wird erstmals das Versagen der westlichen Politiker
im Kosovo-Konflikt auch offiziell eingestanden. Mit Blick auf die UCK wird
unverblümt zugegeben: Die Nato-Staaten waren an «Stabilität in der
Region interessiert». Die UCK aber strebte im Kosovo «eine Verschärfung
der Notlage an, um die Bevölkerung zum Aufstand für die Unabhängigkeit
zu bewegen. So nutzte die UCK das Holbrooke-Milosevic-Abkommen als
Atempause, um ihre Kräfte nach den Rückschlägen des Sommers zu
verstärken und neu zu gruppieren. Die serbischen Repressionen liessen
unter dem Einfluss der KVM (Kosovo Verification Mission der OSZE, Anm.
d. Red.) in der Zeit von Oktober bis Dezember 1998 nach. Dagegen fehlte
es an effektiven Massnahmen zur Eindämmung der UCK, die weiterhin in
den USA und Westeuropa - insbesondere Deutschland und der Schweiz -
Spendengelder sammeln, Rekruten werben und Waffen über die
albanische Grenze schmuggeln konnte. So nahmen die Angriffe der UCK
auf serbische Sicherheitskräfte und Zivilisten ab Dezember 1998 stark zu.
Der Konflikt eskalierte erneut, um eine humanitäre Krise zu erzeugen,
welche die Nato zur Intervention bewegen würde.» Mit anderen Worten:
Entgegen der offiziellen Nato-Darstellungen, insbesondere vor dem Krieg,
war also nicht die serbische Seite, sondern vielmehr die UCK ursächlich
für die Konflikteskalation und die Erzeugung einer humanitären Krise im
Kosovo verantwortlich. Eine späte Einsicht.
Krieg aus einem Gefühl heraus
Und was ist mit all den Menschen, die als sogenannte Kollateralschäden
ihr Leben verloren haben? Nimmt man das späte Geständnis der
Parlamentarischen Versammlung der Nato ernst, wer trägt dann die ganz
persönliche Schuld für den Tod des Nachtwächters in der von der Nato
bombardierten Tabakfabrik, für den Tod der Mutter mit den beiden kleinen
Mädchen im Auto auf der Brücke, des flüchtenden Albaners auf dem
Traktor, des serbischen Deserteurs auf dem Fahrrad und all der anderen
mehr? Wirklich der Dämon in Belgrad, wie uns die westlichen
DemokratInnen glauben machten? Oder doch die demokratisch
legitimierten Abgeordneten, Staatssekretäre, Minister? Und vor allem: Wer
von uns hätte sich je auszumalen gewagt, dass westliche DemokratInnen
dazu beitragen, Menschenleben zu vernichten, ohne die Fakten und Daten
wirklich zu kennen - und dafür noch Applaus bekommen? Denn die
Entscheidung der Nato, Jugoslawien zu bombardieren, basierte gerade
nicht auf zweifelsfreier Gewissheit, sondern auf einem unbestimmten
«Gefühl», wie die Parlamentarierversammlung heute zugibt: «Mit dem bis
heute nicht restlos aufgeklärten angeblichen Massaker von Racak
entstand das Gefühl eines Handlungsbedarfs, das nach dem Scheitern der
Rambouillet-Verhandlungen zu den von der UCK herbeigesehnten
Nato-Luftangriffen führte.»
