"Krieg nach Gefühl" - Manipulation: Neue Zweifel am Nato-Einsatz im Kosovo
Von Dieter S. Lutz
Im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom Freitag, 15. Dezember 2000, erschien nachfolgender Artikel von Dieter S. Lutz, einem der renommiertesten Friedensforscher der Bundesrepublik. Dieter S. Lutz ist Direktor des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (ISFH).
Unbemerkt von den Medien hat die Parlamentarische Versammlung der Nato ein
von der Nato unabhängiges Gremium, das als Bindeglied zwischen dem Bündnis
und den nationalen Parlamenten fungiert vor wenigen Tagen einen
"Generalbericht" verabschiedet. Eigentlich hätte er einen Aufschrei
provozieren müssen. Denn in diesem Bericht über "Die Folgen des
Kosovo-Konfliktes und seine Auswirkungen auf Konfliktprävention und
Krisenmanagement" wird erstmals das Versagen der westlichen Politiker im
Kosovo-Konflikt offiziell eingestanden. Mit Blick auf die
"Befreiungsorganisation" UCK der Kosovo-Albaner wird unverblümt zugegeben,
die UCK habe im Kosovo eine Verschärfung der Notlage angestrebt, um die
Bevölkerung zum Aufstand für die Unabhängigkeit zu bewegen: "So nutzte die
UCK das Holbrooke-Milosevic-Abkommen als Atempause, um ihre Kräfte nach den
Rückschlägen des Sommers zu verstärken und neu zu gruppieren. Die serbischen
Repressionen ließen unter dem Einfluß der KVM in der Zeit von Oktober bis
Dezember 1998 nach. Dagegen fehlte es an effektiven Maßnahmen zur Eindämmung
der UCK, die weiterhin in den USA und Westeuropa insbesondere Deutschland
und der Schweiz Spenden sammeln, Rekruten werben und Waffen über die
albanische Grenze schmuggeln konnte. So nahmen die Angriffe der UCK auf
serbische Sicherheitskräfte und Zivilisten ab Dezember 1998 stark zu. Der
Konflikt eskalierte neuerlich, um eine humanitäre Krise zu erzeugen, welche
die NATO zur Intervention bewegen würde."
Mit anderen Worten: Nach dem aktuellen Generalbericht der
Parlamentarier-Versammlung der Nato und entgegen offiziellen
Nato-Darstellungen, insbesondere vor dem Krieg, waren also nicht die Serben,
sondern die UCK verantwortlich für die Konflikteskalation und die Erzeugung
der Krise im Kosovo. Eine späte, eine zu späte Einsicht! Kritiker, die sie
bereits vor und während des Kosovo-Krieges artikulierten, wurden als
Verschwörungstheoretiker und Serbenfreunde bezeichnet (F.A.Z. vom 18. Mai
1999) . Der einzige deutsche Soldat, der die Dinge beim Namen zu nennen
wagte, hat dafür gebüßt: Brigadegeneral Heinz Loquai hat nach einer
Intervention des Bundesverteidigungsministeriums seinen Posten bei der OSZE
in Wien verloren, gegen den erklärten Willen der OSZE.
Und was ist mit all den Menschen, die als sogenannte Kollateralschäden ihr
Leben verloren haben? Nimmt man das späte Geständnis der Parlamentarischen
Versammlung der Nato ernst, wer trägt dann die Schuld für den Tod all der
unschuldigen Menschen, die bei den Nato-Angriffen das Leben verloren?
Wirklich der Dämon in Belgrad, wie uns die westlichen Demokraten glauben
machten? Oder doch die demokratisch legitimierten Abgeordneten,
Staatssekretäre, Minister, die einen Luftkrieg beschlossen, ohne daß die
meisten von ihnen gewußt hätten, was "cruise missiles" oder
"Kasetten-Bomben" sind?
Wer hätte sich vor dem Kosovo-Krieg vorstellen können, daß westliche
Demokratien einen Krieg aus Gründen einer "humanitären Katastrophe" führen,
vor den militärischen Aktivitäten aber keineswegs Vorsorge für die Opfer
eben dieser humanitären Katastrophe treffen, sondern, im Gegenteil,
Lebensmittel und Zelte, Vorbereitungen für medizinische Versorgung und
Wasseraufbereitung mit oder ohne Absicht einfach vergessen? Und vor allem:
Wer hätte sich auszumalen gewagt, daß deutsche Demokraten dazu beitragen,
Menschenleben zu vernichten, ohne die Fakten und Daten wirklich zu kennen,
und dafür noch Applaus bekommen von Journalisten, Philosophen, Dichtern,
Juristen, Friedensforschern?
