Es geschah in unserem Namen
Vor zehn Jahren zog Deutschland erstmals nach 1945 wieder in einen Angriffskrieg
Von Hans Wallow *
Zehn Jahre ist es her, dass der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder sich an seine »lieben
Mitbürgerinnen und Mitbürger« wandte, um sie darüber zu informieren, dass sich Deutschland
erstmalig seit 1945 wieder in einem Angriffskrieg befand.
Mit pathetischer Stimme verlas der Sozialdemokrat an jenem 24. März 1999: »Heute Abend hat die
NATO mit Luftschlägen gegen militärische Ziele in Jugoslawien begonnen... Wir führen keinen Krieg,
aber wir sind aufgerufen, eine friedliche Lösung im Kosovo auch mit militärischen Mitteln
durchzusetzen.« Neun Jahre später erklärte sich Kosovo zu einem unabhängigen Staat. Ein
gelungenes Experiment durch eine gewalttätige Friedenspolitik?
Schon in den ersten Angriffswellen schossen auch deutsche Tornados mit radargelenkten HARMRaketen
die jugoslawische Luftabwehr nieder. Nicht immer trafen die Projektile militärische Ziele, sie
zerstörten auch zivile Einrichtungen und töteten Zivilisten. Die menschenverachtende Logik:
Bomben und Raketen sollten das Leben der Kosovo-Albaner vor den Serben schützen. Doch allein
Pristina, Kosovos Hauptstadt, wurde 280 Mal mit Bomben angegriffen.
Das Fernsehen vermittelte Eindrücke, die der ältere deutsche Wähler aus dem Zweiten Weltkrieg
kannte: detonierende Bomben, durch die Straßen jagende Ambulanzen und verängstigte Menschen
in Schutzräumen. Die Stimmung in der deutschen Öffentlichkeit, die einen Kampfeinsatz befürwortet
hatte, drohte zu kippen. So sah sich Verteidigungsminister Rudolf Scharping genötigt, am 27. März
zu erklären: »Wir wären ja auch niemals zu militärischen Maßnahmen geschritten, wenn es nicht
diese humanitäre Katastrophe im Kosovo gäbe, mit 250 000 Flüchtlingen innerhalb des Kosovo, weit
über 400 000 Flüchtlingen insgesamt und einer zur Zeit nicht zählbaren Zahl von Toten.«
Gab es in dem zweifellos grausam geführten Bürgerkrieg zwischen kosovo-albanischer UCK und
serbischer Sonderpolizei schon vor Beginn der NATO-Bombardierung nicht zählbare Tote?
Beobachter der OSZE in Kosovo, die jeden Zwischenfall untersuchten, registrierten für März jenes
Jahres 39 Bürgerkriegstote – bevor die ersten Bomben fielen.
Drohte tatsächlich eine humanitäre Katastrophe? Der seinerzeit in der OSZE-Mission tätige
deutsche Brigadegeneral Heinz Loquai war entschieden anderer Meinung als sein Minister. In
seinem Buch »Der vermeidbare Krieg« sagt er: »Eine solche humanitäre Katastrophe als
völkerrechtliche Kategorie, die einen Kriegseinsatz rechtfertigte, lag vor Kriegsbeginn nicht vor.«
Doch schon vor der Entscheidung über den militärischen Beitrag Deutschlands im Krieg gegen
Jugoslawien, die im Bundestag am 16. Oktober 1998 fiel, wurde die politische Szene sprachlich
vernebelt. Begünstigt durch den damaligen Regierungswechsel von CDU und FDP zu SPD und
Bündnis '90/Die Grünen, blieben die geheimdiplomatischen Vorgänge im Zwielicht. Über den Besuch
der Vertreter der künftigen Bundesregierung – Gerhard Schröder, Joseph Fischer, Günter
Verheugen und Ludger Volmer – bei US-Präsident Bill Clinton am 9. Oktober 1998 gibt es
unterschiedliche Verlautbarungen. Nach offizieller Lesart erbat sich das deutsche Quartett
Bedenkzeit für die Zustimmung zum NATO-Aktivierungsbefehl bis nach der Vereidigung des neuen
Kabinetts. Am 12. Oktober 1998 aber erhielt Verheugen, damals außenpolitischer Sprecher der SPDFraktion,
aus Washington einen Anruf, wonach man dort eine schnelle Entscheidung innerhalb von
Stunden wünsche. Aber Noch-Verteidigungsminister Volker Rühe (CDU) wusste schon am Vortag in
»Bild am Sonntag« zu berichten: »Gerhard Schröder hat in Washington fest zugesagt, dass wir dem
Aktivierungsbefehl (›Actord‹) zustimmen.« Die »International Herald Tribune«, die am nächsten
Morgen erschien, bestätigte die Version, wonach die deutsche Entscheidung zum NATO-Krieg
definitiv im Gespräch mit Clinton am 9. Oktober gefällt wurde. Ganz wird sich das nie klären lassen,
denn Clinton und Schröder hatten ein 20-minütiges Vieraugengespräch.