Aber schlimmer noch: Waren die Daten und Fakten - vor Kriegsbeginn -
wirklich unbekannt? War der Kosovo-Krieg schon allein deshalb
unvermeidbar, weil die Lageberichte der Ämter und Dienste gegenteilige
Schlussfolgerungen von vornherein nicht zuliessen? Klammern wir einmal
die vielen «dirty secrets» wie das erwähnte «Massaker» von Racak oder
das angebliche KZ in der Fussballarena von Pristina einfach aus. Lassen
wir also all die bewussten Manipulationen der Öffentlichkeit zur Erzeugung
von «Gefühlen» beiseite. Was sagen die vertraulichen Lage-Analysen der
Dienste vor Kriegsbeginn? Folgt man einer Lageanalyse des deutschen
Auswärtigen Amtes vom 19. März 1999, so wird klar, dass die politischen
Entscheidungsträger bereits vor dem Krieg Bescheid gewusst haben
(müssen). In der internen Vorlage, die wenige Tage vor Beginn des
Nato-Bombardements am 24. März gefertigt und an den Aussenminister
ebenso wie an das deutsche Verteidigungsministerium weitergereicht
wurde, verdeutlichen die Autoren, dass der Waffenstillstand nicht allein von
serbischer, sondern «von beiden Seiten nicht mehr eingehalten» wird. Als
Ziel der Operationen der jugoslawischen Streitkräfte (VJ) werden ferner
auch nicht Völkermord und Vertreibung angegeben. Angestrebt sei
vielmehr, «durch gezielte Geländebereinigung sämtliche
Rückzugsmöglichkeiten für die UCK zu beseitigen». Die Zivilbevölkerung
werde in der Regel sogar «vor einem drohenden Angriff durch die VJ
gewarnt». Allerdings werde «die Evakuierung der Zivilbevölkerung vereinzelt
durch lokale UCK-Kommandeure unterbunden». Nach Abzug der
serbischen Sicherheitskräfte kehre die Bevölkerung meist in die
Ortschaften zurück. Eine Massenflucht in die Wälder sei nicht zu
beobachten. Und dann heisst es: «Von Flucht, Vertreibung und Zerstörung
im Kosovo sind alle dort lebenden Bevölkerungsgruppen gleichermassen
betroffen. Etwa 90 vormals von Serben bewohnte Dörfer sind inzwischen
verlassen.»
Provokation der Luftangriffe
Erhärtet wurde diese Lageanalyse des Auswärtigen Amtes vom 19. März
1999 durch den vertraulichen Lagebericht der Nachrichtenoffiziere des
Verteidigungsministeriums vom «23. März, 15 Uhr». In diesem Bericht,
erstellt einen halben Tag vor Kriegsbeginn, heisst es ausdrücklich: «Das
Anlaufen einer koordinierten Grossoffensive der serbisch-jugoslawischen
Kräfte gegen die UCK im Kosovo kann bislang nicht bestätigt werden.»
Und dann formulieren die Nachrichtenoffiziere schon damals eine Aussage,
die sich heute auch im Generalbericht der Nato-Parlamentarier findet: «Die
UCK ihrerseits wird wahrscheinlich weiter versuchen, durch die bekannten
Hit-and-Run-Aktionen die serbisch-jugoslawischen Kräfte zu massiven
Reaktionen zu provozieren in der Hoffnung, dass diese in ihren
Ergebnissen hinsichtlich Zerstörungen und Flüchtlinge ein Ausmass
annehmen, das sofortige Luftschläge der Nato heraufbeschwört.»
Wer diese Berichte das erste Mal liest, ist zweifelsohne äusserst erstaunt.
Zum Beispiel über die Information, dass die AlbanerInnen von den
serbischen Streitkräften vorab gewarnt wurden und dann auch wieder in die
Dörfer zurückkehren konnten. Diese Information passt so gar nicht in das
Bild des seinerzeit Gehörten. Man ist ferner überrascht darüber, dass von
Flucht, Vertreibung und Zerstörung im Kosovo alle dort lebenden
Bevölkerungsgruppen gleichermassen betroffen gewesen sein sollen - sind
wir doch stets davon ausgegangen, die Leidtragenden und Opfer seien die
AlbanerInnen, und zwar ausschliesslich. Mit grosser Bestürzung liest man
auch, dass «lokale UCK-Kommandeure die Evakuierung der
Zivilbevölkerung unterbunden» haben. Der nächste Gedanke ist: Warum
wurde der Öffentlichkeit dies alles bislang vorenthalten? Und schliesslich
fällt auf, dass das soeben Gelesene doch wohl eher die Lagebeschreibung
eines Bürgerkrieges oder eines bürgerkriegsähnlichen Geschehens ist -
mit all den einhergehenden Grausamkeiten und Verbrechen - nicht aber
ein Bericht, der es rechtfertigte, von Völkermord, Auschwitz,
Konzentrationslagern, ethnischer Säuberung und systematischer
Vertreibung zu sprechen.