Nach deutschem Verfassungsrecht ist die Entscheidung für Krieg ohne Kenntnis
der Daten und Fakten verfassungswidrig. Artikel 26 Absatz 2 des
Grundgesetzes verlangt vielmehr zweifelsfreie Gewißheit. Die Entscheidung
der Nato, einschließlich Deutschlands, Jugoslawien zu bombardieren, basierte
aber gerade nicht auf zweifelsfreier Gewißheit, sondern auf einem
unbestimmten "Gefühl", wie die Parlamentarierversammlung heute zugibt: "Mit
dem bis heute nicht restlos aufgeklärten angeblichen Massaker von Racak
entstand das Gefühl eines Handlungsbedarfs, das nach dem Scheitern der
Rambouillet-Verhandlungen zu den von der UCK herbeigesehnten
Nato-Luftangriffen führte."
Keine Massenflucht
Allerdings: Waren die Daten und Fakten vor Kriegsbeginn wirklich unbekannt?
War der Kosovo-Krieg schon allein deshalb unvermeidbar, weil die
Lageberichte der Ämter und Dienste gegenteilige Schlußfolgerungen oder
auch gegenteilige Gefühle von vornherein nicht zuließen?
Klammern wir einmal die vielen "dirty secrets" wie das erwähnte "Massaker"
von Racak oder das angebliche Massaker von Rugovo oder das angebliche KZ in
der Fußballarena von Prishtina oder den selbstgezeichneten sogenannten
Hufeisenplan und vieles Vergleichbare einfach aus. Lassen wir also all die
bewußten Manipulationen zur Erzeugung von "Gefühlen" beiseite, die nicht nur
von Nato-Strategen, sondern auch von deutschen Politiker betrieben wurden.
Was besagen die vertraulichen der Öffentlichkeit nicht bekannten
Lageanalysen der Dienste vor Kriegsbeginn? Entsprechen oder widersprechen
sie dem Bild des Kosovo-Konfliktes und seiner Eskalation, das die
Parlamentarierversammlung heute, zwei Jahre später, so unverblümt zeichnet?
Aus einer Lageanalyse des Auswärtigen Amtes vom 19. März 1999 geht hervor,
daß die politischen Entscheidungsträger bereits vor dem Krieg Bescheid
gewußt haben müssen. In der internen Vorlage, die wenige Tage vor Beginn des
Nato-Bombardements vom 24. März angefertigt und an den Außenminister sowie
an das Bundesverteidigungsministerium weitergereicht wurde, heißt es
expressis verbis, daß der Waffenstillstand nicht allein von den Serben,
sondern "von beiden Seiten nicht mehr eingehalten" wird. Als Ziele der
Operationen der jugoslawischen Streitkräfte (VJ) werden ferner auch nicht
Völkermord und Vertreibung angegeben. Ziel sei vielmehr, "durch gezielte
Geländebereinigung sämtliche Rückzugsmöglichkeiten für die UCK zu
beseitigen". Die Zivilbevölkerung werde in der Regel sogar "vor einem
drohenden Angriff durch die VJ gewarnt". Allerdings werde "die Evakuierung
der Zivilbevölkerung vereinzelt durch lokale UCK-Kommandeure unterbunden".
Nach Abzug der serbischen Sicherheitskräfte kehre die Bevölkerung meist in
die Ortschaften zurück. Eine Massenflucht in die Wälder sei nicht zu
beobachten. Und dann heißt es: "Von Flucht, Vertreibung und Zerstörung im
Kosovo sind alle dort lebenden Bevölkerungsgruppen gleichermaßen betroffen.
Etwa 90 vormals von Serben bewohnte Dörfer sind inzwischen verlassen. Von
den einst 14 000 serbisch-stämmigen Kroaten leben nur noch 7000 im Kosovo.
Anders als im Herbst/Frühwinter 1998 droht derzeit keine
Versorgungskatastrophe."
Kein Völkermord
Erhärtet wurde diese Lageanalyse des Auswärtigen Amtes vom 19. März 1999
durch den vertraulichen Lagebericht der Nachrichtenoffiziere des
Verteidigungsministeriums vom "23. März, 15.00 Uhr". In diesem Bericht,
erstellt einen halben Tag vor Kriegsbeginn, heißt es ausdrücklich: "Das
Anlaufen einer koordinierten Großoffensive der serbisch-jugoslawischen
Kräfte gegen die UCK im Kosovo kann bislang nicht bestätigt werden." Zu
einer großangelegten Operation gegen die UCK im gesamten Kosovo seien die
serbisch-jugoslawischen Kräfte nicht fähig. Schon damals formulierten die
Nachrichtenoffiziere eine Aussage, die sich beute auch im Generalbericht der
Nato-Parlamentarier findet: "Die UCK ihrerseits wird wahrscheinlich weiter
versuchen, durch die bekannten Hit-And-Run-Aktionen die
serbisch-jugoslawischen Kräfte zu massiven Reaktionen zu provozieren in der
Hoffnung, daß diese in ihren Ergebnissen hinsichtlich Zerstörungen und
Flüchtlingen ein Ausmaß annehmen, das sofortige Luftschläge der NATO
heraufbeschwört."