Wann die Zusage erteilt wurde, ist aber auch nicht von politischem Gewicht. Denn der Beschluss
zum Tagesordnungspunkt »activation order« im NATO-Rat wurde schon am 12. Oktober 1998 wie
eine Formsache abgehakt.
Vor der Abstimmung im alten, am 27. September abgewählten Bundestag fand die Inszenierung ihre
makabre Fortsetzung. An jenem 16. Oktober erläuterte Günter Verheugen den Abgeordneten, die
ausschließlich die einseitige Mediendarstellung von »Terror, Mord und Vertreibung« durch das
Regime Slobodan Milosevics kannten: »Wir wollen heute etwas entscheiden, wissen aber nicht, ob
diese Entscheidung tatsächlich dazu führt – hoffen, dass sie nicht dazu führt –, dass es zu diesem
Einsatz kommt... Ich möchte deshalb für meine Fraktion sehr deutlich sagen, dass der Beschluss,
den wir heute fassen, kein Vorratsbeschluss ist, der bedeutet, dass man in vier, sechs, acht oder
zwölf Wochen dann gegebenenfalls darauf zurückkommen kann, sondern dass nur für eine sehr
überschaubare Zeit der Bereitschaftsstatus, den die NATO mit unserer gemeinsamen Unterstützung
eingenommen hat, aufrechterhalten werden kann und dass in absehbarer Zeit eine Entscheidung
darüber fallen muss, ob dieser Zustand aufrechterhalten wird oder nicht. Es ist auch wichtig, darauf
hinzuweisen, dass die Entscheidung, die heute getroffen wird, keinen militärischen Automatismus
auslöst.« Eine Finte vor allem gegenüber zögerlichen Abgeordneten.
Obwohl erst ein halbes Jahr später die ersten Raketen und Bomben einschlugen, gab es im neuen
Bundestag keinen zweiten Entscheidungsprozess. Dieser Schachzug vor der Abstimmung
verhinderte jedoch öffentliche Kritik von Kriegsgegnern an der Regierung, die vorgab, sich mit Hilfe
von Drohungen noch um den Frieden zu bemühen. Auch der SPD-Vorsitzende Oskar Lafontaine,
der dem Bundestag erst ab 26. Oktober 1998 angehörte, konnte durch seinen Rücktritt zwei Wochen
vor Kriegsbeginn am 11. März 1999 nur die Notbremse ziehen.
Ein neuer Beschluss wäre auch nicht zu rechtfertigen gewesen, denn die Berichte der deutschen
Botschaft in Belgrad, des Bundesnachrichtendienstes und des Amts für das Nachrichtenwesen der
Bundeswehr bestätigten die »Großoffensive jugoslawischer Sicherheitskräfte« nicht.