Verpasste Friedenschancen
Unser Bild vom Kosovo-Konflikt ist vor allem durch die jugoslawische
Unterdrückungspolitik seit 1989, die Manipulationen des Westens vor und
während des Nato-Krieges und durch die Verbrechen an den
Kosovo-AlbanerInnen nach dem Beginn der Nato-Luftangriffe im März 1999
geprägt. Durch die Manipulationen der öffentlichen Meinung vor und
während des Nato-Bombardements erscheint uns die Entwicklung als eine
kontinuierliche Abfolge einseitig von der jugoslawischen Seite ausgehender
Gewalt und verbrecherischer Handlungen, die geradezu zwangsläufig zum
Eingreifen der Nato führen mussten, um noch Schlimmeres zu verhindern.
Dieses Bild stimmt nicht in jedem Fall. Immer wieder gab es in den
vergangenen Jahren Zeiten, in denen Friedenschancen bestanden und
nicht genutzt wurden. Dies gilt insbesondere für den Herbst 1998.
Mit diesen Überlegungen sollen, ja dürfen die Verbrechen von Serben an
den Kosovo-AlbanerInnen in der Zeit vor dem
Holbrooke-Milosevic-Abkommen, also bis zum Oktober 1998, und nach
dem Beginn der Nato-Luftangriffe, also nach dem 24. März 1999,
keinesfalls verharmlost oder entschuldigt werden. Wenn und solange aber
die internationale Staatengemeinschaft, internationale Organisationen oder
einzelne Staaten bereit sind, mit vermeintlichen oder tatsächlichen
Rechtsbrechern Verträge und Vereinbarungen zu schliessen - das
Dayton-Abkommen oder das Holbrooke-Milosevic-Abkommen sind
Beispiele dafür - so sind danach alle Vertragspartner gleichermassen
verpflichtet, die Vereinbarungen auch einzuhalten....
Unabsehbare Folgen
Aus der Perspektive der Charta der Vereinten Nationen ist dies ein
Völkerrechtsbruch auf der Basis des vermeintlichen Rechts des Stärkeren
zu Lasten der Stärke des Rechts mit unabsehbaren Folgen für die künftige
Entwicklung der internationalen Ordnung. Aus der Sicht des
Grundgesetzes ist es ein verfassungswidriger Angriffskrieg mit
verheerenden Auswirkungen auf die Glaubwürdigkeit von Politik. Aus der
Sicht der nach Macht und Unabhängigkeit strebenden UCK ist es
allerdings eine strategische Meisterleistung, wenn auch unter Inkaufnahme
zahlloser unschuldiger Opfer. ...
Es
reicht deshalb keinesfalls aus, wenn heute die Nato-Parlamentarier
selbstkritisch bekennen: «Die Staatengemeinschaft darf sich ihr Handeln
nicht von einer extremistischen Minderheit aufzwingen lassen.» Die Lehre
aus dem rechtswidrigen Kosovo-Krieg der Nato muss viel weiter gehen.
Vornehmste Aufgabe von Politik ist es, Krieg zu verhüten, nicht ihn zu
führen. Situationen, die als Alternativen nur die Übel zulassen, Schuld auf
sich zu laden oder Unschuldige durch den Einsatz militärischer Mittel zu
töten, darf es deshalb nicht geben. Treten sie ein, hat die Politik versagt.
Nicht der Krieg ist also der Ernstfall, in dem sich die Politik zu bewähren
hat, sondern der Frieden.
Aus: WoZ, 5. Januar 2001
* Prof. Dr. Dieter S. Lutz ist Leiter des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH)
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