Wer diese Berichte erstmals liest, ist höchst erstaunt. Zum Beispiel über
die Information, daß die Albaner von den serbischen Streitkräften vorab
gewarnt wurden und dann auch wieder in ihre Dörfer zurückkehren konnten.
Diese Information paßt so gar nicht in das Bild des seinerzeit Gehörten. Man
ist ferner überrascht darüber, daß von Flucht, Vertreibung und Zerstörung im
Kosovo alle dort lebenden Bevölkerungsgruppen gleichermaßen betroffen
gewesen sein sollen ist die öffentliche Meinung in der Bundesrepublik doch
stets davon ausgegangen, die Leidtragenden und Opfer seien zuallererst die
Albaner. Mit Bestürzung liest man auch, daß lokale UCK-Kommandeure die
Evakuierung der Zivilbevölkerung unterbunden" haben. Man fragt sich: Warum
wurde der Öffentlichkeit dies alles bislang vorenthalten? Und schließlich
fällt auf, daß das soeben Gelesene doch wohl eher die Lagebeschreibung eines
Bürgerkrieges oder eines bürgerkriegsähnlichen Geschehens ist als ein
Bericht, der es rechtfertigte, von Völkermord, Auschwitz,
Konzentrationslagern, ethnischer Säuberung und systematischer Vertreibung zu
sprechen.
Das Bild vom Kosovo-Konflikt ist vor allem durch die jugoslawische
Unterdrückungspolitik seit 1989, durch die Manipulationen des Westen vor und
während des Nato-Krieges sowie durch die Verbrechen an den Kosovo-Albanern
nach dem Beginn der Nato-Luftangriffe im März 1999 geprägt.
Durch die Manipulation der öffentlichen Meinung vor und während des
Nato-Bombardements erscheint die Entwicklung gemeinhin als Abfolge einseitig
von der jugoslawischen Seite ausgehender Gewalt und verbrecherischer
Handlungen, die geradezu zwangsläufig zum Eingreifen der Nato führen mußten,
damit noch Schlimmeres verhindert werde. Ganz so klar lagen die Dinge indes
nicht. In den vergangenen Jahren gab es immer wieder Zeiten, in denen es
Chancen zur Verständigung gegeben hätte. Sie wurden jedoch nicht genutzt.
Das gilt insbesondere für den Herbst 1998.
Diese Überlegungen sollen nicht darauf hinauslaufen, die Verbrechen der
Serben an den Kosovo-Albanern in der Zeit vor dem
Holbrooke-Milosevic-Abkommen vom Oktober 1998 und nach dem Beginn der
Nato-Luftangriffe am 24. März 1999 zu verharmlosen oder zu entschuldigen.
Der Punkt ist vielmehr dieser: Wenn die internationale Staatengemeinschaft,
internationale Organisationen oder einzelne Staaten bereit sind, mit
vermeintlichen oder tatsächlichen Rechtsbrechern Verträge und Vereinbarungen
zu schließen das Dayton-Abkommen oder das Hoolbroke-Milosevic-Abkommen
sind ebenso Beispiele dafür wie die entsprechenden Vereinbarungen mit Saddam
Hussein , so sind danach alle Vertragspartner gleichermaßen verpflichtet,
die Vereinbarungen auch einzuhalten.
Die einseitige Parteinahme zu Lasten eines Vertragspartners oder dessen
Bevölkerung unter Verweis auf das Geschehen in der Zeit davor ist nach
Abschluß der Vereinbarung jedenfalls nicht mehr erlaubt weder politisch
noch rechtlich und schon gar nicht moralisch. Die Nato aber hat sich im
Kosovo-Konflikt sehenden Auges zum Instrument der UCK machen lassen. Aus der
Perspektive der Charta der Vereinten Nationen war es ein Völkerrechtsbruch
mit unabsehbaren Folgen für die künftige Entwicklung der internationalen
Ordnung. Aus der Sicht des Grundgesetzes war es ein verfassungswidriger
Angriffskrieg mit verheerenden Auswirkungen auf die Glaubwürdigkeit von
Politik.
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