Dennoch redete Minister Scharping von »Völkermord«, »schwangeren Frauen mit aufgeschlitztem
Unterleib« und »Konzentrationslagern im Norden von Pristina«. Beweise legte er nicht vor. Das
angebliche Massaker von Racak, das zum Anlass für den Luftkrieg instrumentalisiert wurde, war
nach Untersuchungen der OSZE ohne Anzeichen von Massenhinrichtungen. Jo Angerer, einer der
Autoren der ARD-Dokumentation »Am Anfang stand die Lüge«, schrieb: »Deutsche Politiker haben
sich der Falschinformation und der Lüge bedient, um die Beteiligung der Bundeswehr am NATOBombardement
in Jugoslawien zu legitimieren.«
Von den Zerstörungen und den erst durch die Bombardierung ausgelösten Fluchtbewegungen erfuhr
die Öffentlichkeit aufgrund einer überwiegend regierungsfreundlichen Berichterstattung wenig. Allein
im ersten Kriegsmonat flüchteten 600 000 Menschen, weitaus mehr als in den zwölf Monaten zuvor.
Zum Kriegsende waren es 800 000: Albaner, Serben und Roma. Im Hinterland wurden 60 Brücken,
19 Bahnhöfe, 13 Flughäfen, 480 Schulobjekte, 110 Krankenhäuser und eine Vielzahl von
Industriebetrieben und Infrastruktureinrichtungen in Schutt und Asche gelegt. Durch Splitterbomben
und Raketen wurden 2500 unschuldige Zivilisten getötet, mehr als 10 000 verletzt. Viele der Opfer
leiden noch heute körperlich und seelisch unter den Kriegsfolgen.
Der Krieg gegen Jugoslawien beschädigte aber auch das Vertrauen in den Rechtsstaat der
Bundesrepublik Deutschland. Ihre politische Führung hat seither einen dreifachen Rechtsbruch zu
verantworten: den Bruch des Völkerrechts, des internationalen Vertragsrechts und des
Verfassungsrechts selbst. Aber auch andere gesellschaftliche Kontrollinstanzen wie Parlament,
Justiz, Medien und Intellektuelle haben in ihrer Mehrheit versagt. Nur einzelne Bürger, darunter
Rechtsanwälte, zeigten den Verteidigungsminister aufgrund von Artikel 26 des Grundgesetzes
(Verbot eines Angriffskriegs) nach der Strafvorschrift § 80 an. Selbst nach der Ausstrahlung der
beweiskräftigen WDR-Sendung »Am Anfang stand die Lüge« teilte die Berliner
Generalstaatsanwaltschaft dem Hamburger Rechtsanwalt Armin Fiand jedoch im Juni 2001 mit:
»Anhaltspunkte, dass der Beschuldigte bewusst falsche Tatsachen über Menschenrechtsverletzung
vortrug bzw.. vortragen ließ, um den Einsatz deutscher Flugzeuge bei Kampfeinsätzen rechtfertigen
zu können, sind auch nach der Sendung der ARD, ›Der Kosovokrieg, es begann mit einer Lüge‹ (...),
nicht zu erkennen.«
Eine der Haupterfahrungen aus dem Krieg gegen Jugoslawien ist: Politiker dürfen nie den
Interessen des militärisch-industriellen Komplexes folgen. Hier gilt die zynische Logik des
Doppelverdienens: erst das Geschäft des Kaputtmachens, dann das des Wiederaufbaus. Sie dürfen
außerdem den Generälen eines Militärbündnisses nie die Regie überlassen. Denn die haben auf
ihren Akademien nur das Zerstören gelernt, nicht das Deeskalieren. Ihr Auftrag ist es, den Feind zu
besiegen.
Helfen wir der US-Regierung unter Barack Obama, aus den militärischen Niederlagen zu lernen,
indem wir ihn zu der Einsicht bewegen, dass in Vietnam, Somalia und Irak außer grenzenlosem
Leid, Zerstörung und Hass nichts erreicht wurde. Das bedeutet für eine deutsche Regierung
Tapferkeit vor dem Freund. Aus dieser Erkenntnis, die auch für Afghanistan gilt, öffnet sich dann
auch der klassische Weg internationaler Krisenbeilegung: Einstellung der Kämpfe als
Grundvoraussetzung für Friedensverhandlungen unter Einschluss aller Parteien. Es gibt immer eine
Alternative. Und die heißt Deeskalation.
* Hans Wallow, bis 1998 SPD-Bundestagsabgeordneter, verließ die Partei 2001, nachdem er einen
Angriff von NATO-Flugzeugen auf Vavarin (Serbien) recherchiert hatte.
Aus: Neues Deutschland, 21. März 2009
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